Während der sechsstündigen Fahrt den Iriri-Fluss hinunter unterwegs nach Manolito trifft man kaum andere Boote. An seiner breitesten und ruhigsten Stelle ist das Wasser ein makelloser Spiegel für den blauen Himmel und grüne Baumkronen. Wo sich der Fluss verengt, tost das Wasser rings um zerklüftete Felsen. Papageien fliegen über die Baumkronen. Am Ufer sitzen Eisvögel auf Ästen, während auf Landzungen im Strom Reiher mit ausgebreiteten Flügeln auf ihre Beute warten. Den Wald neu denken
In dieser idyllischen Umgebung mitten im Amazonas treffen sich Gesandte der traditionellen Amazonas-Bewohner, dazu Klimaaktivisten und Wissenschaftler zu einer alternativen Klimakonferenz. Sie wollen den größten Regenwald der Welt neu denken, sich mi
n, sich mit seinem Potenzial beschäftigen und der Frage nachgehen, wer ihn am besten beschützen kann. Die Begegnung in Manolito, einer am Fluss gelegenen Siedlung mit einem halben Dutzend Holzhäusern in Terra do Meio (Mittelerde), steht in einem krassen Gegensatz zu dem, was in anderen Teilen des Regenwaldes passiert, wenn von Menschenhand gelegte Feuer gewaltige Flächen verwüsten. Die Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro hat Farmern, Goldsuchern und Holzfällern grünes Licht gegeben, auch auf diese Weise in die Region einzudringen. Die natürlichen Wächter des Waldes – am Fluss lebende indigene Gemeinschaften – erwarten das Schlimmste, nehmen den Kampf auf und verbünden sich mit jungen Aktivisten aus Europa, etwa Organisatoren von Extinction Rebellion aus Großbritannien und Belgien oder Nadja Tolokonnikowa von der russischen Punkband Pussy Riot.Ihr Treffpunkt liegt nicht weit entfernt vom Zentrum der Zerstörung. Der Großteil von Terra do Meio, ein Mosaik aus Naturparks und indigenen Reservaten, ist Teil von Altamira und damit des Bezirks in Brasilien, der unter den meisten Feuern, der schlimmsten Abholzung und der höchsten Mordrate im ganzen Amazonas leidet. Um Manolito zu erreichen, muss man durch das indigene Revier von Cachoeira Seca, in das viele Land-Grabber und illegale Goldsucher eingedrungen sind, sodass nur noch einer von zehn Bewohnern der Region zur ethnischen Gruppe der Arara-Indianer gehört. Stark in die Minderheit geraten, müssen sie fremder Landnahme machtlos zusehen. Anthropologen gelten sie als eine der am stärksten gefährdeten Ethnien Brasiliens.Der indigene Schamane und Anführer Davi Kopenawa Yanomami setzt Hoffnung auf die junge Klimabewegung, die in diesem Jahr an Einfluss gewonnen hat. „Darin zeigt sich eine neue Denkweise. Die jungen Leute aus den Städten hören den Hilfeschrei des Amazonas. Sie sehen das Feuer und die Abholzung, und sie verstehen – man darf nicht noch mehr Bäume töten. Auch deshalb redet die ganze Welt über den Amazonas.“Der Motto der alternativen Konferenz lautete „Amazonas: Zentrum der Welt“ und gilt der Botschaft: Will die Menschheit ernsthaft etwas gegen die Klimaerosion und den Kollaps natürlicher Lebenserhaltungssysteme tun, muss sie dem Schutz des größten Regenwaldes der Welt Priorität einräumen.Der Ort des Treffens wirkt wie ein Klassenzimmer mit einfacher Einrichtung – ein halbes Dutzend Holzbänke, vier Tische und eine Tafel –, der Lehrstoff dagegen ist auf dem allerneuesten Stand. Brasilianische Wissenschaftler berichteten über wegweisende Forschungen aus Anthropologie und Archäologie, um gängige Vorstellungen vom Amazonas als unbewohnter Wildnis, die von europäischen Kolonialisten und ihren Nachfahren zivilisiert wurde, auf den Kopf zu stellen. Als „Welt-Wald-Konferenz“ geplant, soll das Treffen verdeutlichen, dass der Regenwald wichtiger für das Überlebenssystem des Planeten ist, als die meisten begriffen haben, nicht allein wegen der enormen biologischen Vielfalt und der Absorption von Kohlendioxid, sondern auch als eines der bedeutendsten Kühlsysteme der Erde. Der brasilianische Amazonas-Experte Antonio Nobre spricht vom Herz der Welt. Die wichtigste Funktion des Waldes sei, Wasser – das Blut des Planeten – durch Flüsse und in Form von Dampf in den Wasserkreislauf der Erde zu pumpen. Das geschieht durch die Verdunstung von Wasser über die Blätter von Milliarden Pflanzen. „Wenn uns heiß ist, schwitzen wir. Auch der Wald tut das und schickt dabei jeden Tag 20 Milliarden Tonnen Wasserdampf in die Atmosphäre. Das trägt zur Kühlung der Erde bei“, sagte Nobre weiter.Im Regenwald zeigt sich die Natur in enormer Vielfalt, aber als Biotop ist er viel weniger wild als gemeinhin angenommen. Brasiliens führender Archäologe Eduardo Neves aus São Paulo präsentiert eine alte Keramikscherbe als Zeichen, dass der Wald in diesem Gebiet schon vor langer Zeit von Menschen kultiviert wurde.Die höchsten MordratenDer Amazonas-Regenwald besteht (noch) aus 360 Milliarden Bäumen. Etwa 16.000 Baumarten kommen vor (in den USA sind es nur mehr 72), aber die Hälfte der Bäume gehört zu nur etwas mehr als einem Prozent der Arten. Viele dieser sehr dominanten Gruppe sind Bäume, die von Menschen genutzt wurden, wie der Açai-Baum, eine der Hauptnahrungsquellen im Amazonas-Gebiet. Für Eduardo Neves kein Zufall: „Es zeigt, dass der Wald nicht nur Produkt von Naturkräften ist. Er wurde dank indigenem Wissen kultiviert.“ Und das bemerkenswert nachhaltig. Rund 10.000 Jahre lang rodeten die indigenen Bewohner weniger als 0,5 Prozent des Waldes, um Nutzbäume zu pflanzen, die Erde zu bereichern und die Biodiversität zu heben, so Neves. Die Bevölkerungszahl erreichte bis zum Eintreffen der spanischen Kolonialisten im 15. Jahrhundert mindestens acht Millionen. Die Europäer schleppten Krankheiten wie Malaria, Grippe und Masern ein, die – zusammen mit Sklaverei und Gewalt – 90 Prozent der indigenen Bevölkerung des Amazonas auslöschten.Heute ist jeder Tag ein Kampf in weiten Teilen des Waldes. Früher verfeindete indigene Gruppen schließen sich zusammen wie die Ribeirinhos und Quilombolas. Alle teilen die Furcht vor Übergriffen durch Unternehmen, Regierungsbehörden und Landräuber. Die Quilombola-Anführerin Maria do Socorro Silva aus Barcarena ist gegen eine Aluminiumoxid-Fabrik in norwegischer Hand. „Dieses Unternehmen hat alles zerstört, weil ein Fluss vergiftet wurde“, erklärte sie. Künftige Generationen würden tot geboren. Maria do Socorro Silva: „Wir essen unsere vergiftete Nahrung – aber wir verkaufen sie nicht.“Mehr noch als Rinderzucht und Sojaanbau ist illegale Landnahme zu Spekulationszwecken Grund für die Abholzung des Regenwaldes. Oft werden danach kaum zehn Prozent des gerodeten Landes wirklich genutzt, doch erhöht die Abholzung den Bodenwert um das 50- bis 100-Fache. Wenn so viel auf dem Spiel steht, wird jeder, der sich in den Weg stellt, zur Gefahr. Vielleicht sind deswegen nur diejenigen mit einer engen Bindung an ihr Land gewillt, ihr Leben zu riskieren.Der Soziologe Mauricio Torres hält es auf der Konferenz jedenfalls für keinen Zufall, dass die Abholzung vor den Grenzen indigener Gebiete und Nutzreservate haltmacht. „Nicht, weil der Staat diese Zonen schützt, sondern weil die Bewohner sie verteidigen. Daher haben wir dort auch die höchsten Mordraten“, sagt er in seinem Vortrag. „Diese Gebiete sind nur noch so schön, weil einheimische Flussanwohner erfolgreich dafür kämpfen. Ich untersuche das schon mein Leben lang und erkläre: Am besten lässt sich der Wald schützen, indem man die Familien unterstützt, die traditionell in ihm leben.“Um das zu erreichen, schlagen Konferenzteilnehmer einen internationalen Boykott für Produkte wie Soja vor, die – in der Amazonas-Region erzeugt – dieser schwer schaden. Stattdessen sollten einheimische Früchte wie die Açai-Beere und Cupuaçu gefördert werden. Das sollte sehr viel mehr ins Zentrum der Debatten bei UN-Klimagesprächen rücken. Wohl auch deshalb regt das Treffen in Manolito einige der europäischen Teilnehmer zum Umdenken an: „Die Menschen hier und der Regenwald hängen voneinander ab. Es stehen sich nicht auf der einen Seite der Mensch und auf der anderen die Natur gegenüber. Sie hängen voneinander ab – die wichtigste Erkenntnis, die ich mit nach Hause nehme. Das Problem sind nicht die Menschen, es ist das System“, so die Extinction-Rebellion-Aktivistin Alejandra Piazzola. Placeholder authorbio-1
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