Das Internet hat das Problem gelöst

Steve Albini Der Mann, der Nirvana produzierte und den Essay „The Problem with Music“ schrieb, hielt sich immer am Rand der Musik-Branche. Heute macht ihn Optimismus zum Außenseiter

In den Neunzigerjahren war Steve Albini eine Art Berufszyniker der Musikindustrie. Er tat damals, was er heute immer noch tut: selbst in Bands spielen (etwa bei Shellac) und die Musik anderer Bands produzieren. Wobei er sich selbst nicht Produzent, sondern Tonigenieur, „recording engineer“, nennt. Für seine Begriffe erfasst dieses Wort besser die technischen Fähigkeiten, die ein Produzent haben sollte, aber oft nicht hat. Er hat über 2000 Platten produziert, die meisten von Bands, deren Namen Sie wahrscheinlich nie gehört haben, aber auch welche von PJ Harvey, Joanna Newsom, den Pixies, Fugazi und eben Nirvana. Viele Musiker verehren ihn für seinen unabhängigen Geist und seine ganz eigene Auffassung von Produktion.

Gelegentlich schrieb Albini auch über das Musikgeschäft, eloquent und komisch, und ließ sich vor allem über dessen Ungerechtigkeiten aus. Kompakt zusammengefasst finden sich seine Thesen in dem berühmten Essay „The Problem with Music“ von 1993. Zum Einstieg entwirft er darin das denkwürdige Bild von Bands, die um die Wette durch einen Graben schwimmen, „gefüllt mit wässriger, faulender Scheiße“, denn jenseits des Grabens lockt der Vertrag bei einem großen Plattenlabel. Albini schildert, wie sich diese Bands rücksichtslos gegeneinander durchzusetzen versuchen, nur um am Ende gesagt zu bekommen: „Ich finde, ihr müsst euch noch ein bisschen weiterentwickeln. Schwimmt noch einmal durch den Graben, diesmal auf dem Rücken.“

Albini war 31, als er das schrieb, und hatte schon reichlich Erfahrung im Musikgeschäft angesammelt: als Musiker und Toningenieur, aber auch als leidenschaftlicher Fan und Evangelist für talentierte Kollegen. Sein Essay war dabei keine Breitseite gegen die Konzerne – er kam ohne hochtrabende Ideologie aus –, sondern warf Schlaglichter auf spezielle Missstände, anschaulich gemacht durch persönliche Erlebnisse. Die Industrie wurde damals noch von den großen Labels beherrscht und von aufgeblähten Mittelsmännern, die zumeist unterbezahlte Musiker ausbeuteten. Die Folge war ein ziemlich einförmiger Markt.

Gut zwanzig Jahre später hat sich das Panorama gründlich verändert. In seiner Rede auf der Konferenz „Face the Music“ letzten Samstag in Melbourne betonte Albini, er habe in den letzten beiden Jahrzehnten unablässig im Musikgeschäft gearbeitet und könne daher aus erster Hand über ihren Wandel sprechen. Als jemand, der heute so alt ist wie Albini es war, als er „The Problem with Music“ schrieb, bin ich es gewohnt, dass Gestalten aus seiner Generation von alten Zeiten schwärmen und die heutige Szene zum traurigen Überrest eines einst strahlenden Königreichs erklären. Also, was hat der große Grantler der Musikindustrie diesmal zu meckern?

Gar nichts, wie sich herausstellt. Denn Albinis Rebellion ist nie Selbstzweck gewesen. Und in diesen letzten zwanzig Jahren hat er moralische Standfestigkeit angesichts der digitalen Revolution bewiesen. Für ihn stand immer die Musik an erster Stelle, und das alte Paradigma, dominiert von Labels, Radiosendern und einer Handvoll megaerfolgreicher Musiker, erschien ihm untauglich für ein gesundes Ökosystem. Einer Fülle an Talenten blieb die tragfähige Karriere verwehrt; stattdessen wurden sie ausgebeutet von einer milliardenschweren Industrie, die Musik fast ohne eigenes Risiko verramschte und dafür mit Tantiemen geizte. 1993 konnte Albini noch nicht ahnen, wie das Internet die Musikwelt aus den Angeln heben würde. Es hat neue Lösungen geschaffen sowohl für die Probleme der Künstler (wie können wir Musik einfach und billig aufnehmen und vertreiben?) als auch der Fans (wie können wir Musik einfach und billig finden und hören?) – und dafür darf es gefeiert werden.

Auch der Frage nach dem Geldverdienen weicht Albini nicht aus. In seinem Essay von damals schlüsselte er lehrreich auf, wer und wofür in der Musikindustrie bezahlt wird. Heute, so sagt er, ermögliche das Internet den weitaus meisten Musikern mindestens ebenso hohe Einkünfte wie das alte System.

Albinis Rede, im kompletten Wortlaut auf der Homepage des Guardian nachzulesen, ist eine sehr lohnende Lektüre. So beschreibt er, wie die großen Label früher Werbegelder verschleuderten und damit Plattenläden, Radiosender und PR-Agenturen alimentierten, weil sie immer sicher sein konnten, das Geld auf Kosten ihrer Künstler wieder einzuspielen: „Es war, als würde dein Chef deinen Lohn nicht dir auszahlen, sondern ihn in deinem Namen an seine Freunde und Geschäftspartner verteilen. Für ihn waren es dieselben Nettokosten, zudem zeigten sich die Freunde und Geschäftspartner ihm noch gerne erkenntlich. Warum sollte er also zulassen, dass irgendwas von dem Geld am Ende bei dir landete?“

Aus der Perspektive von Albini und seiner Kohorte bienenfleißiger Indiebands – ganz zu schweigen von den vielen Musikern, die einen kurzen, aber meist wenig einträglichen Moment im Rampenlicht genießen durfen – eröffnet das Internet endlich handfeste Karrieremöglichkeiten. Mit seinem Faible für bunte Sprachbilder beschreibt Albini, wie das Netz für Musikliebhaber zu einem aus aller Welt bestückten Füllhorn geworden ist: „Stell dir eine Riesenhalle voller Fetische vor, wo alles versammelt ist, womit du gerne mal Sex hättest, egal wohin sich dein Geschmack entwickelt oder was für Geräte oder Kostüme dafür nötig wären. Und du könntest jederzeit hinein und könntest all das auf einer bequemen Matratze in Ruhe ausprobieren. So sieht heute für Musikfans das Internet aus. Plus Tribünen für die Claqueure.“

Jedem David Byrne und jeder Taylor Swift, die das neue Lohnmodell kritisieren, stehen Musiker wie etwa die Band Death aus Detroit entgegen, die eine Renaissance erleben, weil Musikbesessene alte Platten neu entdecken und sie im lauten, wimmelnden digitalen Dschungel anpreisen; oder die, wie die Australierin Courtney Barnett, ihre Songs und T-Shirts über die Plattform Bandcamp vertreiben und sich damit einen höheren Gewinnanteil sichern als bei jeder Plattenfirma.

Albini war immer schon ein Außenseiter, aber heute ist er es durch seinen Optimismus. Im letzten Drittel seiner einstündigen Rede demontiert er die oft gehörte Plattitüde: „Wir müssen herausfinden, wie sich dieser digitale Vertrieb für alle lohnen kann.“ Diese scheinbar harmlose Aussage, so erklärt er, enthalte als stillschweigende Voraussetzung „das Gerüst eines ausbeuterischen Systems, gegen das ich mich mein ganzes schöpferisches Leben hindurch aufgelehnt habe“.

Albini sieht das Internet als Weg in eine demokratische Utopie, in der wir ohne die fuchtelnden, korrupten Sachwalter einer verblassenden musikalischen Vergangenheit auskommen werden. Noch radikaler sind seine Vorstellungen im Bereich Copyright: Wir sollten gar nicht mehr versuchen, die Verbreitung unserer Werke zu kontrollieren, sobald sie einmal „freigelassen“ seien. „Freigelassen wie ein Vogel oder ein Furz“, sagt er: „Die Musik ist als atmosphärisches Element in unsere Umgebung eingetreten, wie der Wind, und in dieser Eigenschaft sollte sie keiner Kontrolle oder Kompensierung unterliegen.“

Im Unterschied zu fast allen anderen glaubt Albini, es habe nie einen besseren Moment gegeben als heute, um sich mit Musik zu beschäftigen, sei es als Fan oder als Künstler (mit Ausnahme vielleicht der Megastars): „Ich sehe mehr Bands und höre mehr Musik als je zuvor in meinem Leben. Es gibt mehr Konzerte, mehr verfügbare Songs als je zuvor. Die Bands werden respektvoller behandelt und haben größeren Einfluss denn je auf ihre eigene Karriere, auf ihr Schicksal. Ich sehe ihre Zukunft als eine Konstellation von Unternehmen: manche groß, die meisten klein, aber alle mit gesteigerten Erfolgschancen und in beispiellos unmittelbarem Kontakt mit ihrem Publikum. Das ist wirklich aufregend.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Michael Ebmeyer
Geschrieben von

Monica Tan | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

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