Der irakische Premier Haider al-Abadi ist bereits seit Tagen in Mossul, irgendwo an einem sicheren Ort, heißt es. Er will den Sieg über die letzten Widerstandsnester des Islamischen Staates (IS/Daesh) und damit die völlige Rückeroberung der Stadt verkünden. Doch Anfang Juli 2017 ist es noch nicht so weit, in der Altstadt bleibt der Vormarsch den alles entscheidenden Durchbruch schuldig.
Am Abend eines der letzten Kampftage sitzt eine Gruppe junger Offiziere in einem beschlagnahmten Haus beim Essen. In Rufweite liegt die zerstörte Moschee, in der fast genau drei Jahre zuvor Abu Bakr al-Baghdadi als Emir des IS das neue Kalifat ausgerufen hat. Kurz zuvor war Mossul im Namen des Dschihad erobert worden, und der IS schien vor dem Marsch auf Bagdad zu stehen, zumindest aber im sunnitischen Kernland eine neue, barbarische Autorität zu sein.
Am Kopf der Tafel sitzt der Kommandeur, neben sich zwei Majore. Da die militärische Rangordnung eingehalten wird, bevölkern die jüngeren Offiziere das andere Ende des Tisches. Eigentlich möchte der füllige Kommandeur abnehmen, doch heute ist ein besonderer Tag; er hat dem Koch die Erlaubnis erteilt, Fleisch zu servieren. In den vergangenen Stunden hat die Einheit ohne eigene Verluste einen weiteren Straßenzug in der Altstadt eingenommen. Um dies zu feiern, gibt es in Okra eingelegtes Brot und gebratenes Fleisch, das geschnetzelt über Berge von mit Nüssen und Rosinen aromatisiertem Reis verteilt ist. Vor acht Monaten begann der Sturm auf Mossul, der nie ein Ansturm war und ohne die Luftunterstützung der Amerikaner noch schwerfälliger ausgefallen wäre. Seither ist das Kalifat auf ein überschaubares Areal zwischen Tigris und anrückenden Armeekolonnen geschrumpft. Tausende IS-Kämpfer sitzen in der Falle, ohne fließendes Wasser, mit schwindenden Vorräten an Munition, Lebensmitteln und Medikamenten, Tag und Nacht bombardiert von Drohnen und Jets der US-Armee, umgeben von Zivilisten, die nicht fliehen können oder wollen. Wer aus dieser Hölle ausbricht, ist durch den permanenten Beschuss halb wahnsinnig vor Angst und Schrecken.
Ein Gefangener als Geschenk
Die Offiziere, die an diesem Abend zum Essen zusammenkommen, kämpfen oft schon Jahre gegen den IS, haben aber noch nie erlebt, was ihnen bei dieser Schlacht mit den erbitterten Straßen- und Häuserkämpfen widerfährt. Manchmal lässt sich der Raumgewinn in den Gassen der Altstadt, in wuchtigen Steinhäusern, verschlammten Abwasserkanälen und Kellern nur in Metern messen. „Wir haben noch zwei, drei Gefechte vor uns – dann wird Mossul völlig befreit sein, inschallah“, tönt der Kommandeur, bevor er sich über seinen Teller beugt. Ein Hauptmann, sichtlich gezeichnet von einer Verletzung, bemerkt während des Essens: „Unsere Väter nannten einst den Krieg zwischen Iran und Irak den Langen Krieg. Er begann 1980 und dauerte acht Jahre – der Krieg gegen Daesh wird das übertreffen.“
Als das Abendmahl beendet ist, sollen sich die Offiziere die Militärkarten auf ihren Smartphones ansehen. „Morgen nehmen wir die nächste Straße bis zu diesem Verwaltungshochhaus, damit unsere Scharfschützen die ganze Gegend im Griff haben und der Vorstoß zum Fluss erleichtert wird“, hören sie. „Eure Flanken werden von anderen Kräften gesichert. Habt ihr das Gebäude eingenommen, ist das Schlimmste überstanden.“

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Bevor sie auseinandergehen, fragt ein drahtiger junger Offizier namens Taha* den Kommandeur: „Was machen wir mit den zwei Gefangenen?“ Die beiden hatten die Frontlinie überquert und sich zusammen mit einem Zivilisten versteckt, der sie dann aber als mutmaßliche IS-Kader an die Armee verriet. „Wir haben versucht, sie dem Geheimdienst zu übergeben, aber der will sie nicht. Dort wurde mir gesagt: ‚Kümmern Sie sich um die Gefangenen. Wir können sie wegen der Inspektionen des Roten Kreuzes nicht behalten.‘ Daraufhin haben wir sie die ganze Nacht bearbeitet. Einer gab schließlich zu, beim Daesh gewesen, aber schon vor zwei Monaten abgehauen zu sein.“ Alle Anwesenden lachen. „Der andere“, fährt Taha fort, „hat nicht gestanden, obwohl wir ihn lange und hart geschlagen haben. Ich halte ihn daher für unschuldig.“
*Name wurde geändert
„Leg sie einfach um“, sagt ein Major. „Lass den einen frei und leg den anderen um“, befiehlt der Kommandeur. Nachdem so entschieden ist, stellt sich die Frage, wem die Ehre zuteil wird, einen IS-Kämpfer zu töten. Kifah, ein großer, schlanker Soldat, der bei Tisch bedient hat, bietet sich an. Doch Taha meint, der IS-Mann müsse einem Hauptmann überlassen werden, dessen Bruder vor gut einem Monat vom Daesh getötet wurde. „Dann übergebt ihm den Mann“, sagt der Kommandeur, bevor er sich in einen Raum begibt, wo der Tee serviert werden soll.
Die Gefangenen hocken im Nachbarhaus in einem leeren Raum, an dem ständig Soldaten in T-Shirts und Shorts vorbeilaufen, ohne groß auf die beiden zu achten – bis Taha kommt und den Jüngeren der Männer, der auf den Befehl des Kommandeurs freigelassen werden soll, bei den Haaren packt. Offenbar wurde er so heftig geschlagen, dass von seinem rechten Auge nur noch ein rosafarbener Klumpen Fleisch zu sehen ist, das Gesicht und die Lippen blau angeschwollen sind. „Hey, du hast ja dein Auge verloren, wem hast du das zu verdanken?“, lacht Taha. Ein sehr dünner, fast zierlich wirkender Soldat tritt aus dem Kreis hervor, der sich um die Gefangenen gebildet hat. „Warum? Warum hast du diesem armen Mann das angetan?“, höhnt Taha, woraufhin die Soldaten feixen und johlen. Der junge Gefangene starrt sie mit seinem verbliebenen Auge verständnislos an. „Du“, sagt schließlich ein Unteroffizier zu dem zum Tode Verurteilten, „kommst mit mir.“ Als sie die Straße erreichen, wird er in den Kofferraum eines Humvee verfrachtet, um ihn dem trauernden Offizier als eine Art Geschenk zukommen zu lassen.
Den zweiten halb erblindeten, schwer misshandelten Gefangenen stoßen die Soldaten auf die dunkle Straße. Er solle schnell davonlaufen. Wenn er sich auch nur einmal umblicke, würden sie ihn erschießen. Der Mann humpelt in die Dunkelheit und schleppt seinen zerschundenen Körper davon. Bald wird ihn wohl eine andere Einheit aufgreifen, einsperren und foltern.
Am nächsten Morgen fahren Taha und zwei Offiziere in die Altstadt, um diesen Teil der Front zu inspizieren. Es geht durch Straßen, auf denen die Reste zersprengter Trucks und Jeeps liegen, vorbei an halb eingestürzten Häusern und Bombenkratern. Als sie das Ende einer Gasse erreichen, hören sie Schreie und sehen, wie ein Soldat eine junge Frau am Handgelenk aus einer Ruine zerrt. Ihre Bluse ist aufgerissen, ihr Kopftuch auf die Schulter herabgerutscht, strähniges graumeliertes Haar hängt im Gesicht. Sie versucht, sich zu wehren, während sie barfuß über Steine stolpert und um Hilfe fleht, doch der Soldat lässt sich nicht erweichen. Zwei seiner Kameraden, die hinter ihm herlaufen, berichten den Offizieren lachend, sie wüssten, dass die Frau vom Daesh sei. Sie hätten „fünf Bündel Geld, 50.000 Dollar“ bei ihr gefunden.
Das Minarett liegt im Schutt
Mossul war eine reiche Stadt, verfügte jedoch über kein sicheres Bankensystem, weshalb Familien ihre Ersparnisse oft im Haus oder in der Wohnung aufbewahrten. Warum nicht auch diese Frau? Nur haben nach drei Jahren IS-Herrschaft viele Bewohner in der Regel alles ausgegeben oder verkauft, um sich ernähren oder die Stadt verlassen zu können. Wer geblieben ist, steht unter Verdacht, mit dem IS zu sympathisieren. Die Offiziere verlieren ein paar launige Worte für den Glücklichen, der über dieses Geld gestolpert sei – „und dann auch noch eine Frau bekommt“ –, und setzen ihren Weg fort. Sie halten bei der Großen Moschee von al-Nuri, in der IS-Führer Bakr al-Baghdadi im Sommer 2014 zu seinen Anhängern gesprochen hatte. Das mittelalterliche Al-Hadba-Minarett mit seinem eleganten Design und der gebogenen Form liegt auf Haufen von 800 Jahre alten Ziegeln verstreut. Daesh-Kämpfer, die sich zurückziehen mussten, hatten es gesprengt.
Aus den Ruinen kriechen Flüchtlinge. Nach Monaten der Belagerung sind sie benommen, verängstigt und selbst für Mossuler Verhältnisse in einem erbärmlichen Zustand. Ein Soldat, der eine alte Frau trägt, hält mitten auf der Straße an, um sich auszuruhen. Sie klammert sich noch fester an ihn, weil sie augenscheinlich fürchtet, er könnte sie inmitten dieses Wahnsinns zurücklassen. Taha hilft dem Soldaten, zusammen befördern sie die hilflose Person zu einem Zelt des Roten Kreuzes. Eine junge Irakerin, die Tochter wohl, folgt ihnen, in der einen Hand einen großen Koran, mit der anderen hält sie die Hand eines Mannes fest, der auf einer Bahre liegt, die von zwei Soldaten getragen wird. Das rechte Bein ist bandagiert, am entblößten Bauch sind Narben zu sehen. Nachdem er vor dem Sanitätszelt abgesetzt wird, interessieren sich plötzlich andere Soldaten für den Verletzten und fangen an, ihn auszufragen. „Er hat versucht, am Fluss Wasser zu holen, als er von einem Scharfschützen getroffen wurde“, schreit die junge Frau, von der sich nun herausstellt, dass es sich um die Schwester handelt. „Das ist die Verletzung eines Kämpfers“, schreit ein Soldat zurück. „Bringt ihn zu seinen Brüdern.“ Zwei Soldaten reißen den Verletzten von der Trage und zerren ihn in ein leeres Geschäft, wo er umgehend erschossen wird. Die junge Frau bettelt, fleht und schreit, aber die Soldaten nehmen keine Notiz davon. „Ihr seid Daesh! Ihr in der Altstadt seid alle Daesh!“
Einer der Umstände, die dem IS im Sommer 2014 geholfen hatten, Mossul zu übernehmen, war das Verhalten der in der Stadt stationierten irakischen Streitkräfte, die sich wie sektiererische Besatzungstruppen aufführten und die Bevölkerung drangsalierten. Mit der Willkür und den Schikanen war es über Nacht vorbei, als die Dschihadisten im Anmarsch waren. Plötzlich halfen Soldaten und Offiziere mit ihren Fahrzeugen bei der Evakuierung von Vierteln, die zu Kampfzonen wurden, stellten Wasser und Medikamente bereit. Doch galt die Altstadt mit ihrer vorwiegend sunnitischen Bevölkerung schon damals als Domäne des IS. Prompt wird nach der Rückeroberung jeder in diesem Bezirk der Kollaboration verdächtigt. Männer im kampffähigen Alter müssen in Internierungslager, in denen ihre Identität überprüft wird – Denunziationen sind an der Tagesordnung.
Vier Tage später sitzen Taha und ein Hauptmann namens Wissam auf Stapeln aus roter, blauer und rosafarbener Unterwäsche in einem ausgebrannten Lagerraum und denken über ihr Schicksal nach. Sie wissen, dass ihr Kommandeur von den Generälen in Bagdad unter Druck gesetzt wird, denen wiederum der Premierminister im Nacken sitzt, der endlich den Sieg verkünden will. Von Haider al-Abadi wiederum erwarten die Amerikaner, dass er die Schlacht bald zu einem erfolgreichen Abschluss bringt, und drohen andernfalls damit, die Unterstützung aus der Luft zu kappen. Dies alles lastet auf Männern wie Taha und Wissam, während sie in einem Raum voll mit Büstenhaltern und verbrannten Shampoo-Flaschen sitzen. Seit sie die Altstadt einzunehmen versuchen, werden sie pro Tag im Schnitt von vier Selbstmordattentätern angegriffen. Einer kam sogar auf Krücken daher. Nachts schlafen sie in abgebrannten Häusern neben den verrottenden Leichnamen von Kämpfern und Zivilisten, manchmal nur durch eine Wand von den Dschihadisten getrennt. Fliegenschwärme wechseln über die Front hin und her, um über die verstreuten Leichen herzufallen. „Ich will jetzt nur meine Tochter sehen“, sagt Taha, „und frage mich manchmal, ob ich sie jemals wiedersehen werde.“ Hauptmann Wissam lacht. „In ein paar Stunden wirst du darüber ganz anders denken. Oder in ein paar Tagen, wenn Mossul uns gehört.“
Ein letzter Scharfschütze
Am 9. Juli ist es so weit, die Niederlage des IS in der Millionenstadt, seiner wichtigsten Bastion im Irak, kann verkündet werden. Der Premierminister hält im Kampfanzug – flankiert von Generälen mit rundlichen Gesichtern und in frischen Uniformen – die lange erwartete Siegesrede. „Mossul ist befreit“, erklärt er von einem Podest in einer an der Peripherie gelegenen Militärbasis. Eine Festwoche ist ausgerufen, im ganzen Land werden die Fahnen gehisst. Am Nachmittag fahren der Kommandeur von Tahas Einheit und andere Militärführer in einem langen Konvoi aus gepanzerten Humvees zum Ufer des Tigris, um Ruinen zu inspizieren, in denen ihre Männer gekämpft haben. Fast jeder hält vor den begleitenden Fernsehkameras seine eigene Siegesrede. Nicht weit von diesem Spektakel entfernt feuert ein einsamer Scharfschütze des IS, der sich in einem eingestürzten Gebäude verschanzt hat, mit letzter Verzweiflung auf die Fahrzeugkolonne. Plötzlich erscheint ein US-Kampfjet am Himmel, taucht ab und feuert eine Rakete ab. Nach der Explosion steigt eine Rauchwolke auf und wird immer dunkler. Von der Stellung des Schützen bleibt nur ein Krater.
Am Abend, wieder beim Essen mit Tahas Kommandeur, beglückwünschen sich die Offiziere gegenseitig, erzählen von Augenblicken der Schlacht und vergrößern den eigenen Anteil mit jedem Mal. Den meisten Soldaten ist es erlaubt, in ihre Basen zurückzukehren, um sich nach Tagen, die sie buchstäblich neben verwesenden Leichen zubringen mussten, sammeln und ausruhen zu können. Kleine Gruppen von IS-Kämpfern können sich noch eine Woche halten, dann verebben die Kämpfe endgültig, bis schließlich der Tag gekommen ist, an dem in Mossul erstmals seit Monaten kein Maschinengewehr und keine donnernden Jets mehr zu hören sind.
Ab sofort beginnt die Tötungsorgie. Nacht für Nacht werden diejenigen, die als Mitglieder des Daesh identifiziert wurden, in Ruinen und improvisierten Zellen gefoltert und exekutiert. Triumphierende Soldaten filmen sich dabei, wie sie Gefangene schlagen und erschießen. Einheimische, die sich an Menschen rächen wollen, die sie für das Leid der letzten drei Jahre verantwortlich machen, denunzieren nicht nur IS-Mitglieder und deren Familien, die versucht haben, sich unter fliehende Zivilisten zu mischen, sondern auch junge Männer, die nicht aus Mossul kommen, Spuren von Verletzungen aufweisen oder einfach nur verdächtig erscheinen.

Foto: Zuma Press/Imago
Auch Tahas Einheit ist in die Pogrome verstrickt. Drei Tage nach der Siegesrede des Premiers ruht sich der Kommandeur gerade auf dem Sofa einer requirierten Wohnung aus, als ihn Zivilisten sprechen wollen. Sie stoßen einen Mann vor sich her und zwingen ihn, auf die Knie zu gehen. Die Hände sind vor dem Bauch gefesselt, das farblose Hemd ist zerrissen. Seine Bewacher schreien, mit ihrem Gefangenen hätten sie einen der Henker des IS aufgegriffen. „Erinnerst du dich daran, wie du auf dieser Verkehrsinsel standst und drei Männer getötet hast?“, fragt ihn einer. Der Mann blickt verwirrt umher und murmelt, es sei sein Bruder, der sich dem IS angeschlossen habe – nicht er.
Der Kommandant lässt sich den Ausweis des Mannes geben und händigt ihn einem Soldaten aus, damit er verbrannt wird und aus den offiziellen Akten verschwindet. Kifah, der schlanke Soldat, zerrt den Mann voller Freude nach draußen, andere Militärs folgen ihm, Einheimische jubeln. Kifah versetzt dem Mann einen Stoß, während seine Kameraden ihn treten und schlagen, verhöhnen, ihn hochziehen, erneut auf ihn eintreten und lachen, als er fällt. „Sing uns eins von deinen Kalifat-Liedern“, fordert Hauptmann Wissam den Gefangenen auf und lacht hysterisch. Plötzlich wird ihm befohlen, davonzurennen. Es wird gerufen, er könne gehen, wohin er wolle. Der Todgeweihte läuft los und stolpert, als er versucht, seine rutschenden Hosen mit den gefesselten Händen wieder hochzuziehen. Die Soldaten jagen und schlagen ihn erneut. Einer tritt ihm mit der Emphase eines professionellen Kickboxers voll ins Gesicht. Schließlich wird der Mann in eine dunkle Nebenstraße geführt und muss wieder niederknien, vor sich einen Schutthaufen und die starken Scheinwerfer eines Lkw. Kifah steht hinter ihm und streckt den Arm aus. In der Hand hält er eine Pistole amerikanischen Fabrikats. Ein anderer Soldat filmt mit seinem Smartphone. „Damit rächen wir alle Märtyrer, die vom Daesh getötet wurden“, sagt Kifah. Ein Schuss hallt durch die ausgestorbene Straße. Aus dem Kopf des Mannes spritzt Blut, und er fällt zur Seite. Kifah dreht ihn mit den Füßen auf den Rücken, sieht ihn an und geht weg. „Vielleicht sollten wir nachsehen, ob er wirklich tot ist“, sagt der Soldat, der alles gefilmt hat. „Wenn er diese Kugel überlebt hat, verdient er zu leben“, erwidert Kifah.
Massaker am Fluss
Zurück in ihrer Stellung sehen sich die Soldaten das Video mehrmals an, während sie zwischen Maschinenpistolen, Rucksäcken und Stiefeln auf Matratzen liegen. „Ich habe das für einen Onkel getan, der hierherkommen wollte, nur um einen vom Daesh zu exekutieren“, murmelt Kifah.
Wer die Soldaten befragt, weshalb sie töten, erhält folgende Antworten: Man habe kein Vertrauen in das Justizsystem. Dort würden sich Häftlinge freikaufen können, wie sie das schon immer konnten. Man räche sich für die Gräuel des IS. Man nutze das Chaos nach der Schlacht, um Mossul vom Daesh zu säubern. Schon bald werde die Stadt in Militärsektoren aufgeteilt, und dann könne man nicht mehr überall herumfahren, erklärt Kifah. „Jetzt herrscht Chaos. Und im Chaos können wir gut arbeiten.“
Kifah – groß, mit feinen Gesichtszügen und langen Augenbrauen – ist erst Ende 20, will aber bereits zehn Jahre in der Armee sein. Er war in Mossul stationiert, als die Stadt im Juni 2014 an den IS fiel. Er hat miterlebt, wie zehntausende Soldaten flohen und gedemütigt wurden. Kifah verließ die Stadt auf einem der wenigen Humvees, die sich auf Befehl hin zurückzogen. Damals standen Einheimische am Straßenrand, die dem Konvoi Steine hinterherwarfen. Manches Fahrzeug geriet in einen Hinterhalt, was einem Todesurteil gleichkam.
Schließlich erreichte Kifahs Einheit den Luftwaffenstützpunkt Camp Speicher, 170 Kilometer nördlich von Bagdad. „Am nächsten Morgen“, erinnert er sich, „kam ein General und gab den Befehl, einen Angriff vorzubereiten und die benachbarten Dörfer vom IS zu säubern, doch wir ignorierten das. Es war bekannt, dass die Gegend vom IS beherrscht wurde. Daraufhin befahl der General einer anderen Einheit, die Tore zu schließen. Es kam zu einer Schießerei, und alle wussten, jetzt ist die Moral der Armee endgültig zusammengebrochen. Verwandte riefen die Soldaten auf deren Handys an und drängten sie, zu desertieren. Und viele taten das.“
Kifah konnte den Stützpunkt in einem Tross verlassen, der nur aus drei Fahrzeugen bestand. Zu Hause eingetroffen, desertierte er wie so viele, saß in der Wohnung seiner Eltern und schaute sich Propaganda-Videos des IS an. Auf denen war zu sehen, wie tausende junger Kadetten, die in Camp Speicher geblieben waren, weil man ihnen einen sicheren Abzug versprochen hatte, wie Vieh auf Trucks getrieben wurden. Man sah und hörte, wie sie die schiitische Regierung in Bagdad und die geistliche Führung der Schiiten verleumdeten und um ihr Leben flehten. Man brachte sie an das Ufer eines Flusses und befahl ihnen, niederzuknien oder sich auf den Bauch zu legen. Ein Mann mit maskiertem Gesicht ging mit einer Kalaschnikow die Reihen entlang und feuerte jedem eine einzige Kugel in den Hinterkopf. Offiziellen Angaben zufolge wurden auf diese Weise etwa 1.700 Soldaten exekutiert. Kifah ist der Ansicht, es waren weitaus mehr. Heute gelten die Toten als Märtyrer, was Kifah für übertrieben hält. „Die hätten sich niemals ergeben, sondern kämpfen sollen. Immerhin konnten sie sich in Camp Speicher verschanzen und hatten einen Stützpunkt, der randvoll mit Waffen war.“

Foto: Yusuke Suzuki/Kyodo News/Getty Images
Das Massaker war der Katalysator für die Raserei, die danach folgte und sich auch nach dem Sieg der Armee in Mossul entlud. Unter den überwiegend schiitischen Soldaten griff eine Nie-wieder-Stimmung um sich. Von nun an durfte das Barometer der Brutalität nicht mehr fallen und hatte mit den konfessionellen Konflikten von einst nur noch wenig zu tun. Da hatte Kifah den sunnitischen Nachbarn noch vor den Drohungen schiitischer Milizen beschützt und der sich revanchiert, indem er Kifahs Familie unbeschadet durch einen Checkpoint der Dschihadisten schleuste. Da wurden Ärzte oder Journalisten wie neutrale Beobachter behandelt. Nicht so im Krieg gegen den IS, in dem schon jeder Hauch von Gnade als Schwäche galt.
Nachdem er desertiert war, bekam Kifah von seinem Vater, einem Universitätsdozent, bald zu hören: „Wir sind nun zwei Männer in diesem Haus, einer von uns muss kämpfen.“ Und Kifah schloss sich wieder seiner Einheit an, um den langen Marsch auf Mossul anzutreten.
„Das wird jetzt stinken“
In Mossul geben die Soldaten ihren Gefangenen nach dem Sieg Wasser, Tee und manchmal auch etwas zu essen, damit die sich erholen und weiter gefoltert werden können. Eines Tages gehört dazu Omar, den zwei Frauen angezeigt haben, als er auf dem Markt versuchte, Lebensmittel zu kaufen. Die Soldaten verhören ihn in ihrem Quartier und fragen nach seinem Ausweis. „Ich habe meine Identitätskarte verloren“, beteuert Omar. „Der IS hat meine Familie getötet.“ Ihm wird sein Smartphone abgenommen, um den Facebook-Account zu öffnen. Dort finden sich Mitteilungen von Sympathisanten des Dschihad. Daraufhin wird Omar von den Soldaten gezwungen, sich auf den Boden zu legen und die Beine anzuheben. Mit aus Stromkabeln und Metalldrähten bestehenden Peitschen wird auf seine Füße gedroschen. Als er die Beine fallen lässt, tritt ihm einer der Soldaten mit dem Stiefel auf den Kopf, bis er die Beine wieder anhebt. Zwischen Schmerzensschreien beharrt er darauf, nichts mit dem IS zu tun zu haben. Inzwischen blutet Omar am Kopf. „Verdammt, das wird jetzt schrecklich stinken“, flucht ein Soldat. „Wer macht das wieder sauber?“
Die Folterer pausieren eine halbe Stunde, bis sie wieder zuschlagen und sich auch Offiziere an der Folter beteiligen. Nach jeder Runde muss Omar aufstehen und auf der Stelle hüpfen, damit seine Füße nicht taub werden und er den Schmerz weiter spürt. Sein Körper hat sich dunkelrot verfärbt. Als der Schmerz offenbar nicht länger zu ertragen ist, verrät Omar das Versteck eines jungen Mannes, der mit ihm aus Mossul fliehen wollte. Der heißt Ammar und schläft zwischen den Gräbern eines Friedhofes, als die Soldaten ihn aufstöbern und das Gewehr auf ihn richten. Er springt auf wie eine verängstigte Maus. Und bevor sie nur einmal zuschlagen, gesteht er, beim Daesh gewesen zu sein, und denunziert auch Omar – der war ebenfalls dabei.
Im Sommer 2014, als der IS in Mossul einrückte, war Ammar gerade 14 Jahre alt und bereitete sich auf seine Abschlussprüfungen in der Schule vor. Sein Bruder, der mit dem IS sympathisierte, erzählte ihm, die Jahre der Unterdrückung durch die schiitische Regierung in Bagdad seien nun vorbei. Ammar folgte dessen Vorbild und trat in ein Ausbildungslager des IS ein. Bald schon stieg er zu einem privilegierten Mitläufer des neuen Regimes auf, erhielt ein Gehalt und Vergünstigungen. Und er lernte, an den ewigen Sieg des Kalifats zu glauben.

Foto: Martyn Aim/Corbis/Getty Images
Im Sommer 2016, als die irakische Armee ihren Marsch auf Mossul begann und unterwegs immer mehr Dörfer befreite, wurde der Bruder getötet. Ammar zog mit seinen Schwestern und seiner Mutter in Mossul von einem Viertel zum nächsten, bis sie schließlich in der belagerten Altstadt landeten. Als dort der Widerstand der IS-Verbände immer schwächer wurde, gelang es Ammar, mit einer Gruppe verzweifelter Zivilisten die Front zu überqueren; er blieb aber in der vom Krieg geschundenen Stadt und traf in dieser Lage auf Omar.
Dass Ammar sich gegenüber den Soldaten sofort geständig zeigt, bewahrt ihn vor sofortiger Folter und beschleunigt den Tod. Die beiden Männer begegnen sich noch einmal, als Ammar in die Folterkammer gebracht und Omar auf die Straße geschleift wird, um ihn zu erschießen.
Die Praxis der Folter im Irak zeigt eine bemerkenswerte Kontinuität. Sie reicht von Saddam Husseins Geheimdienst über die Amerikaner und ihre Misshandlung von Häftlingen in Abu Ghraib bis zu den irakischen Regierungstruppen im Sommer 2017. In Mossul freilich dient die Folter nicht dazu, Opfern Aussagen zu entreißen, sondern Rache zu nehmen und Schmerzen zuzufügen. „Ich will kein Geständnis hören“, sagt ein Offizier. „Was soll ich damit anfangen? Ich will, dass er leidet und stirbt.“ Für die Glücklichen kommt der Tod schnell. Für die meisten wie Ammar ist er ein Luxus, auf den sie warten müssen. Die Sieger wollen hören, wie IS-Soldaten vor Schmerz schreien wie Tiere, um das Gefühl zu haben, den Verlust ihrer Familien zu rächen. Vielleicht besteht der Sieg des Daesh darin, dass er diese Iraker dazu gebracht hat, seinen eigenen Methoden zu verfallen.
Sie filmen und sie töten ihn
Um Mitternacht haben sie keine Lust mehr, Ammar weiter zu quälen. Sein Gesicht ist so angeschwollen, dass man es hinter schwarzen Blasen nicht mehr erkennen kann. Sie bringen ihn dahin, wo seit ein paar Stunden die Leiche seines Freundes liegt. Der Tod hat in Mossul nichts Erhabenes: Hunde haben bereits Teile von Omars Bein angefressen. Ammar wird befohlen, neben dem Toten niederzuknien. Ein Soldat verrückt ihn, um ihn besser filmen zu können. Er ist bereits tot, bevor die Kugeln in seinen Schädel eindringen.
Es ist lange her, dass Ammars Henker zu kämpfen begonnen haben. Vor dem IS fochten sie gegen aufständische Sunniten und schiitische Milizen, standen in einem Konfessionskrieg, in dem das tägliche Grauen keine Grenzen kannte: getötete Verwandte, Autobomben, Massaker. Krieg wurde zum integralen Bestandteil ihres Lebens. Schon als die US-Besatzung den Irak zwischen 2003 und 2011 heimsuchte, waren sie gefangen im Teufelskreislauf der Gewalt. Im Kampf gegen den IS schließlich fanden sie eine Mission, die sie zu Verteidigern der Nation werden ließ, zu Kämpfern für eine reine, gerechte Sache gegen das absolut Böse. Sie hatten das Gefühl, über dem Staat zu stehen und korrupten Politikern in Bagdad keine Rechenschaft schuldig zu sein. Da sie dem Tod so oft ins Auge blickten, nahmen sie sich das Recht, zu entscheiden, was richtig und was falsch war.
„Manchmal tun wir Dinge und wissen, dass wir das Gesetz brechen“, sinniert der Kommandeur eines Nachmittags, nachdem er an seinem Tee genippt hat. Er zündet sich eine Zigarette an. „Mein General sagt: ‚Bring mir keine Gefangenen. Wenn du weißt, dass sie Daesh sind, kümmere du dich um sie.‘ Meine Soldaten rufen mich an und sagen: ‚Wir haben den und den gefunden‘, und ich befehle: ‚Tötet ihn!‘ Manchmal frage ich mich, was ich da tue. Wer bin ich, das Leben eines anderen zu beenden? Ich habe mit einem Geistlichen gesprochen, der meinte, wenn ein Gefangener nicht bewaffnet sei, solle man ihn besser dem Staat übergeben. Aber wer wird dann über ihn richten? Über welche Qualitäten verfügt ein Richter, die ich nicht habe? Wer hat den Richter ernannt? Man sagt, das sei der Staat gewesen, doch wer gab dem Staat das Recht, über die Menschen zu herrschen? Dieses Recht hat er nicht von Gott, also habe ich das gleiche Recht, das Leben eines Mannes zu beenden wie der Staat.“ Die Zigarette in seiner Hand ist heruntergebrannt, er zündet sich eine neue an.
Nach der Schlacht um Mossul, als die Armee begann, sich über die Kriegskosten im Klaren zu werden, ließ die Euphorie nach und wurde durch Bitterkeit und das Gefühl ersetzt, dass der Sieg einen zu hohen Preis hatte. Wie andere Fronteinheiten hatte Tahas Bataillon große Verluste erlitten. Viele der altgedienten Offiziere waren gefallen. Wer überlebt hat, muss häufig schwere Verwundungen oder die psychischen Narben eines kriegerischen Jahrzehnts verkraften.
Rund um Mossul wurden vom IS erbeutete Waffen durch korrupte Offiziere an die Kurden oder an schiitische Milizeinheiten verkauft, die offiziell gebildet wurden, um gegen den IS zu kämpfen. Tatsächlich horten diese Verbände Waffen, um in den nächsten Konflikt zu ziehen. Der in Bagdad vorbereitet wird, denn dort halten die gleichen Politiker, die den Aufstieg des IS zu verantworten haben, weiter Reden im Fernsehen und lassen hinter den Kulissen nichts unversucht, das Land zu plündern. Die Eroberer von Mossul wissen: Das Schweigen der Waffen verheißt keinen Frieden. Wie Menschen, die eine lange, destruktive Beziehung gefangen hält, sind sie des Krieges überdrüssig, haben aber Angst vor seinem Ende. „Am meisten graut mir davor“, sagt Taha, „dass es wieder so wird wie in den Tagen des schiitischen Sektierertums, als wir nicht wussten, wer unser Feind ist und wer unser Freund. Was wird nach Daesh kommen?“ Hauptmann Wissam antwortet ihm mit heiserem Lachen: „Das sind die Milizen. Wir räumen mit Daesh auf und dann schicken sie uns in den Süden. Was denkst du, warum die Schiiten dort all die Waffen und das Geld horten?“
„Nein, ich gehe davon aus“, sagt der Kommandeur und sieht von seinem Telefon auf, „dass wir in ein paar Monaten nach Mossul zurückkehren, um erneut zu kämpfen. Hier standen 40.000 Daesh-Kämpfer. Haben wir 40.000 getötet? Nein. Wo sind sie?“ Taha sagt: „Statt in Mossul zu bleiben, sollten wir nach Bagdad fahren und in der Grünen Zone wiederholen, was wir mit den Daesh gemacht haben. Erst dann wird der Irak Frieden finden.“
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