Das Gefühl, im Krieg zu sein

USA Von Trumps Mauer ist immer noch nichts zu sehen. Dafür bestimmen Militärs jetzt den Alltag im Grenzgebiet
Ausgabe 04/2019
Das Gefühl,  im Krieg zu sein

Karte: der Freitag

Die „große, schöne Mauer“ wurde zum Markenzeichen einer Präsidentschaft. Es ist dieses Projekt, das mehr als alle anderen Donald Trumps Basis beflügelt und seine Gegner verärgert. Inzwischen hat das hartnäckige Bestehen auf diesem Wahlversprechen zu einem nie da gewesenen Shutdown der Regierung geführt und einen großen Teil der US-Verwaltung blockiert. Was Trumps Wall zu einem derartigen Symbol macht, basiert auf der Einfachheit seiner Idee: Baut sie hoch, baut sie lang, und Amerika ist wieder sicher.

Nur wie stimmt dieser schlichte Ansatz mit der Komplexität einer Grenzregion überein? Die über 3.000 Kilometer lange Grenze zwischen den USA und Mexiko durchquert völlig unterschiedliche Landschaften – Wüsten, Flüsse, Berge, das Meer. Passend dazu haben die 7,5 Millionen Menschen, die in den Grenzstaaten leben, stark voneinander abweichende Ansichten. Einige sind passionierte Anhänger der Mauer, andere sehen ihre Zukunft als untrennbar mit dem Nachbarn im Süden verbunden.

Wandert man in Kalifornien 45 Minuten lang an Salzmarschen und Sanddünen vorbei einen Strand entlang, der außer gelegentliche Touristen auf Pferden völlig einsam ist, kommt man an einen Stahlzaun, der weit in den Pazifischen Ozean hineinragt. Hier will Trump anfangen, die Mauer zu bauen, wenn er über die Milliarden verfügt, die dafür gebraucht werden. Angesichts des Streits um die Finanzierung haben Regierungsmitarbeiter begonnen, von „Trumps Mauer“ zu sprechen, wenn es um bereits bestehende Grenzanlagen oder deren Reparatur in Calexico, 100 Meilen weit ostwärts, geht. Nur ist es irreführend, dies als „Mauer“ auszugeben. Was hat der Präsident seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren wirklich gebaut? Nichts.

Wir befinden uns am westlichsten Punkt der Grenze, am Stadtrand von San Ysidro, Kalifornien, einem Vorort von San Diego, wo sich einer der am stärksten frequentierten Grenzübergänge der Welt befindet. Jedes Jahr wird hier die Hoffnung Tausender Migranten zerstört, es in die USA zu schaffen. Der Zaun endet im Meer, genau dort, wo sich die Wellen brechen. Er ist vielleicht sechs Meter hoch, nicht die steil aufragenden neun Meter, wie sie der Präsident fordert. Neben diesem Zaunstück liegt Friendship Park, ein binationales Terrain, auf dem sich Freunde und Familienmitglieder von beiden Seiten der Grenze treffen dürfen. Der Name wirkt paradox angesichts der Feindseligkeit, die Trump mit seiner Obsession erzeugt hat. Außerhalb von Friendship Park, wo maximal zehn Besucher gleichzeitig erlaubt sind, müssen getrennte Familien damit auskommen, sich aus der Ferne zuzuwinken. Heute ist auf der US-Seite niemand zu sehen. Von Mexiko aus schauen ein Mann und ein kleiner Junge nordwärts. „USA!“, sagt der Mann und zeigt zwischen zwei Metallstäben hindurch.

Von San Ysidro aus steht auf 74 Kilometern der Grenze eine Stahlbarriere, bevor sie Platz macht für die unerbittliche Wüste. Das sind 74 von insgesamt 1.052 Kilometern Zaun, die bereits existieren, ein Großteil davon mehr oder weniger reparaturbedürftig. Hunderte von Kilometern der mit Maschendraht verstärkten Barriere sind das Produkt einer anderen politischen Ära, basierend auf dem Secure Fence Act (Gesetz für den sicheren Grenzzaun), bei dem es sich um einen 2006 unter dem Präsidenten George W. Bush ausgehandelten Einwanderungskompromiss handelte.

Derartige Arrangements sind heute undenkbar. Nach Donald Trump ist die Grenze strikt zweigeteilt: Auf amerikanischer Seite regieren das Gesetz, harte Arbeit und Freiheit; auf der anderen Kriminalität, Banden und Drogenschmuggel. In Trumps Dystopie hat eine Mauer zu verhindern, dass die USA durch dunkle Kräfte überrannt werden, die aus Mexiko herüberbranden. In seiner Rede an die Nation am 8. Januar hieß es denn auch: „Über die Jahre hinweg wurden Tausende Amerikaner brutal von Leuten getötet, die unser Land illegal betreten haben. Es wird weitere Tausende Leben kosten, wenn wir jetzt nicht etwas tun.“

Der Stacheldraht wuchert

Redet man mit Einwohnern von San Ysidro auf der nordamerikanischen Seite der Grenze, erzählen sie stattdessen von Angst und Verunsicherung, die von der US-Regierung bei ihnen ausgelöst wurden. In dieser Stadt, in der 90 Prozent der Einwohner Spanisch sprechen, wird das Land südlich der Grenze nicht mit dem Gesetz des Bösen gleichgesetzt, sondern mit Familie, Freunden und bezahlbarer Gesundheitsfürsorge. Gibt es bei ihnen eine Dystopie, resultiert das aus einer rasant militarisierten Grenze auf Seiten der USA – aus dem Aufmarsch von Hubschraubern und bewaffneten Patrouillen.

„Das Gefühl, in einem Kriegsgebiet zu sein, das war das Schreckliche in den vergangenen Monaten“, erzählte Lisa Cuestas, die Leiterin von Casa Familiar, einer Non-Profit-Organisation, die in San Ysidro Sozialdienste anbietet. Die Militarisierung der Gegend wurde stark vorangetrieben, nachdem eine Karawane zentralamerikanischer Migranten den mexikanischen Grenzort Tijuana erreicht hatte. Trump machte dies zum Politikum. Während der Kongresswahlen im November sprach er von einer „Immigrationsinvasion“. Jetzt sitzen diese Menschen in Mexiko fest und überall wuchert der Stacheldraht wie Unkraut.

Estrella Flores arbeitet mit Jugendlichen in der Casa Familiar in San Ysidro, wohnt aber in Tijuana, mit ihrem Mann und dem 18 Monate alten Kind. Ihr Pendeln zwischen Arbeit und Familie ist seit Trumps Durchgreifen an der Grenze enorm belastend. „Als ich zum ersten Mal über die Grenze ging, seit es die Barrikaden und den Stacheldraht gibt, war das ein schreckliches Gefühl: Bin ich in einer Kriegszone? Was ist hier los? Ich will nur zur Arbeit gehen. Man hat das Gefühl, es könnte etwas Schlimmes passieren, und das sehr schnell.“

Laut einer Umfrage der San Diego Union-Tribune nach Trumps Grenzschutz-Rede an die Nation sind 56 Prozent der Kalifornier gegen die Idee einer Mauer, nur 34 Prozent dafür. Das überrascht nicht in einem Staat, in dem viele progressive Politiker leben. Die Stimmung in Kalifornien ist auch deshalb von Gewicht, weil es dort mehr illegale Migranten gibt als in jedem anderen US-Staat: 2,4 Millionen – in Texas nur 1,7 Millionen. In Kalifornien liegt auch das Areal mit Trumps acht Mauer-Prototypen. Im März 2018 kam er hierher, um für Fotos vor den riesigen Wandplatten aus Beton und Stahl zu posieren. Jetzt rosten sie vor sich hin. Laut einem Bericht des US-Bundesrechnungshofes GAO leiden die acht Modelle unter Konstruktionsfehlern. Bei einem Test durch den US-Grenzschutz hatte sich herausgestellt, dass sie sich durchbrechen lassen.

Das erste Morgenlicht bringt die frostigen Stachel der Cholla-Kakteen zum Glitzern, während 30 freiwillige Helfer in neongelben Hemden bereit sind auszuschwärmen, um unter einem hellrosa Himmel die Wüste zu durchkämmen. Ely Ortiz, Leiter der „Adler der Wüste“, versammelt sein Team, das mit ihm durch die Nacht von San Diego nach Ajo in Arizona gefahren ist. Er erzählt, dass bei der letzten Suchaktion die Überreste von elf Menschen gefunden wurden. Die freiwilligen Helfer haben Leichenspürhunde dabei, darunter die Hündin Zabra, zuletzt eingesetzt, um bei den kalifornischen Waldbränden nach Opfern zu suchen. Das Tier ist Wüstenterrain nicht gewohnt, sodass die Helfer stehen bleiben müssen, um dornige Stacheln aus seinen Pfoten zu entfernen.

Mahnwache in der Geisterstadt

In dieser Gegend kann sich Trump bereits auf die Wirksamkeit einer metaphorischen Mauer verlassen. Durch die Sonora-Wüste führt derzeit die am meisten frequentierte und zugleich tödlichste Einwanderungsroute. Es gibt kaum Wasser, in den Sommermonaten können die Temperaturen auf über 50 Grad steigen. Nach Angaben des US-Grenzschutzes wurden entlang des südwestlichen Teils der Demarkationslinie in den vergangenen 20 Jahren 7.209 Todesfälle dokumentiert, vermutlich weitaus weniger als die wirkliche Zahl der Opfer.

Davon ungerührt hat es die US-Staatsanwaltschaft für angemessen erachtet, Klage gegen neun Mitglieder der Menschenrechtsliga „No More Deaths“ („Keine weiteren Tode“) zu erheben. Der Vorwurf: „Umweltverschmutzung“ und verbotenes Fahren durch das Wildschutzgebiet Cabeza Prieta, als die Helfer auf Notrufe reagiert hatten. „Die Ironie ist, dass sie uns verbieten, hier entlangzufahren oder Wasser zu deponieren, weil wir damit den Naturschutz verletzen, aber gleichzeitig fährt der Grenzschutz mit seinen Allrad-Geländewagen abseits der Straßen und lässt Hubschrauber und Drohnen fliegen, wo er will“, sagte Parker Deighan, einer der Verklagten. Trumps „Prävention durch Abschreckung“ zwinge Migranten, größere Risiken einzugehen. Je weniger Einreisemöglichkeiten es über offizielle Grenzübergänge gebe, desto mehr würden die Migranten in Richtung Wüste ausweichen.

Eine der wenigen Städte in dieser Region ist Ajo. Seit die örtliche Kupfermine in den 1980ern geschlossen wurde, herrscht dort Geisterstimmung. Viele Einwohner sind zum Hauptarbeitgeber vor Ort gewechselt: der Grenzsicherung. Deshalb hat „No More Deaths“ jüngst auf dem Hauptplatz der Stadt eine Mahnwache abgehalten, um an die Menschen zu erinnern, die in der Wildnis ringsherum ihr Leben ließen. Es wurden 118 weiße Kreuze aufgestellt für all jene, die allein 2018 in der Wüste starben. Skelette, die sich bisher nicht zuordnen ließen, waren mit „desconocido“ (unbekannt) markiert.

Ana Adlerstein, Edwin Delgado, Charles Davis und Ed Pilkington arbeiten für den Guardian

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Geschrieben von

Ana Adlerstein, Edwin Delgado u. a. | The Guardian

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