Das System ins Herz treffen

Wohltäter Die Occupy-Bewegung hilft Betroffenen durch den Aufkauf von Privatschulden, sich von erdrückenden Verbindlichkeiten zu lösen
Occupy-Aktivisten haben sich der Schuldentilgung verschrieben
Occupy-Aktivisten haben sich der Schuldentilgung verschrieben

Foto: Spencer Platt / Getty Images

2.693 Menschen in verschiedenen Teilen der USA haben in den letzten Monaten einen Brief erhalten, in welchem eine Verschuldungssumme aufgeführt war. Weiter stand darin: „Sie sind nicht länger verpflichtet, diese Schuld gegenüber dem ursprünglichen Gläubiger, einem Schuldeneintreiber oder irgendjemandem sonst zu begleichen.“ Versendet wurden die Nachricht vom Projekt Rolling Jubilee. Die Non-Profit-Initiative kauft auf dem sekundären Schuldenmarkt Privatschulden auf, wo die normalerweise an Unternehmen verkauft werden, die sie dann wiederum an Inkassou-Unternehmen absetzen,. Die für nur ein paar Pennies pro Schuldendollar erstandene Schuld erlässt sie den Kreditnehmern dann einfach.

Als im Sommer 2011 die Occupy-Bewegung entstand, sagten deren Kritiker, sie sei zum Scheitern verurteilt, weil ihr klare Ziele fehlten – ein enormes Fehlurteil. Zwei Jahre später ist die Debatte um die Ethik des Konzernkapitalismus in seiner gegenwärtigen Form, um Spitzengehälter, das wachsende Wohlstandsgefälle und Steuervermeidung kein bisschen abgeflaut. Die „99 Prozent“ sind inzwischen Bestandteil des kollektiven Bewusstseins. All dies ist ganz erheblich dem Funken zu verdanken, den die Occupy-Bewegung gezündet hat.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der oft als wirr gescholtenen Aktivisten war, dass sie Gleichgesinnte zusammenbrachte und einen Dialog ermöglichte, der gemeinsame Themen zutage förderte. Daraus ist eine Reihe fokussierter Initiativen entstanden. Eine der wichtigsten ist die Gruppe Strike Dept. Dieser ist auch das Rolling Jubille Projekt zuzuordnen.

Die Idee lautet, dass Spenden von erlösten Schuldnern und Sympathisanten der Bewegung in einen Projektfonds einfließen und das Ganze so am „Rollen“ halten. Bislang sind so 600.000 Dollar zusammen gekommen. Mit 400.000 davon wurden Schuldenpakete im erstaunlichen Wert von 14,7 Millionen Dollar aufgekauft und getilgt. Vor allem handelte es sich dabei um Schulden, die sich aus den Kosten für medizinische Behandlungen ergaben. Diese Aktion trifft das System ins Herz – sie wendet dessen perverse Regeln gegen sich selbst und offenbart das illusorische und zirkuläre Wesen von Schulden.

Flüchtlinge des Schuldensystems

Um optimal operieren zu können, benötigt der Kapitalismus eine Schicht billiger, flexibler Arbeitskräfte. Es ist kein Zufall, dass es sich bei der erfolgreichsten Volkswirtschaft der Welt um einen autoritären, quasi-kommunistischen Staat handelt. Oft heißt es, die missliche Situation, in der wir uns befinden, sei nicht das Ergebnis krisenbedingter Haushaltsdisziplin, sondern von Maßnahmen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden sollen. Die große Lüge, mit der Thatcher und Reagan hausierten, lautete, wir alle könnten in einer neoliberalen Wirtschaft der Mittelschicht angehören. Das war einfach gelogen.

David Graeber, einer der ersten bei Occupy Wallstreet hat dazu geschrieben: "Uns fiel rasch ein Muster auf. Bei der überwältigenden Mehrheit der Occupier handelte es sich auf die eine oder andere Art um Flüchtlinge des US-Schuldensystems. Der Aufstieg von Occupy Wall Street ermöglichte uns, das System als das zu sehen, was es ist: Ein enormer Motor der Schuldenextrahierung. Über Schulden entziehen die Reichen dem Rest von uns den Wohlstand.“ Dem westlichen Kapitalismus gehen die Güter in Form von Leibeigenen, Kolonien, Immigranten, Kinderarbeitern und Frauen aus. Eine neue Unterschicht muss geschaffen werden und Schulden sind die Waffe der Wahl. Über 60 Prozent der Privatbankrotte in den USA gehen auf Rechnungen für Medikamente und medizinische Behandlungen zurück. Bei den amerikanischen Studenten liegt das Verschuldungsniveau inzwischen bei sage und schreibe 1,2 Billionen Dollar.

Aus diesem Grunde ist auch die Debatte um die durch die Hintertür stattfindende Privatisierung des Bildungs- und Gesundheitssektors von so großer Bedeutung. Wenn aus diesen beiden Schlüsselsektoren Gewinne gezogen werden sollen, wird damit der Gesellschaftsvertrag auf grundlegende Weise umgeschrieben. Die Idee lautet nun nicht mehr, der Staat solle dafür sorgen, dass seine Bürger eine Ausbildung erhalten und gesund bleiben, um dann ihren Teil zu leisten, indem sie arbeiten und Steuern zahlen. Geworden ist daraus: „Du leihst dir Geld von den privaten Partnern des Staates, um eine Ausbildung zu kriegen und gesund zu bleiben, damit du weiter deinen Beitrag zu ihren Gewinnen leisten kannst.“ Alle, die den 99 Prozent angehören, arbeiten auf sehr reale Weise für Finanzinstitutionen, die weitgehend unsichtbar und ganz gewiss nicht rechenschaftspflichtig sind.

Das Rolling Jubilee-Projekt stellt dem die brandheiße Frage entgegen: „Wenn ein Unternehmen bereit ist, für einen Dollar unserer Schulden fünf Cent zu akzeptieren – wenn dies also auf dem offenen Markt der Wert unserer Schulden ist – wie hoch sind unsere Schulden dann eigentlich wirklich?“

Wenn Ihr Instinkt Ihnen nun sagt, dass 15 Millionen Dollar nur ein unbedeutender Tropfen im Ozean sind, dann lautet meine Antwort: Nicht für die 2.693 Menschen, die jenen Brief bekommen haben.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Alex Andreou | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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