Das hat Athen nicht verdient

Bundesregierung Ein Finanzminister Christian Lindner und eine neue Ära der Sparpolitik könnten für Deutschlands europäische Partner katastrophale Folgen haben
Ausgabe 43/2021
Christian Lindners Ideen bestehen aus neoliberalen Banalitäten
Christian Lindners Ideen bestehen aus neoliberalen Banalitäten

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Noch ist der Postenschacher nicht offiziell eröffnet, doch hinter den Kulissen läuft der Kampf um das Finanzministerium schon länger. Er entscheidet nicht nur über die Zukunft der nächsten deutschen Regierung, sondern auch über jene Europas.

Sowohl FDP als auch Grüne erheben Anspruch auf das Finanzministerium. Die beiden Parteien ähneln sich in mancher Hinsicht: Sie kämpfen beide um die Stimmen der jungen Menschen. Sie vertreten Spielarten des Liberalismus. Sie wollen die morsche deutsche Infrastruktur modernisieren. Natürlich unterscheiden sie sich, was die Klimafrage betrifft. Aber auch in der Sozial- und Wirtschaftspolitik sind sie uneins – genau wie in der Europapolitik.

Christian Lindner und die FDP stehen für niedrige Steuern, Beibehaltung der Schuldenbremse und eine harte Linie gegenüber den europäischen Partnern Deutschlands. Die Klimakrise soll durch private Investitionen und CO₂-Bepreisung gelöst werden. Die Grünen hingegen wollen umfangreiche staatliche Investitionen, die Lockerung der Schuldenbremse und eine pro-europäische Politik, die den 2020 eingeschlagenen Weg einer gemeinsamen schuldenfinanzierten Investitionspolitik fortsetzt. Gerade für diese Politikfelder, auf denen die Unterschiede zwischen den Grünen (und der SPD) und der FDP am größten sind, ist das Finanzministerium entscheidend.

Wolfgang Schäuble (CDU), Finanzminister von 2009 bis 2017, erwarb sich in der Eurokrise einen zweifelhaften Ruf. Seine ständigen Sparauflagen setzten die Schuldnerländer massiv unter Druck. 2015 ging er so weit, Griechenland eine „Auszeit“ vom Euro vorzuschlagen. Sein Gebaren entsprang einer unausweichlichen politischen Logik: In Europa kann sich ein Ordoliberaler an der Spitze des deutschen Finanzministeriums nicht verstecken. Er muss Flagge zeigen.

Das, so muss man befürchten, würde für Lindner als Finanzminister noch stärker gelten. Lindner hat weit weniger europäische Überzeugung als Schäuble. Seine wirtschaftlichen Ideen bestehen aus neoliberalen Banalitäten. Aber er ist auch ein Showman, der beweisen muss, dass er und seine Partei den beiden eher linken Partnern Paroli bieten können. Es wäre naiv zu glauben, dass er zwischen einem von Olaf Scholz geführten Kanzleramt und einem grünen Umwelt-Superministerium eingehegt werden kann.

Scholz selbst hat gezeigt, was ein progressiver Pro-Europäer an der Spitze des deutschen Finanzministeriums bewirken kann. Er hat sowohl den Ton als auch den Inhalt der deutschen wirtschaftspolitischen Debatte verändert und eine globale Steuerreform vorangetrieben. Während der Covid-Krise gab er großzügig Geld aus. Vor allem aber nahm er die Fragilität der Eurozone ernst. Doch der Aufschwung in Europa ist immer noch fragil. Die Schuldenquoten in Europa sind höher als zuvor. Die politische Steuerung der Eurozone ist so ungelöst wie eh und je.

Der Zündstoff ist da

Vor diesem Hintergrund gibt die Aussicht auf einen Finanzminister Lindner Anlass zur Sorge. Die FDP fordert lautstark, dass sowohl Deutschland als auch Europa so schnell wie möglich zu den Schuldenregeln zurückkehren, die vor Corona galten. Für Deutschland mag das machbar sein. SPD und Grüne könnten sogar zustimmen, wenn die FDP Investitionen in großem Stil außerhalb des Haushalts akzeptiert. Für Europa wäre ein solches Programm ruinös. Sechzig Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Eurozone leben in Ländern, in denen die Verschuldung im Verhältnis zum BIP über 100 Prozent liegt. Unter diesen Bedingungen wäre es eine Katastrophe, eine Rückkehr zu den Kriterien der Maastricht-Ära zu erzwingen. Es würde alle öffentlichen Investitionen für den Klimaschutz abwürgen und populistische Gegenreaktionen hervorrufen.

Der Zündstoff dafür ist da. Acht EU-Mitglieder haben bereits die Konsolidierung der europäischen Finanzen ab 2022 gefordert. Es sind kleine Staaten. Ob sie sich durchsetzen, hängt von Deutschland ab.

Ein deutscher Finanzminister vom Schlag Lindner ist ein systemisches Risiko für Europa. Und selbst Merkel musste lernen: gerät Europa in die Krise, ist es für Berlin sehr schwer, Politik zu machen.

Adam Tooze ist der Autor des Buches Welt im Lockdown. Die globale Krise und die Folgen. Lesen Sie hier die Rezension im Freitag

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Geschrieben von

Adam Tooze | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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