Das Recht auf Vergeltung

Kroatien Eine bahnbrechende Erklärung zur Mitschuld des Landes am jugoslawischen Bürgerkrieg sorgt für so viel Entrüstung, dass sie zurückgezogen werden muss

Präsident Ivo Josipovic schien einen Bruch mit den nationalistischen Narrativen der Region zu signalisieren. Er gestand nicht nur ein, dass Kroatien vor fast 20 Jahren viel dafür getan habe, um Bosnien zu destabilisieren. Unerwartet zollte er auch den muslimischen Opfern des Ahmici-Massakers von 1993 Tribut, als über 100 Zivilisten durch bosnisch-kroatische Streitkräfte getötet wurden. War das der „Fortschritt“, wie ihn Josipovic 2009 im Wahlkampf versprochen hatte, als der erhoffte EU-Beitritt durch eine „neue historische Gerechtigkeit“ vorankommen sollte?

Während Josipovics Ahmici-Bekenntnisse in Bosnien und in der EU wohlwollend aufgenommen wurden, musste der Präsident wegen eines Sturms der Empörung im eigenen Land zurückrudern. Premier Jadranka Kosor behauptete sofort, Kroatien habe „nie einen Angriffs-, sondern einen Verteidigungskrieg geführt“. Ein Indiz dafür, wie sehr ein postjugoslawischer Staat zwischen alter und neuer Rhetorik gefangen sein kann. Josipovic beteuerte, er habe sich nicht für Kroatiens Rolle im Krieg entschuldigt, schließlich habe man unter dem Zusammenbruch Jugoslawiens schwer gelitten. Überraschend ist das kaum. In der Ära nach Franjo Tudman speist sich die Macht vieler Politiker in Zagreb weiter aus einer Rhetorik der Exklusion. Die Leiden der Gegenseite anzuerkennen, würde die Logik ihrer Macht beschädigen. Wer immer Kriegsgräuel einräumt wie jetzt Josipovic, hat sich des „nationalen Verrats“ schuldig gemacht.

Bosnien mauert

Aber nicht nur Kroatien, auch Serbien bleibt retrospektiver nationalistischer Rhetorik ergeben. Jüngst überraschte Belgrad mit einer Resolution, in der die Massenmorde von 1995 in Srebrenica verurteilt wurden. Die Erklärung scheint wichtig, weil Serbien seit Slobodan Milosevic jede Beteiligung am Krieg in Bosnien und jede Verantwortung für dieses Massaker strikt geleugnet hat. Dabei wurde der Kompromiss mit den überkommenen Narrativen auch im Srebrenica-Papier überdeutlich: Da sich die Verfasser viel Mühe gaben, das Wort Genozid zu vermeiden, wurde die Resolution in Bosnien als weiterer Affront gegenüber den Opfern gedeutet und als bedeutungslose Geste abgetan. Dass ein solches Dokument international begrüßt wird und dennoch den serbisch-bosnischen Beziehungen schadet, ist vielleicht nicht so widersprüchlich, wie es zunächst scheint. Zwar wirkt die Rhetorik Serbiens geläutert, doch bleibt es bei der Leugnung des Genozids.

Wenn Bosnien jetzt mauert, dürfte das auch mit der Festnahme von Ex-Außenminister Ejup Ganic Anfang März in London zu erklären sein. Dass Serbien dessen Auslieferung parallel zum Prozessauftakt gegen Radovan Karadzic forderte, sehen viele in Sarajevo als Zeichen dafür, dass es den Serben immer noch um Vergeltung geht.

Trotzdem ergibt sich Bosniens eigentliches Problem kaum aus Rückständen der alten Narrative in Kroatien und Serbien, sondern durch die eigenen fesselnden Existenzbedingungen: Dank seiner Verfassung – ein Überbleibsel des Dayton-Vertrags von 1995 – lebt das Land gewissermaßen im erstarrten Fegefeuer eines Friedensabkommens. Gemäß dieser Konstitution sind Rechte des Einzelnen den gemeinschaftlichen Rechten der „drei konstituierenden Völker“ – bosnische Kroaten, bosnische Serben und bosnische Muslime – untergeordnet. Regierungsämter sind Vertretern der „nationalen Gruppen“ vorbehalten. Fazit: Die Dayton-Verfassung hat das nationalistische Narrativ der Kriegsjahre extrahiert und verfestigt.

Dass nichts in Richtung einer stabilen bosnischen Identität unternommen wird, zeigt auch der Umstand, dass sich Staatsbürger offiziell als Zugehörige zu einer der drei konstituierenden Volksgruppen oder als ostali („Andere“) ausweisen müssen; wer einfach nur „bosnisch“ angibt, wird automatisch als ostali eingeordnet, was Diskriminierung in der Arbeitswelt nach sich zieht.

Auch die nächste Generation

Wer das als Bosnier vermeidet, findet sich mit einem Dilemma konfrontiert, da Parteien, die entlang ethnisch-religiöser Linien existieren, sowohl von der Verfassung als auch durch die Mentalität des Dayton-Abkommens begünstigt werden. Besonders krass wirkt sich dieses Fegefeuer auf die Bildung aus. In Geschichte, Religion und Sprachen werden die Kinder getrennt unterrichtet, so dass bei der nächsten Generation die unterschiedlichen Erzählungen garantiert verfestigt werden. Die Kinder lernen nicht, sich als Bosnier zu sehen, sondern als Teil einer „konstituierenden Nation“, die mit ihren Nachbarn nichts gemeinsam hat.

Bosniens nationalistische Rhetorik reagiert kaum auf die moderaten Töne aus der Nachbarschaft: Obwohl selbst Serbiens Präsident Tadic darauf besteht, dass die Republika Srpska ihr Schicksal als eine der zwei bosnischen Teilrepubliken akzeptiert – weil sonst seine Haltung gegenüber Kosovo unglaubwürdig würde – , signalisieren die Politiker der Republika weiterhin: Es liegt ihnen nicht viel an der Existenz dieser serbischen Entität innerhalb eines souveränen bosnischen Staates.

Angesichts dieses Klimas wirkte Josipovics Eingeständnis zur Rolle Kroatiens im Bürgerkrieg befreiend, war sein späterer Rückzieher um so enttäuschender. Eine Verbeugung vor nationalistischen Narrativen, die von politischen Eliten für politische Eliten geschaffen wurden und die nur denen dienen, die sie brauchen, um ihre Macht zu festigen.

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Heather McRobie | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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