Dem Ende entgegen

USA Wie auch immer die Wahlen ausgehen: Es sind mehr als Versprechen notwendig, um wieder so etwas wie Normalität herzustellen – falls das überhaupt noch möglich ist
Kriegen die USA noch die Kurve?
Kriegen die USA noch die Kurve?

Foto: David McNew/AFP/Getty Images

Die ganze Welt scheint, den Atem anzuhalten. Kein anderes politisches Ereignis zieht so viel Aufmerksamkeit auf sich wie die Präsidentschaftswahlen in den USA. Selbst inmitten einer Pandemie behält der US-amerikanische politische Prozess seine karnevaleske Anziehungskraft. Trickserei und irre Rhetorik gehören dazu. Donald Trump betreibt Politik wie Reality-TV. Für die, die es anspricht, ist die Flut von Umfrage- und Wahlexpertise ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt.

Aber wir sind nicht nur auf die Show aus. Wir verfolgen den Wahlkampf, weil unsere Ära vom Status der USA als überragender Supermacht geprägt ist. Historisch gesehen ist das relativ neu. Nach der Unabhängigkeit 1776 waren die USA mehr als ein Jahrhundert lang so marginal, dass die großen Mächte in Washington nicht einmal eine echte diplomatische Vertretung unterhielten. Erst 1893 ging Großbritannien voran und verlieh seiner Abordnung vollen Botschaftsstatus. Während der Juli-Krise 1914 – dem großen diplomatischen Drama, das den ersten Weltkrieg auslöste – spielte das winzige Serbien eine größere Rolle als die USA.

Die erste amerikanische Wahl, die klar für alle von Bedeutung war, war die Wiederwahl von Woodrow Wilson 1916. Die amerikanische Arbeitskraft, wirtschaftliche Schlagkraft und Wilsons neuartige Diplomatie entschieden letztlich den Ausgang des ersten Weltkrieges. Tatsächlich erfuhren die Europäer am eigenen Leib, dass nicht nur die Präsidentschaftswahlen entscheidend sind, sondern wegen der Gewaltenteilung in den USA auch die Politik des Kongresses. Der Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen im November 1918 – wenige Tage vor dem Ende des Krieges – gefährdete Wilsons Aussicht auf eine Zustimmung des Kongresses zum Friedensvertrag von Versailles und seinen geliebtem Völkerbund. Die große Versammlung der Nationen in Versailles musste erkennen, dass ein Sich-Verlassen auf die USA das Risiko beinhaltet, dass sie, – wie Wilson es ausdrückte – „das Herz der Welt brechen“.

Noch entscheidender als die Wiederwahl Wilsons 1916 war Franklin Roosevelts dritter Wahlerfolg 1940. Sein Sieg ermöglichte das Leih- und Pachtgesetz im Februar 1941 und damit enorme Lieferungen von kriegswichtigem Material an Staaten, die gegen Deutschland und seine Verbündeten kämpften. Und nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und das japanische Kaiserreich? Damals wandten sich USA nicht einfach ab, sondern förderten durch „wohlmeinende Strenge“ in Form des Marshall-Plans und der Nato. In diesem Sinne hatte Barack Obamas Wahl 2008 inmitten der Finanzkrise etwas Historisches. Die Welt brauchte dringend einen Besseren als George W. Bush.

Keine Spannung, sondern Furcht

Obama ist ein weiteres Beispiel dafür, dass uns nicht alles egal ist. An guten Tagen nehmen die USA für sich in Anspruch, dass sie für mehr als nur für sich selbst stehen. Und dieser Ehrgeiz ist ansteckend. Die Wahl eines Schwarzen Mannes in einem Land, das früher so stark auf Sklaverei beruhte, war ein über sich hinausweisendes Symbol der Hoffnung. Es war dieses Versprechen, das im Juli 2008 Zehntausende junge Deutsche auf die Straßen von BerIin brachte, um Obama sogar noch vor seiner Wahl zu bejubeln.

Der andere Präsident, der einen derartigen Enthusiasmus inspirierte, war John F. Kennedy, dessen Wahl den Ton für die 1960er Jahre vorgab. Sie war ein Zeichen dafür, dass für eine Generation von Männern – wie Harold Macmillan, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer – die Zeit gekommen war abzutreten. Eine jüngere Generation, angeführt von Männern wie Willy Brandt und Harold Wilson, stand schon hinter den Kulissen bereit.

Außer wenn Alexandria Ocasio-Cortez gewählt würde, ist schwer vorstellbar, dass ein amerikanischer Präsident heute einen ähnliche Bewegung in Gang setzen würde. Die Herrschaft der Älteren (Gerontokratie) in den USA ähnelt der späteren, altersschwachen Phase der Sowjetunion. Die kürzlich im Alter von 87 Jahren verstorbene Supreme Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg war noch im Amt. Die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi ist 80. Mit 74 ist Trump ein junger Hüpfer. Trumps Gegenkandidatin vor vier Jahren, die heute 73jährige Hillary Clinton, wäre die erste Frau im Präsidentenamt gewesen. Aber sie war das personifizierte Establishment und zudem hinken die USA in Sachen Frauen in Führungspositionen im globalen Vergleich sowieso hinterher. Der 79jährige Demokrat Bernie Sanders ist ein amerikanisches Original, aber gerade deshalb war es nie einfach sich vorzustellen, dass er echte weltweite Begeisterung entfacht.

Dabei blicken wir 2020 nicht wegen der Spannung auf die USA. Das dominierende Gefühl ist nicht Aufregung, sondern Furcht. Wir wollen nichts weiter als die Versicherung, dass Amerikas Demokratie nicht vollständig am Ende ist. Die Wahl eines normalen Menschen – und sei es auch der großväterliche Joe Biden, der im November 78 wird – wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Die Kräfte, die Trump vertritt, sind nicht neu

Doch es ist Zeit, ehrlich zu uns selbst zu sein. Die Kräfte, die Trump vertritt, sind nicht neu. Wilson war durch und durch Rassist. Nach Abraham Lincoln wählte der Süden der USA ein Jahrhundert lang nicht mehr republikanisch. Der durch Rassengesetzgebung geprägte Süden war die inländische politische Basis, die die Demokraten Franklin D. Roosevelt und Harry Truman zu politischen Anführern der Welt machte. Die McCarthy-Ära war von starker Unterdrückung geprägt, selbst im Vergleich mit Europa während des Kalten Krieges. Sogar Trump in seiner derbsten Form findet ein Echo in den auf Tonband aufgezeichneten Hetzreden von Richard Nixons unflätig vorgetragenen Vorurteilen.

Was die Gesundheit der politischen Institutionen der USA angeht: Was brauchten wir mehr an Warnung als den Trümmerhaufen von Bush vs. Gore im Jahr 2000, entschieden von einem Justizwesen, das durch von den Republikanern eingesetzte Richter und Richterinnen dominiert wird? Das aktuelle Problem – die Degeneration der Republikanischen Partei – ist bereits seit Jahrzehnten im Gange. Im Rückblick erscheint die Nominierung von Sarah Palin als John McCains Kandidatin für die Vizepräsidentschaft im Jahr 2008 weniger als schlechter Witz, denn als unheilvoller Vorbote. 2016 war Trump eine der weniger exzentrischen Optionen aus dem Angebot der Republikaner.

Seither sind wir Zeuge, wie der verfassungsmäßige Anstand zunehmend in Flammen aufgeht. Einen Höhepunkt erreichte das im Juni 2020 angesichts der Frage, ob die Armee auf den Straßen von Washington eingesetzt werden solle. Besorgt wurde die politische Loyalität der Führungskräfte der US-Armee sondiert. Es ist beruhigend zu wissen, dass sie tendenziell weniger pro-Trump sind als die unteren Ränge. Aber ihr Widerstreben, Trumps Befehle zu akzeptieren, beruhigt kaum, was die Rechtschaffenheit der Kommandokette angeht.

Kann die amerikanische Politik sich ändern?

Das Wahlsystem der USA bröckelt und ist in Gefahr, rechtlich angefochten zu werden. Jede Ebene des Staates ist von parteigebundener Politisierung geprägt. Dieser Tage werden wir Wahlstationen sehen, die von bewaffneten Milizen flankiert sind – eine Folge von Trumps Aufforderung an die White-Supremacist-Gruppe Proud Boys, „zurückzutreten und bereit zu sein“. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem Nicht-Regierungsorganisationen wie die International Crisis Group und das Carter Center, die normalerweise die Wahlen in schwachen Demokratien auf der ganzen Welt beobachten, ihre Aufmerksamkeit auf die USA richten. Dass der Apparat zur Beurteilung freier Wahlen auf die USA selbst gerichtet wird, markiert zweifellos eine historische Krise. Dabei müssen wir aber auch erkennen, dass das Gegenstück zu Trumps Horror-Show ein Theater der Entrüstung seitens der Demokraten ist.

Die exzessive Heraufbeschwörung einer Mischung aus Weimar Noire und American Gothic ist zur Sucht geworden. Wenn Biden und die Demokraten gewinnen, müssen sie als Erstes nüchtern werden. Ein Leben ohne einen täglichen Kampf-oder-Flucht-Schock wird eine Anpassung erfordern, die nicht ohne eigene Risiken ist. Hüten Sie sich vor der Hochstimmung von Bidens Versprechen, Amerika wieder normal zu machen. Schließlich waren es acht Jahre einer sehr normalen Obama-Präsidentschaft, die ebenfalls zu den Voraussetzungen für Trumps Sieg beigetragen haben. Die entscheidende Frage nach der Wahl 2020 ist folgende: Kann die amerikanische Politik sich ändern? Wenn nicht, ist die Welt im 21. Jahrhundert dazu verdammt, Zeuge eines zunehmend morbiden und gefährlichen Spektakels zu werden.

Adam Tooze ist Professor für Geschichte an der Columbia University in New York

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Adam Tooze | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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