Das wird ein ruhiges Jahr

2010 Große Dinge sind in der Geschichte bis auf wenige Ausnahmen nie in einem Zehner-Jahr passiert. Ein kleines Horoskop für die nächsten 365 Tage

Das gute Abschneiden einer Aktie garantiert nicht dafür, dass sie weiter wächst, weiß man an der Börse. Und so verhält es sich auch mit der Geschichte im Allgemeinen: Sie ist nicht unbedingt der beste Prophet, wenn es um die Vorhersage der Zukunft geht. Trotzdem gibt es, nun, da das neue Jahr begonnen hat, weit schlechtere Ansätze. Also lehnen wir uns jetzt in bester Neujahrsstimmung einfach einmal etwas weiter aus dem Fenster. Wenn wir uns die Präzedenzfälle der Geschichte ansehen, dann sollte im nächsten Jahr nichts Großes geschehen. Große Dinge passieren selten im zehnten Jahr eines Jahrhunderts. 2010 wird, wie bereits 1410 oder 1810, ein Brücken-Jahr sein.

Die paar wenigen fragwürdigen Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Im Jahre 610 (nach dem christlichen Kalender) soll der Islam entstanden sein, als Mohammed die erste göttliche Offenbarung hatte. Trotzdem sollte er erst im Jahr 1613 damit beginnen die Lehre in Mekka zu verbreiten. Zwei Jahrhunderte zuvor sollen die Römer Großbritannien den Rücken gekehrt haben, doch das bekannte Datum verschleiert, dass der Rückzug ein langer Prozess war. Aber springen wir nach vorn ins Jahr 1910. Hier kamen die Dinge zugegebener Maßen in Bewegung. Am ersten Januar berichtete die Manchester-Ausgabe des Guardian „die Augen der Welt ruhten auf Großbritannien“, die Ursache war eine Verfassungskrise. Allerdings wurde diese schnell zum Vorteil der liberalen Regierung gelöst. Hätten sich die Monarchen 1910 der Demokratie bemächtigt, dann wäre uns das Datum wohl besser in Erinnerung geblieben. Aber so war es eben nicht. In der südwalisischen Stadt Rhondda gab es Unruhen, aber die Gewalt beschränkte sich größtenteils darauf, dass eine peitschenschwingende Suffragette in einem Zug auf Winston Churchill losging und auf die Festnahme des berüchtigten Kriminellen Dr. Crippen, wobei ein schnurloses Marconi-Telefon die entscheidende Rolle spielte.

Juwelen-Experten werden 1910 mit Begeisterung als das Jahr in Erinnerung haben, in dem der Cullinan-Diamant geschliffen und an Queen Mary überreicht wurde. Die Australier könnten 2010 das hundertjährige Jubiläum ihrer Währung feiern, die Kanadier das ihrer Marine. Wenn man überlegt, was im 20. Jahrhundert sonst noch geschehen ist, dann waren das alles keine großen Ereignisse.

Auch 1510 war äußerst verschlafen, eines der wenigen langweiligen Jahre eines Jahrhunderts, das England grundlegend veränderte. Zu den Großereignissen zählt der Inkognito-Auftritt des damals achtzehnjährigen Henry VIII bei einem Lanzen-Turnir. Ob die Volksmenge tatsächlich auf seine Verkleidung hereinfiel oder nur aus Höflichkeit so tat als ob, ist nicht überliefert. 1610 war keinen Deut aufregender, zumindest galt das für England und Schottland unter der Herrschaft des seltsamen König James. In Frankreich wurde Henry der IV ermordet, doch die Monarchie und das Königreich blieben bestehen.

Das zehnte Jahr eines Jahrhundert scheint zwischen konfliktreichen Jahren in einem sanften Schlummer zu liegen. Man könnte noch behaupten, dass das Jahr 1810 eine Ausnahme war, als der zukünftige Duke von Wellington die Franzosen aus Spanien vertrieb. Doch die entscheidenden napoleonischen Kriege fanden in den Jahren zuvor und danach statt. Unter den berühmten Komponisten fallen uns Robert Schumann, der 1810 geboren wurde, und Thomas Arne, geboren 1710, ein. Aber auch das bestätigt doch unser Argument: Sie zählen nicht gerade zur ersten Liga.

Also schlafen Sie wohl: 2010 wird ein ruhiges Jahr werden.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Editorial, The Guardian | The Guardian

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