Irak Nach dem Abzug der US-Armee schwindet bei den Sunniten jede Hoffnung auf Emanzipation. Versucht stattdessen Premier Nuri al-Maliki eine neue Autokratie zu etablieren?
An einem kalten Wintermorgen im sunnitischen Kernland des Irak ist Ali Hatem Suleiman, der Führer des größten Stammes der Region, gerade von einer morgendlichen Jagd zurückgekehrt. Wie viele andere Unternehmungen im umliegenden Gouvernement Anbar war die nicht von Erfolg gekrönt. Das Wild und die meisten Raubvögel sind schon lange aus diesem ausgetrockneten Landstrich verschwunden. Suleiman zufolge gilt dies auch für die Hoffnung der Bewohner.
Der junge Scheich, ein Nachkomme des mächtigen Dulaimi-Stammes, hat in jüngster Zeit viel Zeit in Anbar verbracht, seitdem er vor zwei Wochen aus seinem Anwesen in Bagdad hinausgeworfen wurde, weil er sich verächtlich über den geistlichen Führer des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, geäu
#228;ußert hatte. Eine steigende Zahl prominenter Angehöriger des irakischen Establishment befindet sich wie er im Exil. Sie alle sind Sunniten, die eindringlich davor warnen, dass der Irak wieder in einem sektiererischen Morast versinkt. Die Gruppe, zu der auch Vizepremier Saleh al-Mutlaq (Maliki hat am Sonntag das Parlament zu einem Misstrauensvotum gegen seinen Stellvertreter aufgefordert, nachdem dieser Maliki der BBC gegenüber als "Diktator" bezeichnet hatte) und Vizepräsident Tariq al-Hashemi gehören, eint eine erbitterte Gegnerschaft zu Ministerpräsident Nuri al-Maliki. Und sie verfügt über gewaltigen Einfluss. Viele Sunniten sind genauso wütend und fühlen sich ebenso entrechtet und übergangen wie ihre Führer.„Jetzt haben sie es auf alle abgesehen" sagt Tariq al-Hashemi am Telefon aus Sulaimaniya im kurdischen Norden, wohin er am 18. Dezember geflohen ist, nachdem er von einem Haftbefehl gegen ihn gehört hat. „Heute ist es Hashemi und morgen ein anderer.“Nur Chaos Suleiman ist ähnlich verbittert. Als er im Morgengrauen am Euphrat saß und vergeblich auf Vögel wartete, passierten die letzten amerikanischen Soldaten die Grenze nach Kuwait. „Wofür sind sie alle gestorben, wenn sie das Land jetzt so zurücklassen?“, fragt er später. „1.860 Amerikaner wurden im Gouvernement Anbar getötet. Keines ihrer Projekte war erfolgreich. Maliki sollte das auch wissen. Als Tariq Aziz (der frühere irakische Vizepremier, der heute auf seine Hinrichtung wartet – die Red.) gesagt hat, dass Präsident Obama den Irak den Wölfen überlässt, konnte ich dem nur zustimmen.“2011, während die US-Army sich auf den Abzug vorbereitete, wurde die Stimmung in den sunnitischen Gebieten gegenüber al-Maliki, der in eine Regierungskoalition mit dem weltlicher orientierten Ijad Allawi gedrängt worden war, immer feindseliger. Obwohl selbst Schiit, war es Allawi gelungen, viele Sunniten davon zu überzeugen, dass er in einer Regierung ihre Interessen ebenfalls vertreten werde. Seine Iraqiya-Partei integrierte auch viele der sunnitischen Blöcke und als Ende 2010, neun Monate nach den Wahlen, endlich eine Regierung gebildet werden konnte, wagten einige in Anbar zu hoffen.Die sunnitische Enttäuschung über die Neuverteilung der Macht im Post-Saddam-Irak war ein wesentlicher Faktor für den Aufstand, der die Provinz von 2004 bis 2007 erschütterte. Seit dem Sturz von Saddam hatte die schiitische Bevölkerungsmehrheit in nationalen Fragen das Sagen übernommen. Mit der Allawi-Allianz keimten schwache Hoffnungen auf, dass die Sunniten wieder ein größeres Mitspracherecht erhalten könnten. „Damit ist es nun vorbei“, meint ein führender westlicher Diplomat in Bagdad. „Die Behörde, die sie eigens für Allawi eingerichtet haben – das Ministerium für strategische Politik – ist nicht einmal mehr in Betrieb. Keiner erscheint dort zur Arbeit.“„Der ganze Irak ist erledigt“, sagt auch Suleiman. „Der Abzug bedeutet das Ende. Es gibt hier keine Demokratie, nur Chaos. Die Parteien orientieren sich an der Religionszugehörigkeit. Die Korruption ist allgegenwärtig. Aber am gefährlichsten ist es, dass Maliki versucht, eine neue Autokratie zu etablieren.“ – Dieser Vorwurf prägt die Stimmung in den sunnitischen Gebieten, die in den vergangenen zwei Wochen zunehmend auf einen Autonomiestatus in einem föderalen System mit dezentralisierter Macht gedrängt haben, was Spekulationen über eine Teilung des Landes entlang konfessioneller Linien weiter Nahrung gibt. Als vorerst letzte hat die nördlich von Bagdad gelegene Provinz Diyala diesen Schritt vollzogen und sich für autonom erklärt. Seitdem wird die Straße, die von Bagdad Richtung Norden führt, von Getreuen Malikis blockiert – das erste Mal seit der Einfluss al-Qaidas Anfang 2007 seinen Höhepunkt erlebt hatte.Krieg – aber gegen wen? Auf der Straße von Bagdad nach Anbar gibt es keine solchen Hindernisse. Alle wichtigen Regierungseinrichtungen, von dem ausladenden Abu-Ghraib-Gefängnis bis hin zu den zahlreichen Checkpoints auf dem Weg nach Falludscha, sind mit Fahnen und Plakaten zu Ehren des schiitischen Imams Hussein dekoriert. Dies wirkt auch im Monat des heiligen Aschura-Festes eher wie eine Demonstration der Stärke als der Frömmigkeit.„Sie müssen zeigen, wer im Irak das Sagen hat, meint Suleiman. An den Checkpoints, die näher an Falludscha gelegen sind, hängen keine Flaggen. Die von Schiiten geführten Regierungstruppen kommen nicht hierher, solange sie keinen guten Grund dafür haben. Das Gebiet fällt in den Zuständigkeitsbereich der Sunniten. Im November sandte Premier Maliki eine Militärpatrouille aus der 150 Kilometer südöstlich gelegenen, den Schiiten heiligen Stadt Kerbala in der Provinz Karbala, um die Ermordung saudischer Schiiten zu untersuchen, die sich auf einer Pilgerfahrt befunden hatten. Nach Angaben irakischer Sicherheitskräfte wurde die Gruppe in Anbar aus einem Bus gezerrt und getötet – anscheinend ein sektiererischer Mord, der Verbindungen zu al-Qaida nahelegt. In Ramadi empfand man den Vorgang als Eingriff und Beleidigung – eine weitere Illustration des Misstrauens der Regierung gegenüber den Sunniten. Die Spaltung ist mittlerweile so tief, dass Suleiman und andere wichtige offizielle Vertreter in Anbar offen von Krieg sprechen. „Die Leute bereiten sich auf einen Krieg vor, daran besteht kein Zweifel.Die Regierung muss sehr, sehr vorsichtig sein und wissen, was hier passieren kann.“Suleiman lässt im Unklaren, gegen wen die Sunniten von Anbar zu kämpfen bereit sind. In einigen Teilen der Provinz wird der Hass auf die Regierung von dem immer stärker werdenden Hass auf das alewitische Regime im benachbarte Syrien überlagert, das die weitgehend von Sunniten getragenen Demonstrationen gewaltsam unterdrückt. Die Regierung Maliki unterstützt Präsident Assad mit der Begründung, der Sturz des syrischen Regimes würde den ohnehin schon fragilen Irak noch weiter destabilisieren. Suleiman glaubt hingegen, dass diese Entscheidung dem Willen des östlichen Nachbarn Iran und den sektiererischen Hardlinern folgt, die im Irak das Kommando übernommen haben. „Wenn Assad weg ist, haben wir zumindest den Rücken frei, besonders in Anbar. Aber der Iran wird uns nie als legitimen Nachbarn betrachten“, meint er. Vor drei Monaten kam eine Gruppe von Syrern, die familiäre Verbindungen zum Dulaimi-Stamm unterhält in den Irak, um Beistand zu erbitten. „Wir haben ihnen gesagt, dass wir unterstützen, was sie tun, dass wir ihnen aber keine Waffen geben“, sagt Suleiman. „Das war damals.“ – Seitdem ist viel passiert. In der Vorwoche wurden aus den Internet-Cafés der Stadt Aufrufe versandt, dem Aufstand, der sich in Syrien abzeichnet, zu Hilfe zu eilen. „Wir betreten nun einen Tunnel, ob uns das gefällt oder nicht“, sagt Suleiman. „Wir bereiten uns auf den Krieg vor. Es muss einen Ausweg geben, aber ich kann ihn nicht sehen.“
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