Ein paar Jahre vor dieser Pandemie nahm ich meine damals neun Monate alte Tochter mit auf ihren ersten Protestmarsch. Es war eine Palmsonntagsdemonstration für Geflüchtete. Der Zug begann auf den Stufen der Staatsbibliothek in Melbourne. Unser Kind, ein australischer Sonnenschein, geboren in Friedenszeiten, war in einer Babytrage an die Brust meines Mannes geschnallt. Sie gluckste und strampelte im Rhythmus der Glocken, Trommeln und Gesänge um sie herum.
Dann begann ein Sprechgesang: „Truppen raus aus dem Irak. Truppen raus aus Afghanistan.“ Ich war überrascht, aber es fühlte sich richtig an. Die Menschen um mich herum waren kämpferisch und hoffnungsvoll, ihre Stimmen melodisch. Ein Banner schwebte über uns: Juden, Muslime, Christen für Frieden. Der Tag fühlte sich an wie Hoffnung, Gesang und Harmonie. Alles gute Dinge.
Dieses Jahr im Juni, mitten in der Pandemie, verließen die australischen Streitkräfte Afghanistan, nach zwei Jahrzehnten. Ich denke an die hoffnungsvolle, fröhliche Zeit während der Melbourne-Demonstration zurück – und daran, wie dumm wir waren. Nicht so, denke ich. Die Truppen haben ihre Stützpunkte und das Land verlassen, wir hören Nachrichten über Explosionen, Mangel und Terror. Der Irrsinn regiert nun, in Form der Taliban, die sich erneut ihren Weg zur Macht bahnen.
Bunte Bomben
Ich bin Australierin. Mein Vater und meine Mutter sind es auch, obwohl sie einst Pässe besaßen, die sie als afghanische und srilankische Staatsangehörige auswiesen. Ich bin Australierin, denke ich, und doch schmerzt es sehr, wenn in einem Land, das so weit von hier entfernt ist, wieder Krieg ausbricht. Niemand sonst scheint überrascht zu sein, vielleicht weil es in Afghanistan seit über 40 Jahren Krieg gegeben hat. Man sagt, ein Teil von dir lebt an jedem Ort, an dem du gelebt hast, und ein Teil dieses Ortes lebt auch in dir. Aber was ist, wenn man nie an diesem vom Krieg zerrütteten Ort gelebt hat: Wie soll der dann in einem leben?
Wir wissen aus der Forschung, dass Traumata vererbbar sind, dass unsere Vorfahren ihre Geschichten in unsere Geschichten einschreiben: ihre Freuden, ihre Triumphe, aber auch ihre Sorgen, ihre Erschöpfung, ihre Gewalt, ihre Schlaflosigkeit, ihre Stimmungsschwankungen, ihre Paranoia. Wissenschaftler erforschen die epigenetischen Auswirkungen der Geschichte auf unseren Körper. Babys, deren Mütter einen Krieg oder eine Hungersnot erlebten, haben eine geringeres Geburtsgewicht – genau wie wiederum deren Babys –, und sie haben häufiger mit einer Reihe chronischer Krankheiten zu kämpfen. Gene werden durch unsere Erfahrungen und die Erfahrungen unserer Vorfahren an- und abgeschaltet. Geschichten, die wir noch nie gehört haben werden an uns weitergegeben, und zwar so, wie sich unsere Gene ausdrücken. Metaphysisch, physisch.
Einem Besuch in Kabul habe ich meine gesamte Kindheit über sowohl entgegengefiebert als ihn auch gefürchtet. Ich verstand, dass es zu gefährlich war: Afghanistan war kein Ort, den man einfach so besuchen konnte. Als kleines Kind bin ich während einer schlaflosen Nacht zwischen zwei Schultagen aus dem Bett ins Wohnzimmer geschlichen, wo meine Eltern fernsahen. Auf dem kleinen Kasten der Marke Toshiba flimmerten Bilder von Kindern in den braunen Trümmern eines afghanischen Dorfes, es war eine einstündige Dokumentation über Landminen. „Geh wieder ins Bett, Schatz“, murmelte meine Mutter. Ich ignorierte sie und kletterte in ihren Schoß. In Afghanistan, das habe ich in dieser Nacht gelernt, setzen die Russen farbenfrohe Bomben ein, die als Spielzeuge getarnt kleine Kinder wie mich zum Ziel haben.
„Ich will hier weg“
Viele Jahre nach dem Abzug der Sowjets, nachdem die Mudschaheddin Frieden geschlossen hatten und die Taliban unterdrückt worden sind, ging ich nach Kabul. Es war eine Zeit relativer Sicherheit, amerikanische Militärbasen waren in der ganzen Stadt verteilt. Bei meinem ersten Besuch war ich überwältigt und fühlte mich unwohl angesichts der Lebendigkeit, die mich umgab. Farben und Glitzer mischten sich mit Staub. Leben und Liebe und Musik und Tanz und Chaos und Familie und Geschichten und Hoffnungen und Träume und Cousinen und Tanten und Onkel und Nachbarn und Kinder, Leben, Leben, Leben. Bauen, Beten, Arbeiten, trotz der Narben auf ihren Gesichtern, trotz der Verbitterung und des Schmerzes, trotz der Trümmer der von Kugeln und Bomben zernarbten Häuser. Die Traurigkeit und Verzweiflung und das Patriarchat, vermischt mit Liebe und Wärme und Heimat, machten mich still.
Doch trotz der Freude und der Hoffnung hasste ich all das, weil ich nicht allein das Haus verlassen durfte. Eines Tages ging ich mit einer jüngeren Cousine auf dem Berg hinter ihrem Haus am Rande von Kabul spazieren. Sie war damals Jurastudentin an der Universität Kabul: „Als die Taliban hier waren, sind wir nicht zur Schule gegangen“, sagte sie finster. Dann verwandelte sich ihr Ärger in ein Grinsen: „War aber trotzdem ziemlich lustig. Wir haben über diesen Berg geherrscht.“ Sie bückte sich, hob einen Stein auf und warf ihn bergab. Dann warf sie mir eine goldglänzende Patronenhülse zu, die sie gefunden hatte.
„Die meiste Zeit durften wir nicht rausgehen. Manche Leute fühlen sich in Purdah immer noch sicherer.“ Sie zeigte auf eine Person in einem geisterhaften blauen Gewand, nicht weit entfernt von uns. Als wir am Kabristan (muslimischer Friedhof, Anm. d. Ü.) am Fuße des Felsberges vorbeikamen, weinte eine Familie an einem kleinen frischen Grab. Meine Cousine zog ihren locker drapierten Tschador über und murmelte ein Gebet. „Ich will hier weg“, brummte sie. Ein paar Wochen später gab ich leere Versprechen übers Kontakthalten und eine Rückkehr ab, war aber sehr dankbar, dass ich gehen konnte.
Es ist leicht, alles zu zerstören
Jetzt haben die amerikanischen und australischen Truppen Afghanistan verlassen, und die Gewalt nimmt wieder ab. Nur ein weiterer Höhepunkt in der gewalttätigen Geschichte dieses Landes, nehme ich an, auch wenn die Pandemie die Grenzen so eng wie nie zuvor gezogen hat. „Wohin können wir gehen?“, fragt mich ein afghanischer Kollege über Zoom. Es ist keine rhetorische Frage. Ein Cousin spricht über die besten Möglichkeiten, seine Familie außer Land zu schaffen. Ich mache mir Sorgen um ihre Erfolgschancen.
Ist Krieg notwendig, um Frieden zu schaffen? Ich kenne die Antwort nicht. Was ich weiß, ist, dass es leicht scheint, zu kämpfen – und dass es zu leicht ist, Gebäude zu bombardieren und sie ihn Stücke zu reißen. Es ist leicht, in einem einzigen gewaltvollen Moment, Kindern die Gliedmaßen mit einer Granate in Form einer Micky Maus abzusprengen. Es ist leicht, Kinder nicht mehr zur Schule gehen zu lassen, die Lebensmittelversorgung zu unterbrechen, Brücken und Straßen zu zerstören, Häuser und Familien. Es ist leicht, alle schönen Dinge des Lebens kaputt zu machen: Kindergärten, Nähschulen, Kleinunternehmen, Einrichtungen zur Unterstützung Behinderter, spirituelle Bewegungen, Frauentreffs, Kunstvereine, Musiktheater, Radiosender. Es dauert ein Leben lang, Orte des Friedens wieder aufzubauen. In der Zwischenzeit strömen die Vertriebenen in überfüllte, unterfinanzierte, „vorübergehende“ Zeltstädte.
Weniger als ein Prozent der Menschen in Flüchtlingslagern werden jemals wieder umsiedeln. Streng genommen war ich ein Flüchtlingskind, obwohl meine Eltern weder in einem Geflüchtetenlager lebten, noch an Grenzbeamten vorbeischlichen, noch auf der Suche nach Nahrung waren. Ich hatte Glück, denn ich kam auf dem „richtigen Weg“, mit Papieren, etwas Geld, einer Patenschaft und Unterlagen. Es ist mir peinlich zu sagen, dass ich ein staatenloses Kind war, weil es mir kein Trauma bereitet hat. Und vielleicht ist es mir auch peinlich, weil ich weiß, dass Geflüchtete in Australien als Schandfleck betrachtet werden.
In der Flucht liegt Verantwortung
Australien ist ein Land der Einwanderer. Die Hälfte meiner viktorianischen Mitbürger wurde entweder im Ausland geboren oder hat einen Elternteil, der dort geboren wurde. Viele Menschen um mich herum sehnen sich nach den Geschmäckern einer anderen Heimat, und doch bin ich zufrieden mit dem Essen, das mir meine Eltern zu kochen beigebracht haben. Der Basmatireis aus dem Supermarkt schmeckt anders als der Reis, der auf den Feldern Sri Lankas angebaut wird, und er riecht anders als der Reis, den meine Großmutter für meinen Vater gekocht hat. Ich bin nicht so verbunden wie sie: Die Kammern auf einer Seite des Herzens schlagen für ihr Heimatland und ihre Leute. Meine Eltern lebten zwischen zwei Welten, sie schickten immer Geld an ihre Familien, machten sich Sorgen um deren Gesundheit und Sicherheit. Im Überleben und in der Flucht liegen Schuld und Verantwortung.
Und trotzdem lebe ich im Schatten der Emigration, des Krieges und der Vertreibung. Auf irgendeine Art und Weise habe ich das Leid geerbt. In meinem Bewusstsein ist das Wissen verankert, dass die Welt vor Ungerechtigkeit brennt – Glück, nicht Verdienst, ist die Kraft, die uns bestimmt. Dass all die schöne Freiheit, die uns geschenkt wurde, prekär ist und wir sie nicht verschwenden dürfen. Oder vielleicht ist es unvermeidlich, dass wir sie verschwenden – dass wir sie schön, leichtfertig und ganz bewusst verschwenden –, aber wegwerfen dürfen wir sie nicht.
Aber wie beschützen wir sie? Als ich anfing, das hier zu schreiben, stürmten die Taliban Dörfer, Städte, Grenzübergänge. Nur Tage später erlangten sie die totale Kontrolle. Kindheiten, Freiheiten und Zukünfte werden weggeworfen.
Kommentare 27
Kann ein Ort in einem leben, an dem man nie gelebt hat?
*
Sicher kann er das. Fragen Sie mal deutsche Flüchtlingskinder, die sind da versiert. Deren Geschichten wollte nach 1945 nur niemand hören.
Danke für den treffenden Hinweis.
An deutschen Flüchtlingskindern haben sich Traumatisierungen früh gezeigt. Das öffentliche Bewusstsein in Deutschland wollte damals nur vergessen, vergessen, vergessen. Einen Neuanfang, ohne für das Alte Platz zu lassen. Damit wurden die Betroffenen alleine gelassen.
Von Nachkriegskindern ist mir ähnliches bekannt. Vielleicht in abgeschwächter Form.
Als jemand, der seit 2015 afghanische Nachbarn hat, bekomme ich bei deren in Deutschland geborenen Kindern die Folgen der geschilderten Traumatisierungen mit. Und stehe dem - trotz eines überaus freundlich-wohlwollenden Nachbarschaftsverhältnisses - hilflos gegenüber.
Die Frage, die mich in diesem Kontext umtreibt: darf ich meine Nachbarn darauf ansprechen, wenn sie selbst das Thema verschämt beschweigen???
Erwiderungen von Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, sind mir sehr willkommen. Belehrungen von Denkpolizisten weniger.
>> setzen die Russen farbenfrohe Bomben ein, die als Spielzeuge getarnt kleine Kinder wie mich zum Ziel haben.<<
Derlei & ähnliche Anwürfe werden immer wieder in westlicher Berichterstattung über Kriege (EX-Jugoslawien, Syrien etc.) erhoben. Die Sowjets haben keinen Krieg gegen Kinder geführt, sicherlich haben sie auch keine Minen in Form einer Micky Maus aus Hollywood eingesetzt. Bei aller Empathie ggü. Kriegsleidenden & deren Nachfahren (ich gehöre auch zu letzteren) halte ich Kriegspropaganda für kein adäquates Mittel, um für die eigene Verfasstheit zu sensibilisieren.
"Die Frage, die mich in diesem Kontext umtreibt: darf ich meine Nachbarn darauf ansprechen, wenn sie selbst das Thema verschämt beschweigen???"
Ich empfehle freundliche Nachbarschaftspflege. Und würde diese Menschen nicht auf ihr Trauma ansprechen. Sondern darauf vertrauen, daß irgendwann die Zeit kommt, wo die Bereitschaft des Betreffenden gereift ist, sich Ihnen vertrauensvoll zu öffnen ...,
... ist meine bescheidene Meinung bezüglich Erfahrungen über traumatisierte Menschen ...
... es grüsst aus der Rezatstadt ...
Danke für Ihre freundliche Erwiderung.
Die freundliche Nachbarschaftspflege dürfen Sie gerne als gegeben voraussetzen. Dass ich die Eltern nicht auf eigene Traumata anspreche, war für mich Gewissheit. Anders ist es in Sachen Kinder. (Vielleicht ist das Teil meiner eigenen beruflichen 'Deformierungen'.)
Meine Überlegungen dabei sind: Eltern sorgen sich um ihre Kinder. Dass ich über deren Trauma 'nebenbei' das eigene der Eltern anspreche, könnte das Reden vielleicht leichter machen. Muss es aber nicht.
Vielleicht nehme ich mal Kontakt mit Menschen auf, die mit Geflüchteten arbeiten. Die verfügen sicher auch über Erfahrungswerte ...
Frau Dr. Mariam Tokhi beschreibt hier trefflich wie sich Erlebnisse über Epigenetik auf die Nachkommen übertragen. Lange vermutet, kann man diese Prozesse in der Hirnforschung inzwischen belegen.
"Aber was ist, wenn man nie an diesem von Krieg zerrütteten Ort gelebt hat: wie soll der dann in einem Leben?"
Jener Ort des Schreckens wurde durch Epigenetik ins Unterbewusstsein der Kinder geschrieben und lebt dadurch weiter. Unsere Vorfahren schrieben ihre Geschichte in unsere hinein. Und wir geben sie an unsere Kinder weiter.
Danke für den interessanten wie aktuellen Beitrag
"Anders ist es in Sachen Kinder. (Vielleicht ist das Teil meiner eigenen beruflichen 'Deformierungen'.)"
Kinder verarbeiten Traumata insbesondere durchs Spielen. Und wenn sie merken dass man sich mit ihnen ernsthaft beschäftigt, gewinnen sie Vertrauen. Übers Malen können Kinder auch sehr gut ihr seelisches Befinden äußern. Hier kann schon ein Ansatz von Kommunikation gefunden werden. Darüber hinaus ist es gut - wenn Mann/Frau mit dem Kind Ausflüge unternimmt, ins Schwimmbad geht usw - überhaupt ist Vertrauensbildung das A und O. Es ist wichtig, das Kind nicht spüren zu lassen, das es besondere Aufmerksamkeit erhält und von daher ist regelmässiger Umgang mit gleichaltrigen Kids wesentlich.
In vielen Fällen wird man natürlich nicht um eine therapeuthische Maßnahme drumrumkommen.
LG ins Hessische
Deren Geschichten wollte nach 1945 nur niemand hören? In der Ostzone vielleicht. Im Westen haben die verrücktesten unter ihnen die Politik genauso vor sich hergetrieben wie heute die AfDen, für die die Vertriebenenverbände der zweite Flügel sind.
Sie tragen gerne Eulen nach Athen ... oder auch Mittelhessen?
Danke für Ihre fürsorglichen Ausführungen. Ich denke dann - obwohl ewiger Sozialfuzzy - soviel Verantwortung trage ich als Nachbar nicht, da etwas forcieren zu müssen. Immerhin wird die Familie betreut.
LG
^.^
"Danke für Ihre fürsorglichen Ausführungen. Ich denke dann - obwohl ewiger Sozialfuzzy - soviel Verantwortung trage ich als Nachbar nicht, da etwas forcieren zu müssen. Immerhin wird die Familie betreut."
Eine entspannte Sozialisation, eine gute Nachbarschaft ist die geeignete Umgebung für Kinder um gesund aufzuwachsen.
Sprichwort aus Afrika:
"Um ein Kind groß zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf"
Und durch die Augen des Kindes geblickt, sind Sie Teil des Dorfes.
LG
Ich kenne das zitierte Sprichwort und lasse mich immer wieder gerne davon berühren.
Wie auch durch die Augen des Nachbarjungen, der gestern an meiner Tür klopfte und mir eine feine Speise rüberbrachte. (Sein Vater kocht wunderbar.)
Mögen die neuen Fremden ein weiteres Stück Kultur bringen, die jenseits der digitalisierten westlichen Welt liegt. Teil des Dorfes bin ich in diesem Kontext gerne.
LG
»Frau Dr. Mariam Tokhi beschreibt hier trefflich wie sich Erlebnisse über Epigenetik auf die Nachkommen übertragen. Lange vermutet, kann man diese Prozesse in der Hirnforschung inzwischen belegen.«
Na, ja! Das mag ja sein. Doch vermag ich in diesem Beitrag das Trauma als solches, besser, dessen Auswirkungen, nicht zu erkennen.
Die Autorin schildert exemplarisch zwar ihre Geschichte, bleibt uns aber den klinischen Befund ihres eigenen Traumas schuldig (Im Fachjargon spricht man von Posttraumatischem Belastungssyndrom): Ist sie von typischen Erscheinungsformen geplagt – von Angstattacken resp. Panikstörungen, von Schlafstörungen, von (Flashbacks, Intrusionen), oft auch in Form von Alpträumen. – Traumata sind tiefgreifende Störungen. Und, was noch schlimmer ist: Sie prägen für den Rest des Lebens, geeignete Psychotherapie kann den Betroffenen bei der Bewältigung helfen.
Doch das, was sie hier darstellt, ist nicht spezifisch an ihr Thema gebunden, sondern gilt für alle erlittenen Traumata, da immergleiche psychische Extrem-Erlebnisse zugrunde liegen: Panische Angst, begleitet von Gefühlen, ausgeliefert und machtlos zu sein, Situationen massiver Hilflosigkeit und Verzweiflung, die noch Jahre später durch entsprechende Trigger ganz irrational immer wieder neu ausgelöst werden kann.
Zur Verdeutlichung nenne ich ein paar Verursachungsereignisse:
Vergewaltigung
Sexueller Missbrauch oder Misshandlung in der Kindheit
Verbrechen, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person
Krieg, Gefangenschaft, Geiselnahme, Folter
Terroranschläge
Naturkatastrophen
Schwerer Unfall
Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung
Doch letzten Endes ist es egal, ob Traumata geerbt oder aktuell erworben wurden: Sie sind für die Entwicklungen von Individuen immer hinderlich.
Was die Autorin ehrt, ist, dass sie sich um die Opfer von Barbaren kümmert. Schade, dass sie nur von den Opfern der Taliban spricht, nicht jedoch von den neoliberal/kapitalistische Barbaren.
Schade auch, dass Sie von Geflüchteten sprich, nicht von Verjagten, Ausgebombten.
Schön, dass wir hier schreiben konnten, ehe sich der Mehltau in seiner ganzen Schwere auch über dieses Thema gelegt hat.
Danke.
Weitgehend stimme ich mit Ihnen überein, bis auf:
"Schade auch, dass Sie von Geflüchteten spricht, nicht von Verjagten, Ausgebombten"
Aber Frau Dr. Mariam Dokhi schreibt doch:
"Ist Krieg notwendig, um Frieden zu schaffen? Ich kenne die Antwort nicht. Was ich weiß, ist, dass es leicht scheint, zu kämpfen – und dass es zu leicht ist, Gebäude zu bombardieren und sie ihn Stücke zu reißen. Es ist leicht, in einem einzigen gewaltvollen Moment, Kindern die Gliedmaßen mit einer Granate in Form einer Micky Maus abzusprengen. Es ist leicht, Kinder nicht mehr zur Schule gehen zu lassen, die Lebensmittelversorgung zu unterbrechen, Brücken und Straßen zu zerstören, Häuser und Familien. Es ist leicht, alle schönen Dinge des Lebens kaputt zu machen: Kindergärten, Nähschulen, Kleinunternehmen, Einrichtungen zur Unterstützung Behinderter, spirituelle Bewegungen, Frauentreffs, Kunstvereine, Musiktheater, Radiosender. Es dauert ein Leben lang, Orte des Friedens wieder aufzubauen. In der Zwischenzeit strömen die Vertriebenen in überfüllte, unterfinanzierte, „vorübergehende“ Zeltstädte.
Weniger als ein Prozent der Menschen in Flüchtlingslagern werden jemals wieder umsiedeln. Streng genommen war ich ein Flüchtlingskind, obwohl meine Eltern weder in einem Geflüchtetenlager lebten, noch an Grenzbeamten vorbeischlichen, noch auf der Suche nach Nahrung waren. Ich hatte Glück, denn ich kam auf dem „richtigen Weg“, mit Papieren, etwas Geld, einer Patenschaft und Unterlagen. Es ist mir peinlich zu sagen, dass ich ein staatenloses Kind war, weil es mir kein Trauma bereitet hat. Und vielleicht ist es mir auch peinlich, weil ich weiß, dass Geflüchtete in Australien als Schandfleck betrachtet werden."
Damit sind Aggressor sowie die Taliban als Gewalttäter gleichermaßen benannt, so verstehe ich zumindest Frau Dokhi`s Zeilen.
"Doch letzten Endes ist es egal, ob Traumata geerbt oder aktuell erworben wurden: Sie sind für die Entwicklungen von Individuen immer hinderlich."
So egal ist es dann doch nicht, ob Traumata vererbt oder direkt erworben wurde. Vielen von Depression, Ängsten oder Albträumen Geplagten wird erst in späten Jahren (ggfs. durch Zufall oder Psychotherapie) bewusst, das Sie unter vererbten Traumata leiden. Die Epigenetik und neuere Hirnforschung eröffnet auf diesem Feld gerade neue innovative Behandlungsmethoden. Mit der Diagnose kann der Therapeut beispielsweise über Gesprächstherapie gezielt auf Besserung hinwirken.
... und noch mal:
"Schade auch, dass sie von Geflüchteten spricht, nicht von Verjagten, Ausgebombten."
Frau Dr. Mariam Dokhi hält sich hier allgemein und ich ahne - werter @Flegel, Sie hätten es lieber, wenn Roß und Reiter als Verursacher dieses illegalen völkerrechtwidrigen Krieges deutlich benannt worden wäre.
Frau Dokhi vermeidet es, das Militärbündnis der Five Eyes in Verantwortung zu nehmen - und das ist aufgrund ihrer glücklichen Flucht in die neue Heimat dann doch menschlich nachvollziehbar.
Servus
Lieber Chuwawa, ich hatte beim Lesen des Textes meine Brille durchaus auf der Nase sitzen:
»Es war eine Palmsonntagsdemonstration für Geflüchtete«
»… obwohl meine Eltern weder in einem Geflüchtetenlager lebten,…«
»… weil ich weiß, dass Geflüchtete in Australien als Schandfleck betrachtet werden.«
»… ist Allgemeinmedizinerin und arbeitet bei einer australischen Geflüchtetenorganisation«
Ich plädiere dafür, diese Menschen nach den Ursachen und nicht nach dem Ergebnis zu bezeichnen, damit deutlich wird, was die Genese ihres Statusses ist: Ausgebombte, Vertriebene, Flüchtlinge.
…
»So egal ist es dann doch nicht, ob Traumata vererbt oder direkt erworben wurde.«
Nun lehnen Sie sich mal nicht so weit aus dem Fenster. Ihre nachfolgende Begründung trifft für geerbte UND erworbene Traumata zu. Selbiges gilt auch hinsichtlich Ihrer Ausführungen zur Therapie.
Ich bin übrigens vorsichtig bezüglich verschiedener Aussagen, was die neurophysiologischen Effekte angeht, die davon ausgehen, gekonnte Therapie scheine im Gehirn bestimmte Prozesse auszulösen.
Und noch ein letztes: »… ich ahne - werter @Flegel, Sie hätten es lieber, wenn Roß und Reiter als Verursacher dieses illegalen völkerrechtwidrigen Krieges deutlich benannt worden wäre.«
Wissen Sie – wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es auch genau so und nicht anders ausgedrückt. Das jedoch schien mir angesichts dieses traurigen Themas unangemessen – so, wie ich Ihre Unterstellung unangemessen finde.
Tatsche ist allerdings, dass nicht nur Bastarde der Taliban Traumata verursacht haben, sondern auch die Bastarde des neoliberal/kapitalistischen, supranationalen Angriffsbündnisses.
"Die Sowjets haben keinen Krieg gegen Kinder geführt, sicherlich haben sie auch keine Minen in Form einer Micky Maus aus Hollywood eingesetzt."
Ich glaube, die als Spielzeug getarnten Minen sind eine Propaganda-Erfindung, derer sich, wie ich nun annehmen muss, wohl beide Seiten im Kalten Krieg bedient haben. Ich erinnere mich nämlich, dass sie uns in der Schule in der DDR erzählt haben, die Amerikaner hätten so etwas in Vietnam gemacht.
Der Artikel ist so ein reiner Gefühlsausfluss, den man wohl nur zur Kenntnis nehmen aber wenig bis kaum etwas daraus diskutieren kann.
"- so wie ich Ihre Unterstellung unangemessen finde."
... Okay ...
goodn8
ich bin 79 seit 53 Jahren in D, in Europa von deutschen Eltern gezeugt, habe die D Staatsangehörigkeit und das Trauma nicht in Deutschland geboren worden bleibt einfach hängen, ich bin kein "Exilant" in dem Sinne, aber ich gehöre einfach nicht dazu, es wird mir einfach immer wieder zu verstehen gegeben, und bin nicht mal schwarz, gelb, rot oder so.... außer nach einem Sonnenbrand...Gruß an alle Menschen
danke
und wenn du dein Geburtsort zu früh verlassen musstest...
es ist ein Trauma, das bleibt...
https://www.aljazeera.com/news/2021/8/21/afghanistan-taliban-us-germany-security-threats-kabul-airport
Bereits mehrfach gesagt, will ich noch einmal unterstreichen:
Generell wichtiger als die Luftverbindung / der Flughafen Kabul ist die Sicherung der Landverbindungen. Vor allem nach Pakistan und in den Iran, im Süden des Landes.
Diese sind essentiell für die Bewohner/innen von Kabul und Kandahar.
Wenn diese Landverbindungen unterbrochen werden, wirkt das wie ein Schnellkochtopf mit einem verstopften Ventil.
Land- und luftgesicherte Strassen-Konvoys sollten in die Ueberlegungen miteinbezogen werden.
Wenn Sie an den BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) denken, stimme ich Ihnen zu. In dem Artikel geht es aber darum, ob man sich dem Ort seiner Herkunft verbunden fühlen kann, ohne ihn gesehen zu haben. Das kann man mühelos, wie ich zuverlässig weiß. Dass wir aus der Forschung um die Vererblichkeit von Traumata wissen, gilt ungeachtet der erfolgreichen deutschen Ostpolitik auch für die Nachkommen der aus den sog. Ostgebietenen vertriebenen Deutschen. Es war und ist aber weder schick noch politisch erwünscht, darüber zu reden und/oder zu schreiben.
PS: Der BHE ist m.W. Anfang der 60er Jahre "verschieden."
Die Frage, die mich in diesem Kontext umtreibt: darf ich meine Nachbarn darauf ansprechen, wenn sie selbst das Thema verschämt beschweigen???
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Das erfordert große Feinfühligkeit. Von mir aus würde ich, glaube ich, nicht damit anfangen. Meine verstorbene Frau stammte aus Schlesien, das sie aber schon als Fünfjährige verlassen musste. Ich habe ein paar Mal versucht, mit ihr über Schlesien zu sprechen, was sie immer abwehrte, weil es ihr zu nahe ging. Auch nachdem es möglich wurde, nach Polen zu reisen, konnte ich sie nicht dafür begeistern. Es war besser, nicht darüber zu sprechen, so leid ihr das, glaube ich, auch selbst tat. Sie konnte da ihre eigenen Gefühle nicht ertragen. Das hatte ich zu akzeptieren.
Mein Vater ist sofort hingefahren, hat sein Elternhaus gefunden, Freundschaft und Geschäfte mit den Eigentümern geschlossen und hatte fortan sein "eigenes" Zimmer und eigene Hausschlappen im Schuhschrank. 1993 ist er dann glücklich und zufrieden gestorben. In Polen wurde im Sonntagsgottesdienst seiner gedacht.