Das ist noch gar nichts

Motown Es begann in einer kleinen Garage und wurde zum Symbol eines neuen Selbstbewusstseins: Das Label Motown wird fünfzig

"Hier war's," sagt Smokey Robinson mit einem ungläubigen Achselzucken. "Wenn die Leute an unsere Musik denken, müssen sie an dieses großartige Aufnahmestudio denken, das immer voll war mit Leuten, die Musik machten und improvisierten. Dies ist eine umgebaute Werkstatt auf dem West Grand Boulevard in Detroit, Michigan. Detroit ist die Autostadt, ist 'Motor City', und das Haus, das auf den Namen Hitsville USA getauft wurde, ist der Geburtsort von Motown Records."

Es war im berühmten Studio A, wo Barret Strong in Motowns erstem Hit verkündete: Money (That's What I Want), wo Smokey Robinson seine Tears of a Clown vergoss und Diana Ross and the Supremes verlangten Stop! In the Name of Love. Es war in diesen vier Wänden, wo Stevie Wonder seine ersten Songs aufnahm, und Ende der 60iger fragte Marvin Gaye What's Going On?

Zwischen 1961 und 1971 hatte Motown 110 TopTen-Hits in den USA, mehr als die Hälfte von ihnen verkauften sich millionenfach und die meisten waren in dieser umgebauten Werkstatt aufgenommen worden, die gerade groß genug ist, um einen US-Straßenkreuzer zu beherbergen.

Ob es sich wirklich wie 50 Jahre anfühlt, frage ich. "Nein, mir kommt es wie gestern vor, dass alles begann. Als Berry Gordy zum ersten Mal dieses Haus sah und sich vorstellte, dass diese Werkstatt ein Studio sein könnte." Dies halbe Jahrhundert erzählt viele Geschichten von Liebe und Verlusten, den bemerkenswerten Traum eines Mannes, den einzigartigen Erfolg eines Labels und vom hoffnungslosen Verfall der Stadt, die einmal das Herz des amerikanischen Traumes war.

1913 begann Henry Ford mit der Fließbandarbeit in seiner Fabrik und in den 1920iger Jahren nannte man Detroit schon Motor City. Die Aussicht auf Arbeit in den Autofabriken machte Detroit zur beliebtesten Stadt für zugezogene schwarze Familien. Bald überstieg die Bevölkerung die Zweimillionengrenze und Detroit wurde die viertgrößte Stadt Amerikas. In den 1950iger Jahren wurden weltweit 80% aller Autos in Amerika, und die meisten davon in Detroit gebaut. Die Stadt war das Zentrum der Autoproduktion der USA und damit der ganzen Welt.

Nachdem der 1929 geborene Berry Gordy Jr die Highschool verlassen hatte, versuchte er sich als Profi-Boxer und kämpfte im Korea-Krieg. Zurück in Detroit heiratete er 1953 Thelma Gorman und beschloss, eine Karriere als Musiker zu verfolgen. 1984 erzählte Gordy in einem seiner seltenen Interviews, wie er zu dieser Entscheidung gekommen war: "Die jungen 23jährigen Boxer mit ihren zusammengeschlagenen Gesichtern sahen aus wie 50, während die Musiker, die tatsächlich 50 waren, wie 23 aussahen."

Nach der Pleite mit seinem ersten Musikprojekt, dem 3-D Record Mart Store, musste Gordy bei Ford am Band den Lincoln-Mercury zusammenbauen, um seine Familie zu ernähren. Nebenher schrieb er Lieder und so wurde er Jackie Wilson, dem Sänger von R'n'B vorgestellt, der Gordys Komposition Reet Petite aufnahm. Indessen wurde Gordy sich bewusst, dass die Plattenfirmen in Chicago und New York, die seine Musik verkauften, diejenigen waren, die wirklich das Geld verdienten.


Motown - Musik für alle

Eines Tages traf Gordy im Büro von Wilsons Manager die Matadors und deren Leadsänger: einen 16jährigen mit sprühenden grünen Augen, der sich William 'Smokey' Robinson nannte. Unter dem neuen Namen die Miracles veröffentlichten sie an Robinsons 18. Geburtstag ihre erste Single Got a Job, geschrieben und produziert von Gordy.

Gordy begann davon zu träumen, ein eigenes Label zu haben – ein Label, das - wie die Fließbänder bei Ford – einen Hit nach dem anderen produzierte – eine Hitfabrik. Schließlich war es Smokey, der Gordy dazu überredete, selbst ins Geschäft einzusteigen. "Die Miracles nahmen diese Platte, 'Way Over There', auf und ich sagte ihm: 'Wir sollten diese Platte für ganz Amerika machen. Uns bezahlt sowieso niemand, also ergreifen wir die Chance und machen es selbst.'"

Mit 800 geliehenen Dollar gründete Gordy Motown; Smokey erinnert sich an diesen Tag: "Er sagte: 'Wir werden keine Black Music und keine World Music machen, wir werden Musik für alle machen. Wir werden großartige Hits produzieren.' Und genau das taten wir." Obwohl es Gordys Ziel war, das Label über Detroit hinaus bekannt zumachen, wollte er, dass der Name seine Detroiter Herkunft verrät. "Detroit hieß 'The Motor City'", sagt Smokey. "Und so nannte Berry das Label 'Motown'".

Um sein Ziel, die 'Hit-Fabrik', zu realisieren, stellte Gordy verschiedene Songwriter an, unter ihnen Smokey selbst, den Gordy zum stellvertretenden Geschäftsführer ernannte. Die meisten der Platten wurden mit den gleichen Studiomusikern aufgenommen – eine Band, die als die Funk Brothers bekannt wurde. Diese Band soll in 14 Jahren mehr Nummer-Eins-Hits eingespielt haben als die Beach Boys, die Rolling Stones, Elvis und die Beatles zusammen. Gordy hatte nun tatsächlich die Hit-Fabrik, von der er geträumt hatte.

Obwohl Gordy, wie Suzanne Smith in ihrem 1999 erschienen Buch Dancing in the Street betont, sehr darauf bedacht war, dass sein Label nicht mit einer Bewegung oder Organisation in Verbindung gebracht werden konnte, die seinen kommerziellen Erfolg negativ hätte beeinflussen können, wurde das Label mit dem Erstarken der Bürgerrechtsbewegung zu einem sichtbaren Zeichen eines neuen, schwarzen Selbstbewusstseins. Denn, so Smith: "Sowohl die Musik Motowns als auch Gordys Geschäftsinn erwuchsen aus einer schwarzen städtischen Gemeinschaft, die ihre 'Politik' über kulturelle und ökonomische Bedeutung geltend machte."

Obwohl die Gefahr einer Politisierung für Motown bestand, wurde die erste Sprachschallplatte im August 1963 veröffentlicht: es war die Aufnahme von Martin Luther Kings Rede während des Großen Freiheitsmarschs im Juni des gleichen Jahres, die eine frühe Version seiner 'I have a dream'-Rede enthielt.

Die Platte wurde bewusst am 28. August veröffentlicht, dem Tag, an dem King auf dem Marsch auf Washington erschien. Gordy sprach davon, dass die Bürgerrechtsbewegung ihren historischen Platz neben der Amerikanischen Revolution erhalten werde und dass dieses Album von jedem amerikanischen Kind, ob schwarz oder weiß, gehört werden sollte.

"Für einen Schwarzen gab es in den 60iger Jahren in den USA keine Möglichkeit, nicht involviert zu sein", sagt Smokey, als ich ihn zur Bürgerrechtsbewegung befrage. "Wir haben alle Rassismus erfahren. Aber die Musik überwand dies. Als wir das erste Mal im Süden waren, lief eine Trennlinie durch das Publikum: die Weißen auf der einen, die Schwarzen auf der anderen Seite. Als unsere Musik zwei Jahre später bekannt geworden war und wir wieder an die gleichen Orte kamen, tanzten und sangen weiße und schwarze Kids zusammen. Die Musik überbrückt viele Gräben."

In den ersten Jahren war Motown eher eine Familie als eine Plattenfirma. "Wir sind immer noch wie Brüder und Schwestern, so wie es immer war," sagt Smokey: "Viele halten die Motown-Familie für einen Mythos, aber es war und ist kein Mythos." 'Duke' Fakir bestätigt das: "Als wir zum ersten Mal hier waren, haben wir sofort den Unterschied gespürt; wir waren ein Familie. In andere Aufnahmestudios bist du nur reingegangen, machtest deine Session und gingst wieder. Aber bei Motown konntest du mit den Supremes, den Temptations, den Miracles reden, hattest Spaß und das Gefühl, Teil von etwas zu sein." Die Four Tops sollten Motowns beständigste Band werden – sie spielten über vier Jahrzehnte in der gleichen Besetzung.


Himmel und Hölle

Das meiste, was Motown produziert hat, klingt heute noch aktuell, aber die Motor City selbst ist alt geworden. Schon in den frühen 60igern war die Stadt und ihre Autoindustrie im Niedergang begriffen. Als Detroit diesen hoffnungslosen Zeiten entgegenging, traf Gordy 1972 die Entscheidung, mit Motown an die Westküste zu ziehen, ein verheerender Schlag für das schon bröckelnde Selbstbewusstsein Detroits. Um zu expandieren und ins Unterhaltungsgeschäft einsteigen zu können, müsste Motown in LA sein, meinte Gordy.

"Ich war derjenige, der am meisten gegen den Umzug protestierte", betont Smokey. "Ich bin hier in Detroit geboren und Motown ist hier in Detroit geboren und das versuchte ich Berry zu erklären: 'Berry, dies sind unsere Wurzeln, wir haben hier angefangen'. Aber er sagte: 'Nun, du bist der Vize-Präsident der Firma, also nimm deine Familie, zieh um, du hast keine Wahl' und so ging ich also nach LA."

Nicht alle kamen mit. Verschiedene Künstler wie die Four Tops, Gladys Knight the Pips, Martha Reeves und die Funk Brothers blieben in Detroit oder verließen Motown aus anderen Gründen. "Es hinterließ in Detroit eine Lücke", sagt 'Duke' Fakir von den Four Tops. "Die Leute verstehen immer noch nicht, warum er wegzog. Er hätte Detroit nicht verlassen müssen, um ein Riese im Musikgeschäft zu werden."


Die Königin von Motown ist Martha Reeves. Wenn es ein Bild gibt, das für Motown steht, dann ist es jenes von Martha und den Vandellas, das am Fließband bei Ford gemacht wurde und auf dem sie zu Dancing in the Street auf dem Heck eines Mustang posiert. Reeves ist heute Stadträtin und wir treffen sie in ihrem Büro im Rathaus.

Als Motown Detroit verließ, ging Reeves bei dem Label MCA unter Vertrag und zog an die Westküste. Aber 14 Jahre nachdem sie weg war, entschied sie, dass Detroit die Stadt ist, in der sie leben wollte. Als Lokalpatriotin ist es ihr Ziel, Motowns Erbe in Beton zu gießen. Seit sie 2005 einen Sitz im Stadtrat errang, hat sie erfolgreich dafür gekämpft, den West Grand Boulevard in Berry Gordy Jr Boulevard umzubenennen und derzeit verfolgt sie das Ziel, die Helden von Motown als Statuen aufzstellen.

"Die Stadt hatte zu kämpfen, weil sie ausgestorben war," räumt sie ein, dann fügt sie zuversichtlich hinzu: "Aber wir arbeiten intensiv daran, die Stadt wieder in Schwung zu bringen und ich bin sicher, dass dies passieren wird."
Ich treffe Gloria Jones. Für ihren Song Tainted Love, der später von Soft Cell gecovert wurde, wurde sie zur 'Queen of Northern Soul' gekürt. Sie kam 1968 als Sängerin und Texterin zu Motown. "Bei Motown schrieben wir 10 Songs am Tag, und es waren gute Songs," erinnert sie sich, "Mr. Gordy verlangte, dass wir Marktgängiges schrieben. Das waren für ihn Songs, die jemand wie Frank Sinatra noch in 50 Jahren covern würde. Von diesem Rat profitiere ich noch immer: Ich erhalte immer noch Tantiemen für Songs, die ich vor 30 Jahren geschrieben habe."

Trotz der optimistischen Aussagen von Martha Reeves könnte Detroits Misere nicht trostloser sein: "Ich kann mir kein schlimmeres Szenario außer einem Krieg auf amerikanischem Boden vorstellen," sagt der ehemalige Wirtschaftsanalyst John Casesa. "Aber vielleicht wäre sogar das besser, denn dann würden wir Panzer aus Detroit benötigen."

Ich halte am Henry J Ford Museum, das den Lincoln beherbergt, in dem Präsident Kennedy erschossen wurde. Die Ausstellung zum goldenen Zeitalter des Autodesigns und des Amerikanischen Traums suggeriert, dass Detroit/Michigan sich als Mittelpunkt der Welt und Ort unbegrenzter Möglichkeiten verstanden haben muss. Der Vergleich mit der post-industriellen Geisterstadt Detroit könnte nicht gegensätzlicher ausfallen. Die Worte Marvin Gayes kommen mir in den Sinn: "Detroit erwies sich als Himmel, aber ebenso als Hölle."


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Viola Beckmann
Geschrieben von

Luke Bainbride, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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