Carren Strock machte die Entdeckung mit 44 Jahren. Sie hatte ihren Ehemann, „einen fantastischen Kerl“, mit 16 kennengelernt. Sie war seit 25 Jahren mit ihm verheiratet, hatte zwei Kinder, die sie über alles liebte, und führte ein Bilderbuchleben in New York. Doch eines Tages saß sie ihrer besten Freundin gegenüber und erkannte: „Mein Gott, ich bin in diese Frau verliebt.“ Der Gedanke, sie könnte lesbisch sein, war ihr nie gekommen. „Hätten Sie mich ein Jahr zuvor gefragt, dann hätte ich geantwortet: ‚Ich weiß sehr genau, wer und was ich bin. Ich bin keine Lesbe. Niemals.‘“
Nun aber wusste sie nichts mehr. Zunächst sei sie unsicher gewesen, ob sie sich zu Frauen allgemein hingezogen fühlte oder nur zu dieser besonderen, erzählt sie. Doch dann erkannte und akzeptierte sie nach und nach, dass sie lesbisch war. Und sie stellte fest, dass ihre Erfahrung keineswegs ungewöhnlich war. Strock entschied, andere verheiratete Frauen, die sich in Frauen verliebt hatten, zu befragen. Sie legte Flyer in Theatern und Buchläden aus. „Frauen aus dem ganzen Land traten mit mir in Kontakt – jede kannte eine, die eine kannte, die in derselben Situation war.“ Aus den Interviews entstand das Buch Married Women Who Love Women. Für die zweite Auflage nutzte Strock dann auch das Internet zur Recherche. „Innerhalb weniger Tage hatten mich so viele Frauen kontaktiert, dass ich bei weitem nicht mit allen sprechen konnte.“
Späte Lesben – Frauen, die jenseits der 30 Gefühle für das gleiche Geschlecht entdecken oder aussprechen – sind mit den Outings einiger Prominenter in den vergangenen Jahren ins Blickfeld gerückt. Cynthia Nixon zum Beispiel, die in Sex and the City die Miranda spielt, lebte 15 Jahre lang mit einem Mann zusammen und bekam zwei Kinder, bevor sie sich 2004 in Christine Marinoni verliebte. Die Schauspielerin Portia de Rossi war mit einem Mann verheiratet, bevor sie sich in die Komikerin und Talkshow-Moderatorin Ellen DeGeneres verliebte, die sie 2008 heiratete.
Die konkrete Frau
Auch die Wissenschaft hat sich des Themas angenommen. Zunehmend diskutiert wird, ob Frauen, die erst spät ihr Coming-Out haben, schon immer lesbisch oder bisexuell waren und ihre Gefühle nur versteckten. Oder ob sich ihre sexuelle Orientierung möglicherweise verändert. Christian Moran, die auf einer Konferenz der American Psychological Association eine Studie dazu vorstellte, verweist auf die Möglichkeit, dass „eine heterosexuelle Frau sich zu einer eindeutig homosexuellen Frau entwickeln kann“. Und dass die Sexualität wechselhafter ist, als oft angenommen wird.
Lisa Diamond, Privatdozentin für Psychologie und Gender Studies an der Universität Utah, die in einer Langzeitstudie die Veränderungen sexueller Identitäten von Frauen untersuchte, weiß zwar von Frauen, die erst spät eine vorher unterdrückte lesbische Identität akzeptiert hätten, doch auch von anderen Fällen: „Ich habe entdeckt, dass Frauen, die andere Frauen immer als attraktiv empfunden haben, sich oft zu einem späteren Zeitpunkt im Leben in eine Frau verlieben. Es ist nicht so, dass sie vorher ihr wahres Ich unterdrückt hätten. Doch ohne eine konkrete Frau waren diese kleinen Funken gelegentlicher Fantasien oder Gefühle vorher einfach nicht so wichtig.“
Die frühere Lehrerin Sarah Spelling kann gut verstehen, wie „man in eine andere Identität hineinrutschen oder schlüpfen kann“. Sie lernte ihren ersten Partner an der Universität kennen, war mit ihm 12 Jahre zusammen. Sexuell sei es immer gut gelaufen, sagt sie, auch wenn sie durch Penetration nie zum Höhepunkt gekommen sei.
Spelling ist Feministin und Sportlerin, Lesben waren nichts Außergewöhnliches in ihrem Freundeskreis. Doch sie selbst, sagt sie, sei eindeutig eine heterosexuelle Frau in einer langjährigen Beziehung gewesen. Als eine Freundin aus ihrem Hockeyteam ihr eröffnete, dass sie sich in sie verliebt habe und vermute, Spelling würde ihre Gefühle erwidern, „habe ich gesagt: ‚Nein, das bin nicht ich!‘ Ich hatte das überhaupt nicht auf dem Radar.“ Erst mit 34, inzwischen von ihrem Partner getrennt und mit einem anderen Mann liiert, verliebte sie sich in eine Frau. Sie führten lange Gespräche und zauderten ein Jahr, bevor sie eine Beziehung begannen. Noch länger dauerte es, bis Spelling ihre lesbische Identität voll annahm. Sie habe sich anfangs weder als homo- noch als heterosexuell definieren wollen. „Bisexuell entsprach mir ebenso wenig.“ Heute aber sagt sie: „Wir sind seit 23 Jahren zusammen. Ich denke, es ist eindeutig, dass eine einschneidende Veränderung stattgefunden hat.“
Ohne Kontrolle
Lisa Diamond vermutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand über sexuelle Grenzen bewegt, mit dem Alter zunimmt. „Ich glaube, dass viele Frauen spät im Leben, wenn sie ihre Kinder großgezogen haben und auf ihre Ehe zurückblicken, eine Möglichkeit finden, sich noch einmal neu zu überlegen, was sie möchten und wie sie sich fühlen.“ Diamonds Arbeit ist in den USA von Vertretern rechter Fraktionen oft verzerrt dargestellt worden; sie wurde als Beleg dafür missbraucht, dass Homosexualität optional sei. Sie weist den Gedanken zurück: „Alle Frauen, die ich untersucht habe, erlebten diese Veränderung in ihrem Leben als etwas, das sich ihrer Kontrolle entzog. Es war keine bewusste Entscheidung.“
So erlebte es auch Laura Manning aus London, die heute Ende vierzig ist. Sie hatte immer eine vage Ahnung, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlen könnte, doch auf der Universität traf sie Jeff: „Er war ein äußerst einfühlsamer Mann. Ich verliebte mich in ihn, und das reichte lange aus, um meine Gefühle im Gleichgewicht zu halten.“ Sie heiratete ihn mit Ende zwanzig, mit Anfang dreißig bekam sie zwei Kinder. „Nachdem ich meine Aufgabe als Mutter erfüllt hatte, begann ich neu über mich nachzudenken. Ich fühlte mich mit dem Bild, das ich darstellte, nicht mehr wohl, ich empfand es als falsch.“ Also zog sie mit Ende dreißig nachts durch Clubs, „morgens um vier kam ich nach Hause, dann stand ich auf und ging zur Arbeit. Ich lebte noch immer mit Jeff zusammen, begann aber, unsere Beziehung abzublocken. Er wusste, dass ich ihn von mir stieß.“
Die Ehe endete. Manning zog aus. Seitdem führte sie zwei feste Beziehungen mit Frauen, und sie sagt, seit ihrem Outing sei sie glücklicher. Sie vermutet, ihr biologischer Drang, Kinder zu bekommen, und ihre aufrichtigen Gefühle für Jeff hätten einst unweigerlich in die Ehe geführt. „Heute finde ich den Gedanken, mit einem Mann zu schlafen, abstoßend.“ Damals sei das anders gewesen: „Ich hatte nicht das Gefühl, etwas zu unterdrücken.“ Ihre Gefühle in der Beziehung mit Jeff hätten ihr „Verlangen nach Frauen überlagert.“
Die sexuelle Orientierung kann sich grundsätzlich auch bei Männern ändern, doch es wird angenommen, dass Frauen in dieser Hinsicht möglicherweise offener und formbarer sind. „Während die meisten Männer dazu tendieren, ein ‚bevorzugtes‘ und ein ‚nicht-bevorzugtes‘ Geschlecht zu haben, gibt es bei Frauen feinere Abstufungen“, sagt der Psychologie-Professor Richard Lippa von der California State University, Fullerton. Man könne eher davon sprechen, dass Frauen ein Geschlecht mehr und das andere weniger bevorzugen.
Die Zukunft ist dynamisch
Die Erfahrung, dass man sich in eine Person verliebe und nicht in ihr Geschlecht, sei „eher eine weibliche als eine männliche Erfahrung.“ Jedenfalls kennt Lippa keinen gegenteiligen Fall: „Ich habe nie gehört, wie ein heterosexueller Mann gesagt hätte, er habe mit 45 einen prima Typen getroffen und sich in ihn verliebt. Und obwohl er eigentlich nicht auf Männer stehe, sei dieser Kerl so großartig, dass er die nächsten 15 Jahre mit ihm verbringen will.“
Lisa Diamond von der Universität in Utah vermutet, dass Frauen mittleren Alters und ältere Frauen am ehesten eine sexuelle Veränderung als stärkend empfinden. Und sie sieht einen gesellschaftlichen Zusammenhang: „Wir leben in einer Anti-Aging-Gesellschaft. Die Menschen sollen jung, knackig und attraktiv sein.“ Und so könne der Gedanke, dass die Sexualität eine Veränderung durchlaufen kann, für Frauen, die in einem Alter sind, da viele behaupten, sie seien sexuell nicht mehr attraktiv, sehr befreiend sein, sagt Diamond. „Er bedeutet, dass die sexuelle Zukunft dynamisch und aufregend sein kann.“
Kira Cochrane schreibt für den Guardian vor allem über Frauenthemen
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