Das Phänomen Khorasan

Syrien Die USA bekämpfen eine mysteriöse Gruppierung, deren Existenz allerdings von islamistischer Seite bestritten wird
Ausgabe 23/2015
Der Al-Nusra-Front (hier in Aleppo) werden enge Kontakte zu den Khorasan nachgesagt
Der Al-Nusra-Front (hier in Aleppo) werden enge Kontakte zu den Khorasan nachgesagt

Foto: Fadi al-Halabi/AFP/Getty Images

In der Provinz Idlib sind sie als „die Fremden mit den Pferden“ bekannt. Anführer der Al-Nusra-Front bezeichnen sie als „unsere Freunde“. In Europa und den USA werden sie Khorasan genannt und beschuldigt, Terrorpläne gegen den Westen zu schmieden. Einigkeit herrscht darüber, dass diese Formation in Nordsyrien zu den großen Rätseln des Bürgerkriegs zählt. Unlängst erst erklärte Al-Nusra-Kommandant Mohammed al-Jolani im Interview mit dem Fernsehsender Al Jazeera, es gebe gar keine Khorasan. Al-Nusra konzentriere lediglich im Auftrag der Al-Qaida-Führung seine Kampfkraft auf die syrischen Fronten.

Al-Jolanis Version wurde von westlichen Diplomaten ebenso wie von Einwohnern in Idlib umgehend zurückgewiesen. Auch haben sich vor Wochenfrist zwei führende Islamisten mit engen Bindungen zu al-Nusra völlig anders zu den Khorasan geäußert. „Bis vor kurzem“, so einer von ihnen, „wollten sie mit dem Krieg hier nichts zu schaffen haben. Sie wollten Syrien bloß als Basis nutzen für irgendwelche Dinge, die sie anderswo vorhatten. Aber das änderte sich. Am Angriff auf Idlib-Stadt waren sie maßgeblich beteiligt, sie unternahmen die meisten Vorstöße. Ohne sie wäre Idlib nicht gefallen.“ Es war das erste Mal, dass ein hochrangiger Vertreter der syrischen Opposition zugab, mit den Khorasan kooperiert zu haben. „Sie unterstehen direkt Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri.“

Zuvor hatten alle befragten Dschihadisten die Gruppe als unzugängliche Gemeinschaft geschildert, die stetig in Bewegung sei, um US-Luftschlägen auszuweichen. Als die Air Force im September 2014 eine Serie von Angriffen flog – vorgeblich gegen den Islamischen Staat (IS) – wurden tatsächlich Al-Nusra-Stellungen wie Positionen einer Dschihad-Gruppe namens Ahrar al-Scham bombardiert. Über 70 Milizionäre starben, und Washington stellte klar, man habe von den Khorasan gesteuerte Terrorzellen getroffen, die Anschläge außerhalb Syriens vorbereiteten. Sowohl al-Nusra als auch al-Scham bestritten jeden Kontakt zu den Khorasan und schworen den USA Rache. Die Beteuerungen, die Khorasan existierten gar nicht, lässt man wiederum in Washington nicht gelten: Seit über zwei Jahren schon, seit sich die Opposition im Norden Syriens radikalisiert habe, verfolge man den Aufstieg der Gruppe, heißt es. Und Einwohner von Idlib bestätigen das – die „Fremden mit den Pferden“ seien seit Anfang 2013 in der Gegend aktiv. „Sie kommen aus Usbekistan, Afghanistan oder Tadschikistan. Sie kleiden sich wie die Mudschaheddin von Osama bin Laden und schlafen neben ihren Pferden im Wald, großen, prächtigen Hengsten. Weder mit uns noch irgendwem sonst wollten sie etwas zu tun haben. Bekannt sind sie überall unter dem Namen Khorasan. Bis die Amerikaner anfingen, sie zu bombardieren, wussten wir nicht, was sie im Sinn hatten. Eigentlich wissen wir es bis heute nicht.“

Ein führender Dschihadist versichert, an der Spitze der Khorasan stehe Muhsin al-Fadhli, ein Al-Qaida-Veteran, der mit ein paar Männern rings um Aiman al-Sawahiri Anfang 2013 nach Syrien kam. Dieser al-Fadhli, so die US-Regierung, sei einer der wenigen Vertrauten Osama bin Ladens gewesen, die vorab in die Attentatspläne vom 11. September 2001 eingeweiht waren. Laut Pentagon wurde al-Fadhli bei einem Luftschlag letzten September getötet; später hieß es dann, er habe überlebt. Kritiker der US-Operationen gegen den IS im Irak und in Syrien verweisen darauf, dass die Khorasan erst seit den Luftschlägen überhaupt ein Thema seien – vermutlich nur ein Vorwand, um die Angriffe zu rechtfertigen.

Dem stehen wiederum die Aussagen syrischer Zivilisten entgegen, denen zufolge die Gruppe über das Jahr 2014 hinweg immer stärker wurde. „Die Amerikaner sind überall hinter ihnen her“, sagt ein Al-Nusra-Kämpfer in Idlib. „Dauernd wurden ihre Häuser gesprengt, doch gab es keine Syrer, die direkt für sie arbeiteten. Das taten nur dicke Fische von al-Qaida.“

Wenn Al-Nusra-Chef al-Jolani die Existenz der Khorasan leugnet, will er möglicherweise nur seine eigene Gruppe als eher umgängliche Variante des Dschihad erscheinen lassen, in Abgrenzung zur rasenden Brutalität des IS. Dagegen beharren westliche Offizielle darauf, dass die Khorasan auf der Liste der Bedrohungen für die USA und Europa weit oben stehen. Diese Dschihadisten seien präsenter denn je, nur wolle niemand über sie sprechen.

Martin Chulov ist Nahost-Kolumnist des Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Martin Chulov | The Guardian

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