Der 11. September auf Kurzwelle

Osama bin Laden Seinen Feinden galt er als religiöser Fanatiker und Terrorist – seinen Anhängern als visionärer Führer und charismatische Galionsfigur islamischer Frömmigkeit

Zweifellos war der am 1. Mai im Alter von 54 Jahren durch ein US-Spezialkommando Getötete eine Figur, die den Gang der Geschichte veränderte. Geführt hat Osama bin Laden ein Leben voller Widersprüche: In großem Wohlstand geboren, lebte er jahrelang in relativer Armut. Als studierter Bauingenieur wurde er zum Religionsgelehrten. Als begabter Propagandist, der über keinerlei Kampferfahrung verfügte, gerierte er sich als Heiliger Krieger. Als Phantast wollte er die Rückkehr zu Gesellschaftssystemen des 17. Jahrhunderts und rechtfertigte den Einsatz modernster Waffentechnik mit einer rigorosen Deutung des Koran.

Als Osama 1957 im Jemen zur Welt kam, war sein Vater ein außerordentlich reicher Baumagnat mit Verbindungen zur saudischen Herrscherfamilie. Ein Triumph für die familieneigene Bin-Laden-Group war der Wiederaufbau der heiligsten Moschee des Islam in Mekka. Bin Laden wuchs in einem Palast auf – war höflich, fleißig und von einem frühen Alter an sehr fromm. Während seine Geschwister in Übersee studierten, entschied sich der große und furchtbar schüchterne Teenager Ende der siebziger Jahre, in Saudi-Arabien an der König-Abdul-Aziz-Universität das Fach Wirtschaftswissenschaften zu belegen. In dieser Zeit kam der nach den Geboten des saudisch-salafistischen Islam Erzogene mit politisch aufgeladenen und oftmals anti-klerikalen Lehren in Berührung. Die Verbindung zwischen beidem sollte sein Denken prägen.

Osamas „Fremdenlegion“

Im November 1979 übernahmen Rebellen die Kontrolle über die Moscheen in Mekka und wollten die Rückkehr zu einer genuin islamischen Herrschaft. Als Soldaten die Belagerung auflösten und die Anführer umbrachten, empfand bin Laden deren Vorgehen als eine auf heiligstem Boden verübte Gräueltat. Bereits einen Monat später sollte es für ihn zu einem weiteren Einschnitt kommen: es gab die Invasion der Sowjetarmee in Afghanistan. Was bin Laden für diesen Krieg tat, wird im Allgemeinen stark übertrieben. Seine „Fremdenlegion“ zählte nie mehr als ein paar tausend Mann, von denen die meisten nie wirklich in die Schlacht zogen, sondern wohltätige Einrichtungen betrieben und sich um Flüchtlinge kümmerten. Mit anderen Worten: Osama bin Laden wurde nicht von der CIA erschaffen, wie später oft behauptet.

1986 dann gründete er gemeinsam mit al-Zawahiri und 14 weiteren Anhängern bei mehreren Treffen in der westlichen Vorstadt von Peshawar das Netzwerk al Qaida. Nicht viele Gedanken wurden offenbar auf den Namen verschwendet, sondern der gefundene Code als angemessen und praktisch empfunden: Bei al Qaida handelte es sich um einen im Arabischen häufig verwendeten Ausdruck, der mit „das Fundament“ übersetzt wird, auch wenn es eine Reihe anderer Bedeutungen gibt.

Dekadente Feiglinge

Die Al-Qaida-Gründer wollten disparate Gruppen von militanten Muslimen vereinen, um eine neu gewonnene kollektive Energie auf neue Ziele zu lenken. Neben dem Guerillakrieg in Afghanistan sollte es weitere spektakuläre Aktionen geben, um all jene zu radikalisieren, die sich bis dahin dem Ruf zu den Waffen verweigert hatten. Ein Massenaufstand sollte für die Muslime weltweit ein neues Zeitalter einläuten – so die Hoffnung.

Der Heilige Krieger wurde nicht müde, das Projekt al Qaida voran zu bringen. 1993 schickte Osama Beobachter nach Somalia, keine Kämpfer. Operationen auf dem Balkan oder im Kaukasus brachten nur begrenzte Erfolge. Die Sicherheitsdienste kannten nun diesen islamischen Doktrinär, der oft als „Finanzier“ und damit falsch beschrieben wurde. Dann, im April 1994, entzog ihm die saudische Regierung die Staatsbürgerschaft, die eigene Familie distanzierte sich, auch der Sudan gab 1996 dem Druck der USA nach und wies seinen inkriminierten Gast aus.

Da ein neues Asyl gebraucht wurde, nahm bin Laden das Angebot dreier afghanischer Warlords und erklärter Taliban-Gegner an und ging nach Dschalalabad. Dort baute er zusammen mit anderen Trainingscamps, Gästehäuser und einen Pool der Freiwilligen für verschiedene Projekte auf. Zugleich wurden Emissäre zu Gruppen in der arabischen Welt entsandt, die mit finanzieller Hilfe rechnen durften, falls sie al Qaida ihre Treue zusicherten. Auch wenn es zu solcher Unterwerfung oft nicht kam, wurden die Angebote zur materiellen Alimentierung doch angenommen, um die Entstehung eines „Netzwerkes der Netzwerke“ zu ermöglichen.

Die Idee zu den Anschlägen vom 11. September kam von Khaled Scheich Mohammed, einem fähigen, in Kuwait geborenen Militanten aus Pakistan, der bin Laden kurz nach dessen Ankunft in Afghanistan aufsuchte. Sein Plan: Flugzeuge entführen, um mit ihnen amerikanische Ziele zu treffen. Bin Laden war zunächst dagegen, stimmte dann aber nach einer Reihe hitziger Treffen der Al-Qaida-Führung im Frühjahr 1999 zu. Eine umstrittene Entscheidung, denn viele Dschihadisten fürchteten eine überwältigende Gegenreaktion. Osama bin Laden aber drängte auf Vollzug – er hielt die USA für eine Nation dekadenter Feiglinge.

Am 11. September 2001 hielt er sich in der afghanischen Provinz Provinz Logar auf, wo er über ein Kurzwellenradio vom Erfolg der Angriffe erfuhr. Nächster Zufluchtsort wurden die pakistanischen Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan, doch der Nimbus der Avantgarde verlor sich zusehends. So sollte der Name al Qaida in den folgenden Jahren mehr für eine bestimmte Weltsicht stehen – weniger für Tatkraft. Immer wieder von Mainstream-Fernsehkanälen ausgestrahlte Videobotschaften gaben keine Auskünfte zum Aufenthaltsort bin Ladens, der nicht müde wurde, die muslimischen Massen ans Gewehr zu rufen.

Für einige Jahre erfasste eine Welle der Radikalisierung die arabische Welt – man denke an den Anschlag auf einen Vorortzug bei Madrid im März 2004, als zwar die direkte Verbindung zu al Qaida fehlte, aber deutlich wurde – dessen Ideologie gewann an Einfluss.

Im Nachhinein wirkt diese Periode wie ein Höhepunkt, der eines schuldig blieb: den Nachweis massenhafter Radikalisierung. Die Militanten befanden sich nach wie vor in der Minderheit und Umfragen bestätigten die Empörung vieler Muslime über Al-Qaida-Extremisten, besonders wenn sie die zerschlagenen Leiber und Leben sahen, die nach den Attentaten zu bergen waren. Allein im Irak stieß die globalisierte Ideologie al Qaidas erkennbar auf Ablehnung. Lediglich in Pakistan und Afghanistan ließen sich Fortschritte im Kampf gegen die „Kreuzfahrer-Zionisten“ verbuchen. Trotz mancher Fehlschläge – al Qaida konnte sich eine gewisse Schlagkraft bewahren. Die Ideologie behielt genügend Anziehungskraft, um Dschihad-Anwärter in ausreichender Zahl anzuheuern und das Überleben der Gruppe zu gewährleisten, worin das erste Ziel einer jeden Untergrundorganisation besteht.

Letzten Endes geriet die islamistische Ideologie zur Reaktion auf das Scheitern vieler vorheriger utopischer Projekte in der islamischen Diaspora. „Es ist unsere Pflicht, Licht in die Welt zu bringen“, hatte bin Laden einmal behauptet. Die meisten Muslime wussten aber, dass dabei etwas Wesentliches fehlte: die Erwähnung von Allah al-rahman w’al-rakhim – im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen.

Jason Burke ist Guardian-Korrespondent in Südostasien. Lawrence Joffe ist Redakteur des GuardianÜbersetzungen Holger Hutt

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Übersetzung Holger Hutt
Geschrieben von

Jason Burke, Lawrence Joffe | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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