Das verschwundene Land

Großbritannien Nicht nur die 48 Prozent, die für „Bleiben“ gestimmt haben, sind von der Zäsur in Europa erschüttert. Sondern auch der Rest der Welt
Jungen Briten gehen lange für unrerschütterlich gehaltene Gewissheiten verloren
Jungen Briten gehen lange für unrerschütterlich gehaltene Gewissheiten verloren

Foto AFP Pool

Heute sind wir in einem anderen Land erwacht. Das Großbritannien, das bis zum 23. Juni 2016 existiert hat, gibt es nicht mehr. Für die Brexit-Verfechter und für die Wählermehrheit, die dafür stimmte, die Europäische Union zu verlassen, ist das ein Grund zum Feiern. Es sei unser „Unabhängigkeitstag“, werden sie nicht müde zu wiederholen. Von nun an, sagen sie, sei Großbritannien eine stolze, selbstbestimmte Nation, die sich von Brüssel nichts mehr vorschreiben lässt.

Für die 48 Prozent jedoch, die gegen den Brexit stimmten, und ebenso für den Großteil der zuschauenden Welt ist dieser Wandel Großbritanniens ein großer Kummer. Zum einen drängt nun die Frage über die künftige Gestalt dieses Landes. Schottland hat – wie auch London – für den Verbleib in der EU votiert. Und außer Ukip haben dazu auch alle britischen Parteien aufgerufen. Nun sieht sich Schottland gegen seinen kollektiven Willen aus der EU hinaus gezerrt.

Damit wird unweigerlich die Forderung laut, es solle seine Geschicke besser selbst in die Hand nehmen und aus Großbritannien austreten. Denn das Brexit-Votum bringt genau die „grundlegende Veränderung“ mit sich, die von der Scottish National Party (SNP) zum Anlass für ein weiteres schottisches Unabhängigkeitsreferendum erklärt wurde. Und diesmal dürfte, anders als 2014, eine Mehrheit für einen Austritt aus dem britischen Staatsverbund stimmen. Als Folge des 23. Juni ist also mit dem baldigen Zerbrechen des Vereinigten Königreichs zu rechnen.

Entsetzte Reaktion der Märkte

Auch für Nordirland sind die Konsequenzen gravierend. Die Wiederkehr einer „harten Grenze“ zwischen dem Norden und der Republik Irland bringt einen mühsam errungenen und heute allzu oft für selbstverständlich gehaltenen Frieden in Gefahr. Schon verkünden die irischen Nationalisten von Sinn Féin, die britische Regierung habe „jegliche Berechtigung verwirkt, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Menschen in Nordirland zu vertreten“.

Und damit enden die Brüche nicht. Auch England selbst zeigt sich als tief gespaltene Nation. London stimmte ebenso, wie Manchester, Liverpool, Leeds und Bristol das taten, für den Verbleib. Eine tiefe Kluft trennt Großstädte und Kleinstädte und mehr noch jene, die glauben, etwas zu verlieren zu haben, von jenen, die das nicht glauben. Gerade Letztere, größtenteils Bewohner der traditionellen Labour-Hochburgen, widersetzten sich dem Aufruf der Partei und stimmten für den Brexit. Der jetzt entstandene Riss wird die Politik der nächsten Jahre plagen. Die Zukunft von Labour steht und fällt damit, wie die Partei durch diesen Schlamassel navigiert – und nicht nur die Zukunft von Labour.

Auf das Brexit-Land kommen auch ökonomisch turbulente Zeiten zu. Die entsetzte Reaktion der weltweiten Märkte auf das Abstimmungsergebnis und der freie Fall des Pfunds bestätigen die Vorhersagen der vermeintlichen Angstmacher. Aber klar, die Prognose eines Absturzes in die Rezession kam von „Experten“ – und die Experten sind ja eine der Gruppen, der 52 Prozent der Wählerschaft gerade unbedingt einen Denkzettel verpassen wollten.

Einschneidend verändern dürfte sich mit diesem Tag nicht zuletzt das Image Britanniens in der Welt. Jahrzehntelang galten das Land als großartiges Ziel nicht nur für Investitionen, sondern auch, um hierher zu ziehen oder wenigstens auf Besuch zu kommen, denn wir waren faktisch das englischsprachige Eingangstor zu den 27 EU-Staaten. Wir konnte einen Das-beste-zweier-Welten-Status genießen. Wir standen den USA ebenso nahe wie dem europäischen Kontinent.

Verschroben und unbedeutend

Geografisch ändert sich daran nichts, psychologisch aber viel. Auf einmal ist es für internationale Konzerne nicht mehr sinnvoll, ihr Hauptquartier in London zu haben. Und warum sollte ein japanischer Autohersteller, der auf den EU-Markt abzielt, weiter eine Fabrik in England betreiben? Wer will noch kommen, wenn im Post-Brexit-Zustand wieder Zölle und Visumpflicht drohen?

Die Gefahr besteht, dass dieses abgekoppelte Land zu einer Kuriosität vor der Küste wird, so verschroben wie unbedeutend. Der Finanzplatz London wird den Einschnitt als erster spüren, wobei man gerade ihm vielleicht nicht viele Tränen nachweinen wird, auch wenn er zu den größten Arbeitgebern im Land zählt.

Doch mit der Zeit wird das neue Bild von Britannien auch unsere Kreativwirtschaft beeinträchtigen, den Tourismus und unsere Stellung in der Welt. All das wird nicht sofort geschehen, und wer weiß, vielleicht lassen sich die schlimmsten Folgen noch irgendwie abwenden. Doch wir sollten uns nichts vormachen: Dies ist nicht mehr das Land, in dem wir gestern noch lebten. Das Land, in dem wir gestern noch lebten, ist für immer verschwunden.

Jonathan Freedland ist Kolumnist des Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Jonathan Freedland | The Guardian

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