Daten bringen Wachstum

China Die Hauptstadt der ärmsten Provinz des Landes entwickelt sich gerade zum Hightech-Zentrum
Ausgabe 30/2017

Der Unterschied zwischen dem Guizhou von heute und dem, in dem ich aufgewachsen bin, ist riesig“, sagt Li Maoqin, 56. Sie lebt in Guiyang, der Hauptstadt der Provinz Guizhou im Südwesten Chinas. „Der Unterschied entspricht dem zwischen Himmel und Erde.“

Das zwischen sattgrünen Berggipfeln eingebettete Guiyang war bislang eher für seine Armut bekannt als für Innovationen. Als Kind musste Li mit ihrer Großmutter von Dorf zu Dorf ziehen und um Essen betteln. Jetzt aber ändert sich vieles. Denn die in ihrem Einzugsgebiet mehr als vier Millionen Einwohner zählende Stadt Guiyang erfindet sich gerade neu – als Chinas „Big Data Valley“.

Chinas Wachstum treiben vor allem die Wirtschaftszentren an der Ostküste wie Shanghai, Guangdong oder Hangzhou, wo etwa der Alibaba-Konzern seinen Sitz hat. Dessen Gründer Jack Ma erklärte unlängst: „Wer vor 30 Jahren die Investitionschancen in Guangdong oder Zhejiang verpasst hat, sollte jetzt auf keinen Fall die in Guizhou versäumen.“ 2016 verzeichnete Guizhou das drittschnellste Wirtschaftswachstum aller 31 chinesischen Provinzen.

Eine Autostunde außerhalb von Guiyang liegt Gui An New District, ein 1.795 Quadratkilometer großer Vorort, der als Herz der Technologie-Ambitionen Guiyangs gilt. Der Elektronikhersteller Foxconn ist eines der ersten Unternehmen, die hier eine neue Fabrik eröffnet haben. Die Anlage liegt neben einer frisch gebauten, von Autos und Fahrrädern gesäumten Straße in einem neuen Industriepark; öffentlichen Nahverkehr gibt es noch nicht.

Eifrig lockt der Staat

Weitere Unternehmen werden folgen. Steueranreize, staatliche Unterstützung und niedrige Kosten haben unter anderem Microsoft, Huawei, Hyundai Motor, den Internetkonzern Tencent, das US-amerikanische Kommunikationsunternehmen Qualcomm und Alibaba nach Guiyang gelockt. Eine Partnerschaft mit dem indischen Software-Konzern NIIT für eine Elektronik-Hochschule ist vereinbart, in einem chinesisch-britischen Datenpark sollen kooperativ Gesundheitstechnologien entwickelt werden. Prognosen der Regierung gehen von einem Anstieg der Investitionen in Gui An um elf Prozent auf 2,7 Milliarden Euro in diesem Jahr aus, wodurch 30.000 Arbeitsplätze entstehen sollen.

Städte wie Guiyang im Westen Chinas profitieren davon, dass sie im Vergleich zum Osten noch relativ erschwinglich sind. Zwar gab es allein in Shanghai während der vergangenen 20 Jahre Wachstumsraten von rund zehn Prozent pro Jahr, damit aber sind auch die Bevölkerungszahlen und die Lebenshaltungskosten enorm gestiegen.

In Guizhou haben sich die Investitionen in Big Data 2016 nahezu verdoppelt. Tencent präsentierte eine Augmented-Reality-Technik zur digitalen Versendung traditioneller chinesischer Hong-Bao-Geldgeschenke, die Softwarefirma Hydata enthüllte ihre Spracherkennungstechnik für digitales Lippenlesen, und Alibaba kündigte an, gemeinsam mit der lokalen Behörde für öffentliche Sicherheit ein Datenzentrum zu eröffnen.

Guiyang verfügt inzwischen über einen modernen Bahnhof und einen internationalen Flughafen, der Bau weiterer 10.000 Kilometer Autobahn und von 4.000 Kilometern Zugstrecke soll bis 2020 abgeschlossen sein. Der Tourismus soll weiter wachsen, schon jetzt kommen pro Jahr eine Million ausländische Besucher und viele Millionen aus dem Inland.

Mittels Programmen zur Verbesserung der Wohnverhältnisse wurden im vergangenen Jahr 458.000 Menschen in neue Unterkünfte umgesiedelt. Die Regierung sagt, 2016 hätten es 1,2 Millionen Einwohner Guizhous aus der Armut geschafft.

„Als ich jung war, gab es kaum Straßen hier. Die, die da waren, waren huckelig und eng“, erinnert sich Fu Zhangxi, 58, der in einem der neueren Wohngebiete Guiyangs lebt. „Die Verkehrsmittel waren unkomfortabel, die Menschen lebten in Holzhäusern. Strom gab es nicht, Wasser haben wir aus dem Brunnen geholt.“

Heute zieht die Stadt Hochqualifizierte wie die Bürokauffrau Yang Yuanlin an. Sie hat an der prestigeträchtigen Universität Peking studiert und in Hongkong einen Master gemacht, bevor sie in ihre Geburtsstadt Guiyang zurückgekehrt ist. „Als ich ein Kind war, haben wir in einem kleinen selbstgebauten Haus an einem Berghang gewohnt“, sagt sie. „Mein Vater hat mich mit dem Fahrrad zur Schule gebracht und nach der Schule bin ich oft in einen Buchladen gegangen – die Bücher haben zwar nur einen oder zwei Yuan gekostet, aber leisten konnte ich sie mir trotzdem nicht.“ Viele fragten sie nun, warum sie nach einem Abschluss an solch einer guten Uni hierher zurückgekommen sei. „Ich sehe hier mehr und mehr internationale Konzerne, Konferenzen und ständig neue Möglichkeiten.“

Aus anderen Gründen hat sich der Lehrer Jerry Xie gegen einen Job in Peking und für Guiyang entschieden: „Die Luftverschmutzung dort ist übel und die Lebenshaltungskosten sind sehr viel höher.“ In der Tat fällt die Monatsmiete für eine Wohnung in zentraler Lage mit 2.000 Yuan, etwa 260 Euro, günstig aus. „Die Gehälter hier in Guiyang gleichen sich denen in Peking an“, sagt Jerry Xie. „Außerdem bemüht sich die Stadt um talentierte Leute.“

Der Erfolg dieser Bemühungen ist jedoch alles andere als sicher. Experten warnen, zu viele Firmen – ob in Guizhou oder dem seit den 80ern staatlich unterstützten „Silicon Valley Chinas” in Zhongguancun in Peking – kämpften um die gleiche Nische. Andere meinen, der Pool von Talenten sei nicht groß genug. „Es gibt eine Menge Leute, die sich mit den technischen Aspekten des Betriebs von Datenclouds auskennen“, sagt die Tech-Ethnografin Tricia Wang, Mitgründerin der Beraterfirma Constellate Data. „Aber es gibt nicht genug, die Anwendungen von der menschlichen Seite her verstehen. Das ist auf der ganzen Welt ein Problem. Der Branche fehlt es an Leuten mit Verständnis für die sozialen Implikationen der Daten.“ In China liege das daran, dass viele Leute mit Blick auf die Technik ausgebildet würden, nicht aber für Analyse und Interpretation. „Dafür muss man über den Tellerrand denken können.“

Die Wissenschaftlerin Sarah Rogers vom Zentrum für China-Studien der Universität Melbourne sagt: „Am Aufbau der lokalen Regierungen lässt sich erkennen, dass das System für den Bau von Dingen ausgelegt ist. Weniger Greifbares wie Ausbildung oder Nachhaltigkeitsmaßnahmen passt nicht so gut zu deren politischem System.“

Kräne und Straßenbauarbeiten beherrschen die Skyline Guiyangs, vor allem im Finanzviertel. Es gibt ein neues Museum, das allerdings fast nie geöffnet ist. Und der außerhalb gelegene Technologiepark Gui An New District gleicht in weiten Teilen noch einer von der Außenwelt isolierten Baustelle auf dem Land.

Wohlstand für alle

In Guizhou leben mehr arme Menschen als in irgendeiner anderen Provinz Chinas. Mehr als eine Million Menschen müssen mit weniger als 2.300 Yuan pro Jahr auskommen, was etwa der Hälfte des chinesischen Durchschnittseinkommens entspricht. Der Wohltätigkeitsorganisation ActionAid zufolge kann ungefähr die Hälfte der aus Dörfern kommenden Frauen, mit denen sie in Guizhou arbeitet, nicht lesen und schreiben. Die Bewohner der Dörfer in abgelegenen Bergregionen haben mit kargem Land, Verschlechterungen der Bodenqualität, Überschwemmungen und begrenztem Zugang zu Trinkwasser und Gesundheitsversorgung zu kämpfen.

„Das Hauptproblem aller Erschließungsprojekte in China ist die Verteilung von Leistungen“, sagt Wissenschaftlerin Rogers. „Neu erschlossene Gebiete entstehen in der Regel in der Nähe der Verwaltungssitze – dort allerdings leben nicht unbedingt die Ärmsten. Hier müssen die lokalen Behörden letztlich ihre Aufgaben erfüllen. Früher hat sich niemand um die Armut geschert.“ Nun aber habe Staatspräsident Xi Jinping auf lokaler Ebene Ziele für die Verteilung des Wohlstands gesteckt. „Und wer die nicht erreicht, bekommt Ärger.“

„Ich komme aus einer großen Familie“, erzählt Li Maoqin. „Als ich klein war, waren wir so arm, dass ich immer hungrig war. Nun muss ich mir um Essen keine Sorgen machen. Alles ist viel besser. Mein Mann und ich sind einem Chor beigetreten und wir singen jeden Tag, gehen in den Park, spielen Mahjong – ich bin sehr glücklich.“

Helen Roxburgh lebt in Shanghai und berichtet als freie Autorin für den Guardian aus China

Übersetzung: Zilla Hofman

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Geschrieben von

Helen Roxburgh | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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