Der „Onkel“ aus Kabul

Afghanistan Auch Kinder werden von den Aufständischen für Selbstmordanschläge rekrutiert. Oft kommen sie aus pakistanischen Religionsschulen

Taliban stellten Noor Moham­mad vor eine einfache Wahl: Entweder bekomme er eine Hand abgeschnitten, als Strafe für den Diebstahl. Oder er mache seine Tat wieder gut und bringe seiner Familie Ehre – als Selbstmordattentäter.

Der Vierzehnjährige, den die Gotteskrieger außerhalb seines Heimatdorfes gefangen hielten, weil er angeblich bei einer Hochzeit Mobiltelefone gestohlen hatte, entschied sich für die zweite Option. Der Grundkurs im Umgang mit einer Handfeuerwaffe begann schon bald. Noor Mohammad sollte die Wachen einer nahe gelegenen US-Militärbasis in der Südost-Provinz Ghazni erschießen, die häufig von Gewaltakten erschüttert wird. Außerdem wurde er mit einer Sprengstoffweste ausgestattet.

Sobald er die Wachen ausgeschaltet habe und ins Innere der Basis vorgedrungen sei, so bekam er erklärt, solle er zwei Drähte zusammenführen und sich selbst und so viele US-Soldaten wie möglich töten. Dann fotografierten die Aufständischen den im Schnellkurs ausgebildeten Märtyrer und entließen ihn. Noor Mohammad ist kein Einzelfall. Es sind immer mehr Kinder, die von den Taliban für Selbstmord-Missionen rekrutiert werden.

Die Weste ausgezogen

Bis 2005 waren Selbstmord-Attentate in Afghanistan relativ selten. Nur al Qaida wandte die Taktik an. Inzwischen aber wird auch von den Taliban immer häufiger darauf zurückgegriffen, als Reaktion auf die massiv intensivierte Nato-Kampagne. Kürzlich tötete ein Zwölfjähriger im Bezirk Barmal (Provinz Pakitika) an der Grenze zu Pakistan vier Zivilisten und verwundete viele weitere, als er seine mit Sprengstoff versehene Weste zündete.

„Sie setzen zunehmend auf Kinder“, sagt Nader Nadery von der Unabhängigen Menschenrechtskommission in Afghanistan. Die Organisation geht davon aus, dass die Taliban zu kämpfen haben, noch Erwachsene für tödliche Missionen anzuwerben. „Hat jemand ein Mittel ausgeschöpft, greift er zum nächsten.“

Noor Mohammad, mit dem ich in einem Kabuler Gefängnis sprach, hat es nicht bis zum Äußersten kommen lassen. Er hat sich den Amerikanern gestellt und wartet nun darauf, dass ihm trotz seiner 14 Jahre der Prozess gemacht wird.

Er erzählt, wie ihn die Taliban zwei Wochen zuvor losschickten, er sollte die letzten Kilometer bis zum Stützpunkt im Bezirk Andar allein zurücklegen. Statt direkt loszulaufen, habe er sich aber erst einmal hingesetzt und über seine Lage nachgedacht. Ihm wurde klar, dass es „eine Sünde ist, sich selbst und andere zu töten. Also habe ich die Weste ausgezogen und weggeworfen.“

Sich zu stellen, war einigermaßen schwierig. Es dauerte, bis Mohammad den Wachen vor der US-Basis verdächtig erschien. Erst nachdem er eine Nacht vor dem Militärcamp zugebracht hatte, wurde er verhört. Später führte er eine amerikanische Patrouille zurück in das Dorf und zeigte ihnen das Haus, in dem er von den Taliban ausgebildet wurde. Sie entdeckten Waffen und selbstgebaute Sprengsätze. Anschließend, erzählt Mohammad, kam es zu einer Schießerei. Zwei Taliban-Kämpfer seien getötet worden, die er identifiziert habe. Er wisse, dass er nun nie wieder in sein Heimatdorf zurückkehren könne und wahrscheinlich auch seine Familie nie wiedersehen werde.

Nicht alle minderjährigen Attentäter werden zu ihrer Tat gezwungen. Einige lassen sich auch durch Täuschungen verführen. Kürzlich wurde eine Gruppe von vier Kindern festgenommen, als sie allein die Grenze von Pakistan nach Afghanistan überqueren wollte. Lutfullah Mashal, Sprecher des afghanischen Geheimdienstes NDS, teilte mit, Informanten in Peshawar hätten seine Behörde gewarnt, dass die vier unterwegs seien. Im Verhör sagten die Kinder aus, sie hätten geglaubt, nur US-Soldaten würden sterben, wenn ihre Bomben explodierten, sie selbst aber heil davon kommen. Später zogen sie ihre Aussagen zwar zurück und behaupteten, sie seien unter Schlägen und mit der Drohung, von Polizisten vergewaltigt zu werden, zum Geständnis gezwungen worden. Aber dabei verfingen sie sich in Widersprüchen.

Nach Auskunft des neunjährigen Fazal Rahman stammte die Idee zu der Afghanistanreise von Maulawi Marouf, dem Oberhaupt der Jumad Madrasa, einer Religionsschule in der Stadt Khairabad. Ein „Onkel“ in Kabul habe ihn angerufen und gebeten, Kinder zu schicken, die ein paar Tage dabei helfen sollten, Batterien von Lastwagen zu entladen.

Zum Dschihad berufen

Keiner der Jungen – ausnahmslos Afghanen, die aber ihr ganzes Leben in Pakistan verbracht haben – konnte Adresse oder Telefonnummer dieses Mannes angeben. Auch hatte es keiner für nötig gehalten, den Eltern von der anstehenden Reise nach Kabul zu erzählen. „Unsere Familie ist sehr arm“, sagte der neun Jahre alte Niaz Mohammad aus. Er habe seinem Vater früher beim Betteln geholfen. „Als mir 50.000 Rupien (etwa 415 Euro – die Red.) versprochen wurden, damit ich nach Afghanistan gehe, bin ich sofort aufgebrochen.“

Alle beschrieben die Madrasa als ein Haus, in dem sie zum Hass auf die amerikanischen Soldaten in Afghanistan erzogen worden seien. „Beim Freitagsgebet sprach Maulawi immer über die Amerikaner in Afghanistan und davon, dass wir zum Dschihad ausersehen seien. Besonders freitags kam das immer wieder in seinen Predigten vor“, erzählt Niaz weiter.

Es wird befürchtet, dass in diesen „Hass-Madrasas“, wie sie der ehemalige afghanischen Innenminister Haneef Atmar nennt, Hunderte von Kindern radikalisiert und zu Attentätern erzogen werden. Selbstmordanschläge haben besonders unter Jugendlichen in den Stammesgebieten Pakistans einen düstere Faszination entwickelt. Im Februar machte dort ein Video die Runde, in dem eine Gruppe von Kindern einen Selbstmordanschlag nachspielt.

Allenthalben wird nun die Sorge laut, der Heilige Krieg habe inzwischen auch die Spielplätze erreicht. Im Kabuler Jugendgefängnis gilt dies längst als Gewissheit – was nichts weiter als Selbstverständlichkeiten im Kriegsalltag spiegelt. Die Aufseher sind bemüht, erzieherisch auf die inhaftierten Kriminellen und Möchtegern-Dschihadisten einzuwirken. „Als ich meinen Zellengenossen erzählte, dass ich mich geweigert habe, einen Selbstmordanschlag zu verüben“, konnten sie das nicht verstehen, erzählt Noor Mohammad.

Jon Boone ist Afghanistan-Korrespondent des Guardian

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Jon Boone | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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