Das Googeln der Anderen

Gesellschaftskritik Eine Kampagne von UN Women thematisiert die Diskriminierung von Frauen durch Googles Autocomplete-Algorithmen
Das Googeln der Anderen

Foto: Memac Ogilvy & Mather Dubai

Es ist eine durch Algorithmen bestätigte Wahrheit, dass ein Mann ejakulieren und eine Frau in ihre Schranken verwiesen werden muss.

Irritiert? Zu Recht. Aber machen Sie nicht den Überbringer der sexistischen Botschaft für deren Inhalt verantwortlich. In diesem Fall sind es die Vereinten Nationen. Eine für UN Women entwickelte Anzeigen-Kampagne macht anhand realer Google-Suchanfragen deutlich, wie verbreitet die Diskriminierung von Frauen ist. Die Kampagne zeigt Nahaufnahmen von Frauengesichtern über deren Mund Autocomplete-Resultate für Begriffe wie "Frauen sollten ..." und "Frauen müssen ..." angezeigt werden. Dazu gehören Glanzstücke wie "Frauen müssen diszipliniert werden" und "Frauen sollten keine Rechte haben". Der kurze Text auf jedem Plakat lautet: "Reale Google-Suche am 9/3/13." Bei den Beispielen handelt es sich um eine englische Auswahl. Sucht man am 23. Oktober 2013 in der deutschen Google-Version, erhält man Antworten wie "Frauen müssen draußen bleiben", Eva Hermans Forderung "Frauen sollten öfter mal den Mund halten", oder "Frauen sollten nicht arbeiten!!!". Aber auch Vorschläge mit dem Thema, dass Frauen doppelt so hart arbeiten müssen wie Männer, um das Gleiche zu erreichen.

Während viele von uns täglich mehrmals mit Googles Autocomplete-Funktion zu tun haben, denken wir selten über die dahinterstehende Funktionsweise nach. Autocomplete agiert wie jemand, der sich für besonders schlau und schnell hält und die Sätze seiner Mitmenschen für sie vervollständigt. Während der menschliche Schlauberger aus dem Gefühl heraus agiert, arbeitet Autocomplete mit Algorithmen. Sie brauchen nur ein paar Buchstaben einzugeben und der Algorithmus durchsucht auf der Basis dessen, was andere Leute vor ihnen in der Vergangenheit gesucht haben, die Datenbanken, um vorwegzunehmen, was sie suchen.

Google, ein Beichtstuhl

Die Autocomplete-Vorschläge variieren nach Region und Zeit, scheinen aber zu einem gewissen Grad konsistent. Als ich die Suchbegriffe, die die Macherinnen der Kampagne in New York eingegeben haben, am Montagabend in London wiederholte, waren die ersten drei Vorschläge für "Frauen sollten ...": "Frauen sollten den Mund halten", "Frauen sollten erwachsen werden" und "Frauen sollten wissen, wo ihr Platz ist". Die Eingabe von "Männer müssen ..." ergab: "Männer müssen ejakulieren", "Männer müssen das Gefühl haben, gebraucht zu werden" und "Männer müssen erwachsen werden" – letzteres immerhin ein kleiner Sieg für die Geschlechtergerechtigkeit.

Google ist zu so etwas wie der säkularen Entsprechung eines Beichtstuhls geworden. Wir tippen Fragen und Meinungen in das Suchfenster, zu denen wir uns nie im Leben öffentlich bekennen würden. Unsere beliebtesten Suchanfragen sind, zu einem gewissen Grad, eine unzensierte Chronik dessen, was eine Gesellschaft denkt, aber sich nicht unbedingt zu sagen traut. Was die UN Women-Kampagne so überzeugend macht, ist, dass sie den Schleier der öffentlich akzeptierten Rhetorik wegzieht und offenlegt, wie weit verbreitet sexuelle Vorurteile noch immer sind.

Aber man muss aufpassen. Ohne die sehr realen und widerwärtigen Meinungen, die die Kampagne in den Blick rückt, kleinzureden, sind Autocomplete und kollektive Psyche nicht identisch und das eine spiegelt das andere nicht akkurat wider. Autocomplete-Vorschläge können so bizarr sein, dass sie einen eigenen Twitter-Account – @GooglePoetics – angeregt haben, der sich den gelegentlich äußerst dadaistischen Ergebnissen widmet. Ein typisches Gedicht lautet wie folgt:

"mein Gott ich bin eine Tomate

mein Gott ich bin köstlich

mein Gott ich bin schwanger und frage ich, wer das bloß gewesen sein könnte"

Effizienz ist alles

Die Welt, die man durch die Brille von Autocomplete zu sehen bekommt, ist eine seltsame und nicht immer besonders schöne. David Cameron ist hier "eine Eidechse", Obama "ein Muslim" und Putin ein "Brutalo". Aber selbst aus dem, was eindeutig als Unsinn identifizierbar ist, lässt sich immer noch einiges über unsere tiefsitzenden Ressentiments erfahren.

Darüber hinaus ist die Autocomplete-Funktion ein beunruhigender Indikator dafür, wie sehr wir unsere Gedankengänge im Interesse der Effizienz immer mehr von der Technik vervollständigen lassen. Einer Untersuchung von – äh – Google zufolge gelten 400 Millisekunden oder ein Blinzeln heute im Netz bereits als unzumutbare Verzögerung. Die Technik hat uns alle unglaublich ungeduldig gemacht: "Jede Millisekunde zählt", wie ein "Speed-Maestro" von Google gegenüber der New York Times erklärte.

Weil jede Millisekunde zählt, bemisst Google den Wert von Autocomplete weitgehend nach seiner Effizienz. Auf der Autocomplete-Seite mit häufig gestellten Fragen ist zu lesen, die Funktion sei praktisch, weil sie einem erlaubte, "die Finger zu schonen". Leider nicht nur die Finger, sondern auch das Gehirn. Wir als Gesellschaft müssen unsere Geschwindigkeitssucht überwinden und für eine Minute einen Gang zurückschalten, um nachzudenken. Wenn Sie sich jetzt fragen, was Autocomplete dazu wohl einfällt: "We need to think about Kevin".

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Arwa Mahdawi | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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