Zuerst die gute Nachricht: Der Zusammenbruch Pakistans steht nicht unmittelbar bevor. Dort werden morgen keine militanten Islamisten die Macht ergreifen; das Land ist nicht drauf und dran, seine Nuklearwaffen an die al Qaida zu verkaufen; die Armee wird nicht die afghanischen Taliban in Indien einmarschieren lassen. Auch ein Bürgerkrieg ist unwahrscheinlich.
Nun die schlechte Nachricht: Pakistan stellt uns vor Fragen, die viel tiefer gehen als jene, die wir haben müssten, wenn dieser zweitgrößte muslimische Staat der Welt mit seinen 170 Millionen Einwohnern einfach ein gescheiterter Staat wäre. Würde Pakistan kollabieren, stünden wir vor einer ernsten sicherheitspolitischen Herausforderung. Doch die andauernde kollektive Weigerung des pakistanischen Volkes, sich so zu verhalten, wie der Westen es sich wünscht, wirft Fragen auf, die weit über bloße Sicherheitsinteressen hinaus gehen. Es geht darum, wie wir das Verhalten und die vermeintlichen Interessen anderer Nationen und Kulturen zu durchschauen vermögen. Inwiefern sind wir in der Lage, mit Unterschieden umzugehen, wenn die sich in verschiedenen Weltsichten manifestieren?
Das Klischee von den durchgeknallten Mullahs
In den zurückliegenden zwei Jahren habe ich von blutigen ethnischen und politischen Unruhen berichtet, von gewaltsamen Demonstrationen und von der Front eines grausamen Krieges gegen radikale islamistische Aufständische. Eine Woche bevor Benazir Bhutto am 27. Dezember 2007 ermordet wurde, habe ich einen Tag mit ihr verbracht. Ich habe erfahren, wie sehr das Land an einer sozialen Krise leidet, an Analphabetismus, häuslicher Gewalt und Drogenmissbrauch.
Bei vielen Entwicklungsländer würde ein solches Konfliktpotenzial das totale Auseinanderbrechen des Staates heraufbeschwören. Das ist mit der Grund dafür, dass der Kollaps Pakistans bereits häufig prophezeit wurde: 1971, als die Osthälfte des Landes sich abspaltete, um zu Bangladesch zu werden; während der Zeiten der Gewalt, die dem Putsch von General Zia ul-Haq im Jahr 1977 vorausgingen; 1988, als Zia getötet wurde; nach dem 11. September 2001; nach dem Tode Bhuttos Ende 2007 – auch jetzt wieder. Derartige Vorhersagen haben sich bislang noch immer als falsch erwiesen. So wird es diesmal wieder sein.
Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil wird diese immer wiederkehrende internationale Hysterie von den Pakistanern selbst angestoßen. Eine Reihe von Regierungen beherrschen es bis zur Perfektion, Verhandlungen zu führen, indem sie sich das Gewehr an die eigenen Schläfen halten. Sie wissen, dass die strategische Bedeutung ihres Landes den lebenserhaltenden finanziellen Beistand der internationalen Gemeinschaft garantiert
Während kaum jemand Emile Zola zitieren würde, um eine Aussage über das heutige Frankreich zu treffen, wird zur Erklärung der Aufstände im Pakistan dieser Tage regelmäßig Winston Churchill herangezogen, der als junger Mann in der Nordwestprovinz des damaligen Britisch-Indiens kämpfte. Auch die Stereotypen von Amok laufenden „Mad Mullahs“, den „durchgeknallten Mullahs“, entstammen diesem Erbe – eine Vorstellung, die durch Fernsehbilder immer wieder neu gespeist wird, die tobende Demonstranten islamistischer pakistanischer Parteien zeigen – obwohl die bei Wahlen nie mehr als zehn bis zwanzig Prozent erhalten haben.
Nur noch Schoßhündchen der USA
Seit geraumer Zeit hat sich eine neue pakistanische Identität gefestigt, die nationalistisch, konservativ und wesentlich aggressiver in der Vertretung dessen ist, was zu recht oder unrecht als pakistanische Interessen betrachtet wird. Eine Mischung aus patriotischem Chauvinismus und gemäßigtem Islamismus, der von einer stark verzerrten Weltsicht geprägt ist, wie sie derzeit der gesamten muslimischen Welt eigen ist. Das bedeutet, viele Pakistani lehnen den Westen als ausbeuterisch und feindselig ab. Die Bewunderung für die Briten ist der Verachtung für ein Land gewichen, das nur noch als Schoßhündchen der USA wahrgenommen wird. Statt von einem Urlaub in London, träumt man in Pakistan heute von Dubai oder Malaysia. Selbst führende Offiziere der Armee sind der Überzeugung, die Angriffe vom 11. September seien vom israelischen Geheimdienst Mossad, der CIA oder von beiden zusammen arrangiert worden.
Die indischen Erbfeinde werden für die Destabilisierung Afghanistans verantwortlich gemacht, während die Taliban als „Freiheitskämpfer“ gelten. Demokratie wird als das beste System betrachtet, aber nur, solange es Regierungen hervorbringt, die Entscheidungen treffen, die dem Empfinden der meisten Pakistani entsprechen und nicht nur dem der Englisch sprechenden, westlich sozialisierten Elite, aus deren Mitte westliche Entscheidungsträger, Politiker und Journalisten für gewöhnlich ihre Gesprächspartner auswählen.
Diese Weltsicht ist nach einem Jahrzehnt des schnellen und ungleichen wirtschaftlichen Wachstums in der neuen, städtischen Mittelschicht Pakistans weit verbreitet. Aus dieser Mittelschicht rekrutiert sich auch das Gros der Offiziere, woraus sich teilweise die Unterstützung von Teilen des pakistanischen Militär-Establishments für die Taliban erklärt. Die berüchtigte, für Spione zuständige Abteilung des Geheimdienstes ISI wird zu großen Teilen mit Soldaten besetzt – sie ist ein Spiegel der Gesellschaft. Für den ISI ist es, wie für viele Pakistani, eine durchaus rationale Entscheidung, gewisse aufständische Fraktionen in Afghanistan zu unterstützen. Wenn dieser Trend sich fortsetzt, stellt uns dies vor ganz andere Probleme, als ein gescheiterter Staat dies täte. Wir hätten es mit einer Nuklearmacht zu tun, die sich immer stärker Gehör verschafft und die einen gänzlich anderen Blick auf die Welt hat als wir.
Die Träume des Westens, nach dem Ende des Kalten Krieges könnte eine Epoche des Friedens und der Gemütlichkeit anbrechen, wurden bitter enttäuscht. Wir mussten die Unabhängigkeit und den Einfluss von Ländern wie China oder Russland akzeptieren, deren Bevölkerungen zu großen Teilen mit den politischen Zielen ihrer Regierungen einverstanden sind. Andere Länder, besonders solche, die nicht in derartigen Schwierigkeiten stecken wie Afghanistan oder Pakistan, werden wahrscheinlich bald folgen. Dies stellt die Außenpolitik vor eine entscheidende Herausforderung. Uns den Kopf über einen drohenden Zusammenbruch Afghanistans zu zerbrechen, wird uns nicht dabei helfen, Antworten auf die wirklich schwierigen Fragen zu finden, die Pakistan uns stellt.
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