Der arme, arme Prinz

Moderne Märchen Märchen werden uns heute von der Boulevardpresse erzählt. In den Geschichten war die Rolle des Bemitleidenswerten zuletzt vakant: Nun wurde Prinz Harry dafür gefunden

Ich stelle mir manchmal vor, dass ich eines Tages im Schein einer Ikea-Lampe meinem Kind Gute-Nachtgeschichten aus dem Onlineangebot der Daily Mail vorlesen werde. "Mama, was geschieht mit der Schönen aus der Reality-Serie, wenn ihre Bräune sich pellt und sie für ihre Eitelkeit bestraft wird?", wird mein Kind fragen und sich noch enger an seine Puppe schmiegen. "Psst, mein Schatz", werde ich dann sagen und mein iPad 14 schließen. "Das werden wir morgen herausfinden."

Märchen werden heutzutage von der Boulevardpresse erzählt. Unsere Helden erholen sich gerade von ihrer überwundenen Sucht nach verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln. Unsere Heldinnen tragen ihre Dekolltées wie vergrößerte Schilddrüsen vor sich her. Ihr Leben definiert sich über Liebesdinge. Dabei wird mit einem einsamen männlichen Promi, dessen Herz gebrochen wurde, selten so lustvoll mitgelitten wie mit einer berühmten Frau.

Dieses Mitleid äußert sich unter anderem darin, dass unablässig nach mehr Schmerzensbeweisen gegraben wird. Für diese Sorte Mitleid würde das besorgte Nach-Luft-Schnappen erfunden. Es wurde Jennifer Aniston in all den Jahren nach Brad Pitt entgegengebracht, in denen mit jeder Erwähnung ihres Namens in den Medien das Präfix „die arme ...“ einher ging. Die arme Jen, der die sexy Angelina Jolie den Mann ausgespannt hat. Die arme kinderlose Jen, die allmonatlich am Set einer anderen seifenoperartigen Romantic Comedy Frauen spielen muss, die letztlich die Lieben finden, die sie selbst nicht erfährt.

Neues Objekt des Mitleids

In einem aktuellen Interview sagt Aniston über die Faszination der Medien mit ihrem Bauch: "In den Boulevardmedien geht es nicht um Alienbabys oder so, sondern meine Drillinge,Vierlinge, darum, wen ich heirate und mit wem ich mich streite." Wie in Märchen, wo die Guten und Reinen stets mit einer Hochzeit belohnt werden, haben auch Promigeschichten irgendwann einmal ein Ende. So mussten sich denn die Klatschmedien nach einem neuen einsamen Herzen umsehen, als Jennifer auf einmal an der Seite eines Typen aus Sex and the City ganz glücklich aussah. Man fand als neues Objekt des Mitleids: Prince Harry – wer hätte das gedacht.

Vergangenen Monat war auf der Titelseite des Daily Mirror zu lesen: "Harry: 'Ich finde die Liebe nicht.' Einsamer Prinz öffnet sein Herz." Harry hatte im amerikanischen Fernsehen über seine Suche nach einer Frau gesprochen. "Ich suche gar nicht so sehr eine, die diese Rolle komplett ausfüllt", sagte er und seine Ingwer-farbenen Augen funkelten, "sondern eine, die bereit ist, sie auf sich zu nehmen".

Und so haben wir nun unsere neue arme Jennifer: Den armen Harry, den "Ersatzerben", der sich danach sehnt "normal" zu sein und dessen Bruder seine Seelenverwandte gefunden hat, während er selbst "Blondinen aus Newcastle" hinterherjagt.

Schließt sich ein Kreis?

Da mischen sich Storys über Titten am Strand mit Geschichten über einen einsamen Prinzen, der die Liebe seines Lebens sucht, da verwischen auf ergötzliche Weise die Grenzen zwischen Trash und Wahrhaftigkeit. Schließt sich hier der Kreis? Sind die Märchen damit zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt? Sind die Geschichten, die der Boulevard erzählt inzwischen so unglaublich, dass sie zu Fabeln werden? Finden die Geschichten, die wir als Kinder gelesen haben, jetzt im Mirror statt?

Und wenn schon. Mit Mythen ist es wie mit Quittungen und Ängsten – am Besten hat man sie alle an einem Platz, dann findet man sie leichter.

Das Ganze könnte sich natürlich so oder so auswirken. Manche fürchten, wir könnten von den nun durch die Medien zu uns dringenden Märchen vollends überfordert werden, dass die Geschichten, die uns in unserer rotznäsigen Kindheit erzählt wurden, durch ihre Wiederholung in den Nachrichten verstärkt werden könnten und wir irgendwann die Liebe auf den ersten Blick erwarten und davon ausgehen, dass für Blondinen immer alles gut ausgeht.

Vielleicht werden wir aber auch mit zunehmender Einsicht in die Austauschbarkeit des armen Harry und der armen Jennifer mehr und mehr begreifen, dass das alles Fiktion ist. Dass die Promi-News, die wir täglich aufsaugen, genauso künstlich, moralisierend und erfunden sind, wie die Gute-Nacht-Geschichten, denen wir einst jeden Abend gelauscht haben.

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Geschrieben von

Eva Wiseman | The Guardian

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