Das verzeiht die Opposition nie

USA Barack Obama gelingt mit der Gesundheitsreform ein Jahrhundertwerk, bei dem ein harter Konflikt mit den Republikanern wie demokratischen Dissidenten auszuhalten war

In den Annalen des amerikanischen Liberalismus gibt es nur ein paar wenige Daten, die so herausragend sind, dass allein die entsprechende Jahreszahl einen ganzen Sturzbach an Bildern und Assoziationen heraufbeschwört: 1933 die Anfänge des New Deal und die Geburt des modernen Liberalismus, 1964 der Civil Rights Act und 1965 Medicare, die staatliche Krankenversicherung für US-Bürger über 65.

2010 kann sich nun dank des knappen Abstimmungserfolgs im Repräsentantenhaus als das Jahr einreihen, in dem Amerika nach einem Jahrhundert der gescheiterten Anläufe endlich eine umfassende Gesundheitsreform verabschiedet hat. Eine enorme Errungenschaft. Die Geschichte dieses Jahrhunderts, in dem die Vereinigten Staaten immer wieder an einer solchen Reform scheiterten, hat einige weit verzweigte Handlungsstränge und viele Nebenschauplätze, doch im Kern ging es stets um den Konflikt zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen. Um die Frage, ob Amerika ein loser Verband von Individuen sein will, die partikulare Interessen verfolgen, oder etwas, das darüber hinausgeht; eine Gemeinschaft von Bürgern mit gemeinsamen Bindungen und Verpflichtungen.

Lobbyismus wie noch nie

Mir ist bewusst, dass ich sehr hochtrabend und philosophisch klinge, aber das lässt sich bei der Gesundheitsreform kaum vermeiden. Der Durchschnittsamerikaner mag sich denken: „Ich bin versichert, weshalb sollte ich mir Gedanken um die Verlierer machen, die sich nicht um eine Versicherung gekümmert haben?“ Wer hart arbeitet und trotzdem nicht im Geld badet, stellt diese Frage vielleicht nicht ganz unberechtigt. Es gibt eine einfache Antwort darauf: Langfristig gesehen wird die ganze Gesellschaft davon profitieren, wenn es eine gesetzliche Krankenversicherung gibt und den Versicherungsfirmen strengere Regeln auferlegt sind. Dann wird auch der Durchschnittsamerikaner von niedrigeren Beiträgen und einer besseren Versorgung profitieren.

Das Problem ist natürlich, dass die meisten Amerikaner nicht daran glauben. Gründe gibt es dafür viele, der entscheidende ist, dass äußerst einflussreiche Interessenverbände Unsummen darauf verwendet haben, um eine Mehrheit davon zu überzeugen, dass es verheerende Konsequenzen haben wird, wenn 32 Millionen ihrer Mitbürger (und wir sprechen hier nur über Mitbürger, nicht über illegale Einwanderer) auch in den Genuss einer Krankenversicherung kommen. 2009 haben Lobbygruppen 3,47 Milliarden Dollar darauf verwendet, ihren Einfluss im Kongress geltend zu machen – so viel wie nie zuvor. Ein großerr Teil dieses Geldes kam von Unternehmen und Verbänden, die das Gesetzesvorhaben kippen wollten oder die Absicht hatten, es so zu verbiegen, dass ihre finanziellen Interessen berücksichtigt werden.

Dass diese Gruppierungen jetzt eine Niederlage hinnehmen müssen, ist die Ausnahme für die amerikanische Geschichte. Und es war nicht leicht, dafür zu sorgen, dass es dazu kam. Am Ende haben die Demokraten zum richtigen Zeitpunkt den Karren aus dem Dreck gezogen, auch wenn sie sich während der Debatte bisher zum Teil verabscheuenswürdig verhalten haben. Dutzende von Demokraten – größtenteils gemäßigte, aber auch ein paar Parteilinke – verhielten sich wie kleinstädtische Gemeinderäte, die das beste für ihre Kommune herausschlagen wollen, anstatt wie Gesetzesgeber, denen eine der bedeutsamsten Abstimmungen der jüngsten US-Geschichte bevorsteht. Und während es sicherlich stimmt, dass für einige Abgeordnete ihr „Yea“ riskant war, und es manche vielleicht sogar ihr Mandat kosten wird, so ist das noch lange keine Rechtfertigung dafür, wie sie sich seit Wochen geziert und produziert haben. Stattdessen hätten sie die Reform unterstützen können und sollen.

Verluste programmiert

Manchmal ging das Ganze so weit, dass man sich fragte, weshalb einige dieser Politiker überhaupt Demokraten geworden sind. Als Barack Obama am Samstag zu den Kongressabgeordneten seiner Partei sprach, rief er ihnen diesen Umstand in Erinnerung. Seine Argumentation war dabei nicht weniger philosophisch als die meine: „Etwas hat euch dazu inspiriert, euch einzumischen. Und es gibt etwas, das euch dazu inspiriert hat, als Demokraten und nicht als Republikaner anzutreten. Tief in eurem Herzen habt ihr euch gesagt: Ich glaube an ein Amerika, in dem nicht jeder nur nach sich selbst schaut. Wir denken an das Gemeinwohl, und wir sind bereit, uns um andere zu kümmern. Wir sind bereit, den Schwachen und all jenen, die viel Pech im Leben hatten, zu helfen, ihnen den Weg zum Erfolg zu ebnen und ihnen eine Hilfestellung zu geben, damit sie den Aufstieg in die Mittelklasse schaffen. Deshalb seid ihr angetreten.“

Nun haben sie ihre Wahl getroffen und werden sie verteidigen müssen. Die Opposition wird keine Gnade kennen. Es kann sein, dass die Demokraten in der nächsten Wahlperiode empfindliche Verluste einstecken müssen. Für einige Bürger wird es zunächst nicht einfach sein, dem ab 2014 gesetzlich vorgeschriebenen Erwerb einer Versicherung nachzukommen.

Übersetzung: Christine Käppeler

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Geschrieben von

Michael Tomasky | The Guardian

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