Das Gegengift

Partizipation Was hilft gegen Rechtspopulismus und Fake News? Eine radikale Umverteilung der politischen Macht von oben nach unten
Wie geht Populismus ...
Wie geht Populismus ...

Foto: Isabel Infantes/AFP/Getty Images

Man kann Jeremy Corbyn für Boris Johnson und Hillary Clinton für Donald Trump verantwortlich machen. Man kann die indischen Gegenkandidaten für Narendra Modi, die brasilianische Opposition für Jair Bolsonaro und die linken und zentristischen Parteien in Australien, den Philippinen, Ungarn, Polen und der Türkei für ähnliche Wahlkatastrophen verantwortlich machen. Oder man könnte sich eingestehen, dass das, was wir gerade erleben, ein globales Phänomen ist.

In all diesen Fällen gab es individuelle Fehler. Diese Fehler waren zwar sehr unterschiedlich, wie etwa in den Fällen von Jeremy Corbyn und Hillary Clinton. Aber wenn das gleiche in vielen Nationen passiert, ist es an der Zeit, die Muster zu erkennen und zu begreifen, dass Schuldzuweisungen an ganz bestimmte Personen oder Parteien rein gar nichts ändern.

In diesen Ländern sind Menschen, denen man guten Gewissens nicht einmal zutrauen würde, einen Brief für einen selbst in den Briefkasten zu werfen, in höchste Ämter gewählt worden. Dort verhalten sie sich genauso, wie es auch vorhergesagt wurde: wie eine Bande von Vandalen, die den Schlüssel zu einer Galerie bekommen hat und jetzt die großen Kunstwerke mit Spraydosen, Cuttern und Vorschlaghämmern „veredelt“. Inmitten weltweiter Krisen reißen sie Umweltschutz- und Klimaabkommen in Stücke und räumen die Vorschriften beiseite, die dazu gedacht waren, das Kapital einzuschränken und die Armen zu verteidigen. Sie führen Krieg gegen eben jene Institutionen, die ihre Befugnisse einschränken sollen, und begehen in einigen Fällen vorsätzliche und ungeheure Verbrechen gegen den Rechtsstaat. Sie benutzen Straffreiheit als politische Waffe und kokettieren damit, die täglichen Skandale zu überleben, von denen jeder einen normalen Politiker zerstören würde.

Etwas hat sich geändert – nicht nur in Großbritannien und den USA, sondern in vielen Ländern der Welt. Eine neue Politik, von Oligarchen finanziert, die auf raffinierten Betrügereien und provokativen Lügen aufbaut, die Sozialen Medien mit schäbiger Werbung und Verschwörungstheorien überflutet, hat die Kunst perfektioniert, die Armen davon zu überzeugen, für die Interessen der Reichsten zu stimmen. Man muss sich langsam einmal klar machen, was uns da alles bevorsteht – und welche neuen Strategien erforderlich sein werden, um uns dagegen zu wehren.

Es muss ein Gegenmittel geben

Wenn es ein Rezept für diese neue Sorte Demagogie gibt, muss es auch ein Gegenmittel geben, um ihr zu begegnen und sie außer Kraft zu setzen. Ich selbst habe noch keine allumfassende Antwort, aber ich glaube, es gibt einige Dinge, auf denen man aufbauen kann.

In Finnland wurde am Tag der Wahl in Großbritannien die Antithese von Boris Johnson Premierministerin: die 34-jährige Sanna Marin, die sich stark, bescheiden und kooperativ gibt. Die Politik Finnlands, die aus der eigentümlichen Geschichte des Landes entsprungen ist, kann jedoch nicht einfach repliziert werden. Aber sie bietet uns eine wichtige Lehre. Im Jahr 2014 startete das Land ein Programm zur Bekämpfung von Fake-News, das den Menschen beibringen sollte, wie man Falschnachrichten erkennt und bekämpft. Im Ergebnis steht, dass die Finnen in einer aktuellen Studie unter 35 Ländern zu den Menschen gehören, die sich am hartnäckigsten gegen postfaktische Politik wehren.

Man kann nicht erwarten, dass Johnsons oder Trumps Regierung die Leute jetzt plötzlich gegen die eigenen Lügen impft. Doch es muss ja auch nicht immer eine staatliche Initiative sein. Diese Woche veröffentlichten die US-Demokraten einen Leitfaden zur Bekämpfung von Online-Desinformationen. Sie werden versuchen, Google, Facebook und Twitter zur Rechenschaft zu ziehen. Ich wünsche mir, dass progressive Parteien auf dem ganzen Planeten eine Koalition bilden, die digitale Kompetenzen fördert und die Social-Media-Plattformen unter Druck setzt, damit sie aufhören, Falschmeldungen zu verbreiten.

... die Luft aus?

Foto: Isabel Infantes/AFP/Getty Images

Wir brauchen radikales Vertrauen

Aber das ist eigentlich die kleinere Aufgabe. Die viel größere Aufgabe besteht darin, nicht mehr zu versuchen, die Menschen von der Spitze aus zu kontrollieren. Im Moment ist es das Leitmotiv fast aller Parteien, den Wandel von oben nach unten zu gestalten. Sie schreiben ein Manifest, das sie in eine Regierungspolitik verwandeln, die hernach einer kurzen, dürftigen Konsultation unterzogen wird, die dann wiederum zu einem Gesetz und schließlich zu Veränderungen führen soll. Ich persönlich glaube, das beste Gegenmittel gegen Demagogie ist der umgekehrte Weg: radikales Vertrauen. Parteien und Regierungen sollten den Communities, so weit es nur irgendwie geht, vertrauen. Denn sie kennen ihre eigenen Bedürfnisse am besten und können darauf basierend ihre eigenen Entscheidungen treffen.

In den letzten Jahren hat sich unser Verhältnis zur Natur durch eine neue Herangehensweise verändert: die Renaturierung. So bizarr es auch klingen mag, dieses Konzept könnte dazu beitragen, ein neues Politikmodell zu entwickeln. Es ist Zeit für eine „politische Renaturierung“.

Wenn man versucht, Natur von oben nach unten zu kontrollieren, befindet man sich in einem ständigen Kampf mit ihr. Naturschutzverbände versuchen oft, komplexe Ökosysteme so zu behandeln, als wären sie einfach. Durch tiefgreifendes Management – Schneiden, Weiden und Verbrennen – versuchen sie, die Natur so weit zu unterwerfen, bis sie ihrer Vorstellung davon entspricht, wie sie sich verhalten soll. Aber Ökosysteme sind, wie alle komplexen Systeme, hochdynamisch und anpassungsfähig und entwickeln sich – sofern möglich – auf emergente und unvorhersehbare Weise.

Letztendlich – und das ist tatsächlich unvermeidbar – scheitern diese Kontrollversuche. Naturschutzgebiete, die auf diese Weise bewirtschaftet werden, neigen dazu, Fülle und Vielfalt zu verlieren, und erfordern immer extremere Eingriffe, um die irrationalen Erwartungen ihrer Ordnungshüter zu erfüllen. Außerdem werden sie verwundbar. In allen Systemen ist Komplexität tendenziell belastbar, während Einfachheit tendenziell fragil ist. Die Natur in einem Zustand des Stillstands zu halten, in dem die meisten ihrer natürlichen Prozesse und ihrer grundlegenden Elemente – z.B. Tiere, die diese Vorgänge bestimmen – fehlen, macht sie anfällig für klimatische Veränderungen und invasive Arten. Aber die Renaturierung – die dynamische, unvorhersehbare Erneuerung der Ordnung – kann zu einem plötzlichen Aufblühen – oft auf völlig unerwartete Weise – mit einer wesentlichen Verbesserung der Widerstandsfähigkeit führen.

Hoffnung liegt in der urbanen Gesellschaft

Das Gleiche gilt für Politik. Die klassische Politik, die von Parteiapparaten gesteuert wird, hat versucht, die unbegreifliche Komplexität menschlicher Gesellschaften auf ein einfaches, lineares Modell zu reduzieren, das von der Spitze aus gesteuert werden kann. Die von ihr geschaffenen politischen und wirtschaftlichen Systeme sind gleichzeitig instabil und wenig dynamisch. Sie sind anfällig für den Kollaps – wie viele nördliche Metropolen bezeugen können – aber kaum in der Lage, sich zu regenerieren. So werden sie anfällig für die toxischen, invasiven Kräfte von Ethno-Nationalismus und Überlegenheitsdenken.

Aber in einigen Teilen der Welt haben Metropolen begonnen, Politik neu zu gestalten. Kommunen haben Bürgerbeteiligung gefördert, sich dann – soweit möglich – zurückgezogen und ihre Entwicklung zugelassen. Klassische Beispiele sind die partizipatorische Haushaltsplanung in Porto Alegre in Brasilien, das Decide Madrid-System in Spanien und das Better Reykjavik-Programm in Island. Die lokale Bevölkerung hat den politischen Raum, der von Parteiapparaten und Top-Down-Regierungen besetzt worden war, wieder in Beschlag genommen. Sie haben gemeinsam herausgefunden, was ihre Gemeinden wirklich brauchen und wie sie es erreichen können – und sich geweigert, die Fragen von Politikern gestalten und die entsprechenden Antworten vorgeben zu lassen. Die Resultate waren bemerkenswert: ein gesteigertes politisches Engagement, insbesondere bei marginalisierten Gruppen, und eine enorme Verbesserung der lokalen Lebensqualität. Partizipative Politik erfordert nicht den Segen einer Zentralregierung, sondern nur eine selbstbewusste und weitsichtige lokale Verwaltung.

Ist das ein Rezept für eine bestimmte Partei, damit sie Macht zurückgewinnen kann? Nein. Es ist viel mehr als das. Es ist eine Strategie, um Kontrolle zurückzuerlangen, unsere Gemeinden widerstandsfähiger und die Machtspielchen von Regierungen weniger bedeutsam zu machen. Eine radikale Dezentralisierung ist die beste Verteidigung gegen die Vereinnahmung durch irgendwelche politischen Kräfte. Lasst uns die Grundpfeiler der Politik ändern. Lasst uns die elektrisierende Dynamik einer funktionierenden Gesellschaft zum Vorschein bringen. Möge der wilde Zirkus beginnen.

George Monbiot ist Kolumnist des Guardian

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Übersetzung: Jan Jasper Kosok
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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