Das Silicon Valley der Viren

Massentierhaltung Pandemien wie die jetzige sind Folge unseres Umgangs mit Tier- und Umwelt. Wenn wir daran nichts ändern, wird die nächste Katastrophe nicht lange auf sich warten lassen
Gerade in Geflügelgroßbetrieben werden am häufigsten Viren gefunden, die von einer nur bei Tieren vorkommenden Form in eine Form mutiert sind, die dem Menschen gefährlich werden kann
Gerade in Geflügelgroßbetrieben werden am häufigsten Viren gefunden, die von einer nur bei Tieren vorkommenden Form in eine Form mutiert sind, die dem Menschen gefährlich werden kann

Foto: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Es könnte sich falsch – oder total unmöglich – anhören, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als diese Pandemie erst einmal heil durchzustehen. Es ist absolut vernünftig zu argumentieren, wir sollten erst unsere Lehren ziehen, wenn wir die gegenwärtige Situation überstanden haben. Lehren für die Zukunft können unsere gegenwärtigen Nöte schließlich nicht lindern. Doch die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft, die die Gegenwart erst so schmerzhaft gemacht hat, ist genau der Grund dafür, warum manche Diskussionen nicht warten sollten. Das Leid, das wir durch unser jetziges Handeln verursachen, könnte noch um ein Vielfaches größer sein als jenes, das wir gegenwärtig durchmachen.

Stellen Sie sich vor, während Ihr Land Social Distancing praktiziert, werden in einem Nachbarland die Bürger*innen zu Zehntausenden in Turnhallen zusammengepfercht. Stellen Sie sich weiter vor, dieses Nachbarland führt zusätzlich genetische und pharmazeutische Eingriffe durch, die seinen Bürger*innen helfen, unter solch widrigen Bedingungen die Produktivität aufrechtzuerhalten, was allerdings den unglücklichen Nebeneffekt hat, dass Ihr Immunsystem zerstört wird. Um diese dystopische Vision schließlich zu vollenden: Stellen Sie sich vor, Ihre Nachbarn hätten gleichzeitig die Anzahl an Ärzten um ein Zehnfaches reduziert. Derartige Maßnahmen würden die Todeszahlen nicht nur in Ihrem Nachbarland, sondern auch bei Ihnen radikal erhöhen. Krankheitserreger respektieren keine Landesgrenzen. Sie sind weder spanisch noch chinesisch.

Krankheitserreger respektieren auch die Grenzen zwischen verschiedenen Arten nicht. Grippe- und Corona-Viren bewegen sich fließend zwischen Menschen- und Tierpopulationen, gerade so wie sie sich fließend zwischen Nationen bewegen. Bei Pandemien gibt es keine voneinander getrennte Tier- und Menschengesundheit – genauso wenig wie es eine koreanische und eine französische Gesundheit gibt. Social Distancing funktioniert nur, wenn es von allen praktiziert wird – Tiere mit eingeschlossen.

Eigentlich wissen wir das

Das Fleisch, das wir heute essen, kommt überwiegend von genetisch homogenen, immungeschwächten und permanent medikamentös behandelten Tieren, die zu Zehntausenden in Gebäuden oder übereinander gestapelten Käfigen untergebracht sind – ganz gleich, wie das Fleisch am Ende etikettiert ist. Wir wissen das. Und die meisten von uns würden sich sehr wünschen, es wäre anders. Aber es gibt viele Dinge in der Welt, die wir uns wünschen – die aber leider anders sind. Doch bei den meisten von uns dürfte die Zukunft der Nutztierhaltung auf ihrer Prioritätenliste ziemlich weit unten stehen, insbesondere in der gegenwärtigen Situation. Es ist verständlich, dass man in einer solchen Situation am meisten mit sich selbst beschäftigt ist. Das Problem besteht darin, dass wir keine sonderlich guten Egoisten sind.

Wir kennen noch nicht die gesamte Entstehungsgeschichte von Covid-19, dem Stamm des Coronavirus, der uns heute bedroht. Aber angesichts der jüngsten Gefahr durch Influenzaviren wie H1N1 (Schweinegrippe) oder H5N1 (Vogelgrippe) und pandemische Viren besteht kein Zweifel: Diese Viren sind in großen Hühner- und Schweinezuchtbetrieben entstanden. Genetische Analysen haben gezeigt, dass entscheidende Bestandteile von H1N1 aus einem Virus hervorgegangen sind, das in nordamerikanischen Schweinen zirkuliert. Aber es sind die kommerzielle Geflügelbetriebe, die das Silicon Valley der viralen Entwicklung zu sein scheinen.

Gerade in Geflügelgroßbetrieben haben wir am häufigsten Viren gefunden, die von einer nur bei Tieren vorkommenden Form in eine Form mutiert sind, die den Menschen schädigt (was Wissenschaftler als „Antigenshift“ bezeichnen). Es sind diese „neuartigen“ Viren, mit denen unser Immunsystem nicht vertraut ist und die sich als die tödlichsten erweisen können.

Von 16 Stämmen neuartiger Influenzaviren, die derzeit von der Centres for Disease Control and Prevention (CDC – eine Behörde des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums) als „besonders besorgniserregend“ eingestuft werden, darunter H5N1, stammen 11 von Viren des Typs H5 oder H7. Im Jahr 2018 analysierte eine Gruppe von Wissenschaftler*innen die 39 Antigenverschiebungen, auch „Konversionsereignisse“ genannt, von denen wir wissen, dass sie bei der Entstehung dieser besonders gefährlichen Stämme eine Schlüsselrolle spielten. Ihre Ergebnisse beweisen, dass „bis auf zwei alle diese Ereignisse in kommerziellen Geflügelproduktiosbetrieben gemeldet wurden“.

Niemand tut etwas gegen diese „Trainingslager“

Stellen Sie sich vor, unsere führenden Militärs würden uns mitteilen, dass sich fast alle Terroristen der jüngsten Vergangenheit im selben Trainingslager aufgehalten haben – aber kein Politiker würde eine Untersuchung dieses Trainingslagers fordern. Stellen Sie sich vor, wir wüssten, dass diese Terroristen Waffen entwickeln, die zerstörerischer sind als alle Waffen, die in der Geschichte der Menschheit eingesetzt oder getestet wurden. Das ist unsere Situation, wenn es um Pandemien und Landwirtschaft geht.

Die Abkürzung CDC steht in den USA für eine Behörde, deren Name eigentlich Centers for Disease Control and Prevention lautet. Wir lassen Prävention aus dem Akronym herausfallen, da es bereits unschuldig genug klingt. Aber wir neigen auch dazu, ernsthafte Diskussionen über Prävention zugunsten von reaktiven Strategien zu verwerfen. Das ist verständlich – vor allem mitten in einer Pandemie –, aber auf eine gefährliche Weise verantwortungslos. Wir sorgen uns um die Herstellung von Gesichtsmasken, kümmern uns aber offenbar nicht um die Betriebe, die Pandemien verursachen. Die Welt brennt und wir greifen nach immer neuen Feuerlöschern, während das Benzin den Zunder zu unseren Füßen durchtränkt.

Um das Risiko einer Pandemie für uns selbst zu verringern, muss sich unser Blick auf die Gesundheit der Tiere richten. Im Falle von Wildtierpopulationen, wie z. B. den Fledermäusen, die von Wissenschaftler*innen als wahrscheinlicher Entstehungsort von Covid-19 vermutet werden, scheint es die beste Lösung zu sein, die menschliche Interaktion mit ihnen einzuschränken und zu regulieren. Darüber ist zu Recht viel geschrieben worden, und langsam scheint sich die Politik hier in die richtige Richtung zu bewegen. Als sich herausstellte, dass sich eine Reihe von Menschen nach dem Besuch eines Nassmarkts in Wuhan, wo das Virus wahrscheinlich von Fledermäusen über einen Zwischenwirt auf den Menschen übertragen wurde, mit dem Virus infiziert hatte, schloss China 19.000 Wildtierzuchtbetriebe und verbot Fleisch von Wildtieren auf Nassmärkten.

Im Fall der Nutztiere hat das mangelnde öffentliche Verständnis jedoch skrupellosen Konzernen ermöglicht, die Politik genau in die falsche Richtung zu lenken. Überall auf der Welt ist es den Konzernen gelungen, für eine Politik zu sorgen, die öffentliche Mittel zur Förderung der industriellen Landwirtschaft einsetzt. Eine Studie legt nahe, dass die Öffentlichkeit eine Million Dollar pro Minute an globalen Agrarsubventionen zur Verfügung stellt, die überwiegend zur Stützung und Erweiterung des derzeitigen kaputten Modells verwendet werden. Dieselben 1 Million Dollar pro Minute, die die industrielle Landwirtschaft fördern, erhöhen auch das Pandemierisiko.

Sind wir in der Lage uns vorzustellen, welche Auswirkungen eine Sterberate von 60 Prozent hätte?

In den USA liegt die Sterblichkeitsrate von Covid-19 bei weniger als zwei Pozent, würde es sich aber z. B. um H5N1 handeln, läge sie weit höher – die CDC spricht von einer Sterblichkeitsrate von 60 Prozent. Nach einem sprunghaften Anstieg der Todesfälle durch H5N1 im Jahr 2017 hat die Ausbreitung des Virus aus noch unklaren Gründen nachgelassen. Können wir also beruhigt sein? Nancy Cox, die mehr als zwei Jahrzehnte lang die Influenza-Einsätze der CDC leitete, sagt dazu: „Wir wissen nicht, wie die Geschichte enden wird.“ Dass H5N1 keine pandemischen Ausmaße erreicht hat, bedeutet einfach, dass wir es mit einem Terroristen zu tun haben, der nur eine kleine Virusmutation davon entfernt ist, die Entsprechung zu einem Atomwaffenarsenal in die Finger zu bekommen.

Die Folgen einer Sterblichkeitsrate von ein bis zwei Prozent sind allgegenwärtig: Die Hälfte der Welt lebt unter Hausarrest, Kinder gehen nicht zur Schule, den Krankenhäusern gehen die lebensrettenden Geräte aus, wir stehen vor der finanziellen Depression einer Generation und die Trauerfeierlichkeiten, die es uns traditionell erlaubten, zumindest gemeinsam zu trauern, werden (zu Recht) verboten. Sind wir in der Lage uns vorzustellen, welche Auswirkungen eine Sterberate von 60 Prozent hätte? Das wäre ein Anstieg um das Dreißigffache gegenüber unserer gegenwärtigen Situation. Was wäre, wenn die nächste Pandemie Kinder nicht weitgehend verschonen würde? Die Sterblichkeitsrate von Kindern, die mit H5N1 infiziert sind, nähert sich 50 Prozent. Wie fühlt es sich an, wenn man sich vorstellt, dass ein Mensch, den man liebt, einen Münzwurf von einem schrecklichen Tod entfernt ist? Versuchen Sie sich vorzustellen, dass die Hälfte aller Ihnen bekannten Personen, die letztes Jahr die Grippe hatten, jetzt sterben würde. Wenn Sie Kinder haben, wie viele von ihnen hatten im letzten Jahr die Grippe? Zwingen Sie sich, sich diese Dinge vorzustellen, und fragen Sie sich dann: Wie viel wäre es wert, jetzt zu opfern, um das zu vermeiden?

Dies alles führt zu der wichtigsten Frage: Was können wir tun? Der Zusammenhang zwischen Massentierhaltung und zunehmendem Pandemierisiko ist wissenschaftlich gut belegt, aber der politische Wille, dieses Risiko einzudämmen, fehlte in der Vergangenheit. Jetzt ist es an der Zeit, diesen Willen entstehen zu lassen. Es ist sehr wichtig, dass wir darüber sprechen, unsere Sorgen mit unseren Freunden teilen, unseren Kindern diese Probleme erklären, gemeinsam darüber nachdenken, wie wir uns anders ernähren sollten, unsere politischen Führer auffordern und Lobbyorganisationen unterstützen, die gegen die Massentierhaltung kämpfen. Führende Politiker hören zu. Die Veränderung eines der mächtigsten Industriekomplexe der Welt – der Massentierhaltung – kann unmöglich leicht sein, aber in diesem Augenblick ist sie mit dem, was auf dem Spiel steht, vielleicht zum ersten Mal in unserem Leben möglich.

Die Tatsache, dass wir wissen, dass unser Ernährungssystem mitverantwortlich ist, kann uns Kraft geben. Wir wissen, wie wir den größten einzelnen Risikofaktor für Pandemien bekämpfen können. Wir wissen, wie wir uns und unsere Familien schützen können. Gerade die Unsicherheit, die uns Angst macht, erinnert uns auch daran, dass sich alles zum Besseren verändern kann. Zum Glück scheint Covid-19 unsere Kinder nur äußerst selten anzugreifen, und wenn wir klug genug reagieren, wird diese Zeit, die so sehr vom Tod geprägt ist, ihnen vielleicht auch als ein Wendepunkt in Erinnerung bleiben, als eine Zeit der Rechenschaft, des stillen Heldentums und, nach einiger Zeit, der Erneuerung.

Jonathan Safran Foer ist Schriftsteller. Sein jüngstes Buch trägt den Titel We Are the Weather: Die Rettung des Planeten beginnt beim Frühstück

Aaron S. Gross ist der Gründer von Farm Forward und außerordentlicher Professor an der Universität von San Diego

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Jonathan Safran Foer, Aaron S. Gross | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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