Das Land der entsicherten Revolver

Libyen Die Wahlen am 7. Juli gelten einem zerfallenden Staat. Die Städte Bengasi, Misrata und Zintan gehen eigene Wege und wollen von Tripolis weitgehend unabhängig sein
Jubelfeier nach der Separatwahl in Bengasi
Jubelfeier nach der Separatwahl in Bengasi

Foto: Abdullah Doma / AFP / Getty Images

Am Stadttor wehen die Flaggen aller möglichen Nationen im strahlenden Sonnenschein. Das Portal ist aus Schiffscontainern gebaut und in den libyschen Nationalfarben bemalt. Ein uniformierter Milizionär überprüft meinen Pass und winkt mich mit einem Lächeln durch. Willkommen in der Republik Misrata!

Libyens drittgrößte Stadt, die im Vorjahr während des Aufstandes gegen das Regime Muammar al-Gaddafis fast sechs Monate unter Beschuss lag, hat sich zur „freien Kommune“ erklärt. Dass am 7. Juli mit einiger Verspätung landesweit Parlamentswahlen stattfinden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass von nationaler Einheit kaum mehr die Rede sein kann. Misrata hat sich von der Zentralregierung losgesagt, die man für undurchsichtig, diktatorisch und schwerfällig hält. Die Stadt mit langer Handelstradition geht lieber eigene Wege. Geschäfte und Restaurants werden in Ordnung gebracht, der Handel ist rege, und auf den mit Schlaglöchern übersäten Straßen herrscht so viel Verkehr, um von lautem Hupen begleitete Staus zu verursachen.

Qasr Ahmed, der größte Containerhafen des Landes, ist das Juwel in der Krone dieses Gemeinwesens. Mir wird eine Rundfahrt in einem Schleppkahn angeboten. Da sich die Hafenbehörde weigert, ohne Plazet der Zentralregierung ihrer Arbeit nachzugehen, herrscht Anarchie. Das heißt, an den Kais können die Frachter 24 Stunden lang be- und entladen werden.

Gaddafis Sohn

Im Februar hat Misrata eigene Wahlen abgehalten, die ersten in Libyen seit Jahrzehnten. Der daraus hervorgegangene Stadtrat ist damit beschäftigt, Polizei, Armee, Schul- und Gesundheitswesen zu reanimieren. Der Preis für diesen Hang zur Autarkie ist das Zerwürfnis mit der Regierung in Tripolis. „Wir wollen nicht unabhängig sein, wir wollen, dass Libyen so ist wie wir“, sagt Farouk Ben Amin, ein ehemaliger Rebell, der heute im Import-Geschäft der Familie arbeitet. Er hat seinen Bart abrasiert und ist überzeugt, zehn Jahre jünger auszusehen. Misrata stehe mit seiner Autonomie nicht allein, meint er, in allen ehemaligen Hochburgen des Aufruhrs wehe der Wind der Revolte, wenn nicht gar Revolution. „Sie alle gehen ihren eigenen Weg.“

Über 100 Meilen von Misrata entfernt, im kühlen Vorgebirge der Jabal-Nafusa-Berge, liegt die Metropole Zintan. Während des Krieges sorgten die Aufständischen dieser Stadt für die eine Hälfte der Zange, mit der Tripolis umschlossen wurde – die Rebellen aus Misrata stellten die andere. Die Einheiten aus Zintan strömten in den Westen der Hauptstadt, während die Formationen aus Misrata von Osten her eindrangen. Heute ist die Stimmung in beiden Städten von Misstrauen gegenüber dem in Tripolis sitzenden Nationalen Übergangsrat (NTC) und dessen Umgang mit der Milliarde Dollar geprägt, die das Land angesichts anziehender Ölpreise im Monat einnimmt.

Dieses Unbehagen führt auch dazu, dass man in Zintan die Meinung zur Auslieferung Saif al-Gaddafis, eines Sohnes des getöteten Diktators, geändert hat. Der Gefangene soll nicht an die Behörden in Tripolis übergeben werden, sondern weiter in einer zur Festung umgebauten Stadtvilla schmachten. „Es ist besser, ihm hier den Prozess zu machen. Die Regierung ist schwach und nicht in der Lage, das Land zu kontrollieren“, erklärt Attaher Eturki, der stets gut gelaunte Vorsitzende des Stadtparlaments, dessen Englisch Resultat eines Ingenieursstudiums in Leicester ist.

Außer Misrata und Zintan stellt Bengasi die größte Herausforderung für die Zentralregierung dar. Auch hier, quasi in der Wiege des Anti-Gaddafi-Aufstandes, gab es eigenständige Wahlen. Seither ist der Stadtrat dabei, sich unbegrenzte Machtbefugnisse anzueignen. Bengasi ist die Hauptstadt der Cyrenaica, neben Tripolitania und Fezzan die dritte Großregion Libyens. Viele Bewohner sind unglücklich darüber, dass der Provinz bei der Parlamentswahl am 7. Juli nur 60 der 200 Mandate in der Verfassunggebenden Versammlung zustehen. Ein selbst ernannter Rat von Barqa – dem arabischen Namen der Cyrenaica – verlangt einen Wahlboykott. Es sei denn, man bekäme eine größere Quote.

Die Leute wollten nicht die Unabhängigkeit von ihrem Land, sondern Demokratie, ist die Menschenrechtsaktivistin Hanna El Gallal überzeugt. „Wir sind Gaddafi losgeworden, nicht aber das Regime.“ Sie störe die Geheimnistuerei des Nationalen Übergangsrates, der zwar versprochen habe, demokratisch zu arbeiten, seine Meetings aber geheim halte und sich weigere, über alle Mitglieder öffentlich Auskunft zu geben. „Wir haben keine Revolution gemacht und unsere Leute sind nicht gestorben, um eine neue Diktatur zu bekommen.“

Wenn der NTC Dekrete verabschiedet, sind die Libyer regelmäßig entsetzt: Im Mai erließ er Gesetz Nr. 37, in dem es zum Straftatbestand erklärt wird, die „Revolution des 17. Februar“ zu kritisieren. Human Rights Watch hat in einem vernichtenden Bericht darauf hingewiesen, dieses Verdikt decke sich bis in die Formulierung hinein mit dem Verbot jeglicher Kritik unter Gaddafi. Als er kürzlich London besuchte, beharrte Premier Abdurrahim el-Keib darauf, dass das Gesetz bald wieder abgeschafft werde, konnte aber nicht erklären, warum es dann überhaupt beschlossen wurde.

Der Übergangsrat hatte im Vorjahr gleich nach dem Ausbruch des Aufstandes in Bengasi die Macht übernommen, angeführt von Mustafa Abdul Jalil, einem Juristen, der sich breiter Unterstützung erfreute. Jalil war 2010 als Justizminister zurückgetreten und hatte seine Demission im Fernsehen verkündet, was damals als unerhörter Vorgang galt. Heute sinkt Jalils Stern beständig. Die Libyer streiten sich darüber, ob er die Schwerfälligkeit des NTC zu verantworten hat oder einfach nur zu schwach ist, dies zu ändern.

Geheim gehalten

Kaum überraschend ist schon bald nach dem Sturz Gaddafis in Bengasi viel und wild über einen zweiten Aufstand geredet worden, für den man kein Gewehr, sondern die Wahlurne brauche. Im Eiltempo wurde ein neuer Stadtrat gewählt, als die Administration in Tripolis noch keinen Wahltermin nennen konnte. Die Menschenrechtlerin Hanna El Gallal glaubt dennoch, mit dem Votum am 7. Juli könne sich alles zum Guten wenden. Wenn nicht, dann werde Bengasi eben seine eigene Stadtverwaltung haben. „Wenn die Wahlen nicht regulär verlaufen oder angefochten werden, brauchen wir keinen Nationalkongress.“

Und dann sind da noch die Milizen, nirgends ist das Scheitern der Regierung offensichtlicher als bei den Sicherheitskräften. Die Entscheidung, die neue Nationalarmee mit Generälen aus der Zeit Gaddafis zu besetzen, hat dazu geführt, dass die Rebellen nicht in die Armee eingetreten sind. Stattdessen ist die innere Sicherheit einem landesweiten Polizeikorps anvertraut, dem 60.000 Mann starken Special Security Committee (SSC). Jüngst haben SSC-Verbände einen Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums gekidnappt und gefoltert. Der Übergangsrat wagte es nicht, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Die SSC-Kommandos wiederum überkommt große Angst, wenn sie im Osten Libyens gegen islamistische Einheiten vorgehen sollen, die britische Kriegsgräber aus dem Zweiten Weltkrieg verwüsten oder UN-Konvois mit Raketen angreifen. Es waren Milizen aus Tripolis, nicht des SSC, die jüngst die Kontrolle über den internationalen Flughafen wiedererlangt haben, nachdem er von Guerilleros aus Tarhuna gestürmt worden war, die sich für die Entführung ihres Kommandeurs rächen wollten.

Zwischen den plätschernden Fontänen des Luxushotels Rixos in Tripolis treffe ich den NTC-Angehörigen Musa al-Koni. Die Vorliebe von NTC-Funktionären hier auf Kosten der Steuerzahler abzusteigen, ist in den boomenden Medien ein Dauerthema. „Wir haben sehr viele Fehler gemacht“, meint Koni, bis zum Ausbruch der Unruhen im März 2011 Libyens Botschafter in Mali. Nachdem er aus Tripolis Order erhielt, Söldner für Gaddafis Armee zu werben, entschloss er sich, die Seiten zu wechseln. „Das Problem sind die alten Leute. Sie haben schon die Revolution in Tunesien und Ägypten gestohlen. Jetzt tun sie das Gleiche in Libyen.“ Kurz nach unserem Treffen erklärt Koni seinen Rücktritt.

Auf der Rückseite des Rixos ist eine Einheit ehemaliger Rebellen stationiert: Sie gehören zur Formation Libyan National Shield – einer losen Allianz von Milizen, die den Verteidigungsminister umgehen. Sie nehmen mich mit nach Bani Walid, einer widerständigen Stadt, deren Bevölkerung nach wie vor loyal zu Gaddafi steht. Als wir bei einem im Viertel Abu Salim gelegenen Hotel eintreffen, kommt es zu einem Wortwechsel mit Männern auf der anderen Straßenseite. Auch Abu Salim hat stets zu Gaddafi gehalten. Die Einheimischen schreien den Milizionären ins Gesicht, sie sollen verschwinden. Der Disput wird heftiger, die derart Attackierten schreien zurück: Sie kämen aus Tripolis und die Revolution sei sicher. Der Verkehr kommt zu Erliegen. Einige Milizionäre entsichern ihre Waffen. Ein großer, bärtiger Gardist in mittleren Jahren führt mich durch das Hotel an einen sicheren Ort.

„Ich will weg aus Libyen“, sagt er. Warum? „Diese Leute“ – er gestikuliert in Richtung Abu Salim – „sind arm. Gaddafi hatte all dieses Öl und gab ihnen nichts. Und dennoch lieben sie ihn.“

Unabhängig davon, wie die Wahlen ausgehen, werden die ehemaligen Rebellenhochburgen weiter eigene Wege gehen, was schlimmstenfalls zum erneuten Bürgerkrieg führen kann: „Wenn uns die neue Regierung nicht gefällt, wissen wir schließlich, wie man eine Revolution macht“, sagte mir ein Milizionär in Bengasi.

Chris Stephen ist Nahost-Reporter des Guardian

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Chris Stephen | The Guardian

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