Das System hat versagt

Sexueller Missbrauch Jahrelang hat US-Sänger R. Kelly sein Verhalten kaum versteckt, nun wurde er verurteilt. Es wäre eher dazu gekommen, würde die Gesellschaft schwarze Frauen wertschätzen
R. Kelly im Gerichtssaal in Chicago, 2019
R. Kelly im Gerichtssaal in Chicago, 2019

Foto: Antionio Perez/Pool/Getty Images

Der R&B-Megastar R. Kelly ist wegen Entführung und sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochen worden und muss mit Jahrzehnten im Gefängnis rechnen. Im Laufe des sechswöchigen Prozesses machten mehrere von Kellys Opfern erschütternde Zeugenaussagen über den Missbrauch durch den Sänger, der bei vielen bereits begann, als sie noch Teenager waren.

Der Schuldspruch ist das bestmögliche Ergebnis in dieser schrecklichen Situation. Aber ich kann nicht anders, als an die anderen Erwachsenen zu denken, die diese schwarzen Mädchen und junge Frauen die ganze Zeit über im Stich gelassen haben. Außerdem kriege ich die Frage nicht aus dem Kopf, warum das Rechtssystem so lange dafür gebraucht hat.

Bereits zwei Jahrzehnte lang standen ernsthafte Vorwürfe wegen Missbrauchs und unangemessenem Kontakt mit Minderjährigen gegen den Grammy-Preisträger, dessen eigentlicher Name Robert Sylvester Kelly ist, im Raum. Warum hat niemand etwas getan? Die Antwort ist einfach und besteht aus zwei Punkten: erstens war Kelly ein Superstar; zweitens misst die Gesellschaft dem Leben schwarzer Mädchen und junger Frauen schlicht keinen Wert bei.

Warum schauten so viele weg?

Betrachtet man die Geschichte des Sängers genau, findet man ein Netzwerk von Helfer:innen, die es ihm ermöglichten, sein Verhalten ungestraft fortzusetzen und das Schweigen der Opfer sicherstellten. All diese Leute trugen dazu bei, Mädchen und jungen Frauen der Gnade eines Mannes ausliefern, der ein gewalttätiges sexuelles Raubtier war und von dem man bereits im Jahr 2000 – vor 21 Jahren – wusste, dass er „ein Problem“ mit jungen Mädchen hatte.

Ein früherer Tourmanager gab zu, durch Bestechung ermöglicht zu haben, dass Kelly die mittlerweile verstorbene R&B-Sängerin Aaliyah heiratete, als sie erst 15 und er 27 Jahre alt war. Auch hatte Kelly Assistent:innen, die „Flüge, Essen und Toilettenpausen für seine mitreisende Entourage junger Frauen organisierten“. Es gab also zahlreiche Erwachsene, die wegguckten oder bewusst Kellys Verhalten unterstützten – alles, weil die Gesellschaft schwarze Mädchen für wertlos hält.

Und dann ist da noch die Öffentlichkeit, die sich jahrelang weigerte einzugestehen, dass der Mann, den sie bewundert und der den Soundtrack zu einigen unserer liebsten Erinnerungen geliefert hat, tatsächlich ein Monster ist. Jahrzehntelang versteckte Kelly seine sexuellen Vergehen kaum vor der Öffentlichkeit. Er bezeichnete sich selbst als „Rattenfänger des R&B“ – eine gruselig offensichtliche Referenz zur Sage vom Rattenfänger von Hameln, der mit Hilfe seines Flötenspiels Kinder aus der Stadt hinter sich her lockte. Er verpackte sein Verlangen in hypersexualisierte Liedtexte und Auftritte. Unter anderem gab er einem Album den Titel Age Ain’t Nothing But A Number, deutsch: „Alter ist nur eine Zahl“.

Die Dokumentation Surviving R. Kelly (2019) ließ eine Bombe platzen. Unter anderem erinnerten sich frühere Einwohner:innen Chicagos daran, gesehen zu haben, wie Kelly an einer lokalen Highschool jungen Mädchen auflauerte. Trotz alledem war er in der Lage, Millionen von Dollar zu verdienen, Hits zu produzieren, die an die Spitze der Charts landeten, und eine der bekanntesten und meistverehrten Figuren der R&B-Geschichte zu werden.

Kein Sieg des Systems

Auch seitens des Justizsystems gab es wenig Unterstützung. 2008 wurde Kelly von Vorwürfen des Besitzes kinderpornographischer Bilder freigesprochen, obwohl es scheinbar überwältigende Videobeweise gab. Erst als 2017 der Musikjournalist der Chicago Sun-Times, Jim DeRogatis, die erste große Geschichte über Kelly im Jahr 2000 veröffentlichte, interessierte sich die Polizei erneut für den Sänger. Dieser Artikel und der aufwühlende Dokumentarfilm aus dem Jahr 2019 brachten Kellys Taten zurück ins Scheinwerferlicht.

Spult man vor zum Prozess im Jahr 2021, ist leicht zu erkennen, wie die Mechanismen, die Kellys Opfer so lange zum Schweigen brachten, selbst angesichts unwiderlegbarer Beweise weiter auf Zeit spielten. Kellys Rechtsanwalt Deveraux Cannick nannte die Opfer Lügnerinnen und bezeichnete eine der Frauen als „Mega-Prostituierte“ und „extreme Stalkerin“ Kellys. Diese Form der Schuldzuschreibung an die Opfer ist leider typisch, wenn es um schwarze weibliche Überlebende von sexuellem Missbrauch geht. Eins von vier schwarzen Mädchen in den USA wird sexuell missbraucht, bevor es 18 Jahre alt ist; und für jede schwarze Frau, die eine Vergewaltigung anzeigt, tun das mindestens fünfzehn schwarze Frauen nicht. Diese Zahlen sind das Produkt eines Systems, das schwarzen Frauen lange erzählt hat, dass sie die ihnen angetane Gewalt entweder verdienen oder nicht genug getan haben, um sie zu verhindern.

Ohne Zweifel ist Kellys Verurteilung ein großer Gewinn für seine Opfer, die viel zu lange schweigend gelitten haben. Aber für mich ist dieser Moment kein Sieg des Systems; im Gegenteil ist er als Anklage gegen ein System zu verstehen, das so lange gebraucht hat, um zu diesem Ergebnis zu kommen.

Schwarze Frauen hätten etwas Besseres verdient gehabt und haben es noch. Sie haben ein Recht auf eine Gesellschaft, die sie als schützenswert betrachtet.

Tayo Bero ist freie Kulturjournalistin und schreibt unter anderem für den britischen Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Tayo Bero | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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