In die Annalen der Rockgeschichte ist der Auftritt der Cockney Rejects 1980 im Birminghamer Cedar-Club nicht eingegangen. Wenn Musikjournalisten Listen mit den 100 schockierendsten Augenblicken des Rock oder den 100 verrücktesten Gigs aller Zeiten zusammenstellen, taucht er darin nicht auf. Welch ein Versäumnis! Dass die Show des Quartetts aus dem Londoner East End – damals mit einer Punk-Version der Stadionhymne des Fußballvereins West Ham United „I’m Forever Blowing Bubbles“ erfolgreich in den Charts – nicht in einem Atemzug mit Jimi Hendrix legendärem Monterey-Konzert als musikalisch besonders überzeugendes Ereignis genannt wird, ist geschenkt. Trotzdem kann das Konzert Anspruch auf historische Bedeutung erheben: Nach allem, was man
Der brutalste Gig der Geschichte
Oi!-Punk Sie gelten als die Begründer des Oi!-Punk. Alexis Petridis erinnert sich an ein legendäres Konzert der Cockney Rejects vor 30 Jahren in Birmingham. Um Musik ging es nicht
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Alexis Petridis
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The Guardian
man so hört, war es der gewalttätigste Gig in der Geschichte Großbritanniens.„Ich hatte auf den Fußballtribünen und vor den Stadien ja so einiges gesehen, aber dieser Gig war ein einziges Gemetzel“, meint Jeff Turner, heute ein ausgesprochen freundlicher Innenarchitekt, damals in seinen Teenagerjahren „Stinky“ Turner, Frontmann der Cockney Rejects, der, wie es sein damaliger Manager Gary Bushell vorsichtig ausdrückt, „ein ganz schönes Temperament hatte“. Turner erinnert sich: „Eine ganze Menge Leute hatten Schnittwunden und andere Verletzungen. Mich hat jemand angestochen, mein Bruder [Micky Geggus, der Gitarrist der Band] wurde mit einem Aschenbecher richtig übel zugerichtet, unser Equipment wurde zerdeppert, überall lagen Leute auf dem Boden. Ein Gemetzel.“Das Problem hatte mit Fußball zu tun. „Die meisten Punks hatten Ideale. Man denke an Career Opportunities von The Clash – da ging es um Politik, um Fairness“, so Turner. „Aber als ich jung war, dachte ich, der Punk Rock sei dafür da, West Ham auf die Titelseiten der Zeitungen zu kriegen.“ Zu diesem Zweck trat die Band – die den Hooligans des Vereins nahestand, der berüchtigten Inter City Firm – bei Top of the Pops in West-Ham-Trikots auf. „Danach wollte sich jeder mit uns anlegen, da konnten wir natürlich keinen Rückzieher machen. Wären wir erst mal aufs Kreuz gelegt worden, dann hätten wir nur noch von allen auf die Mütze bekommen.“Also nahmen die Rejects und ihre Jungs den Kampf auf: „Zwanzig Cockneys gegen ... nun ja, nicht alle 300 Brummies (gemeint sind die Fans des Fußballvereins Birmingham City; Anm. der Übers.) versuchten uns anzugreifen, aber ich würde schon sagen, dass wir uns so gegen 50 bis 100 Typen zur Wehr setzen mussten.“ Die Folge war, dass Micky Geggus sich wegen Körperverletzung und Krawall vor Gericht verantworten musste und die Karriere der Cockney Rejects als Liveband faktisch vorbei war. Sie starteten noch einen Versuch gegen Ende des Jahres in Liverpool – der Gig musste nach sechs Songs abgebrochen werden, „weil 150 Scousers (wie man die Liverpooler aufgrund ihres Dialekt auch nennt; Anm. der Übers.) versuchten, uns umzubringen“ – und kurz darauf einen letzten in Birmingham – der von der Polizei verboten wurde, denn „die Bullen bekamen Wind davon und geleiteten uns zurück zu der Autobahn, auf der wir gekommen waren“, wie Turner erzählt. „Damals war ich stinksauer, heute danke ich Gott dafür. Es hätte Tote geben können“.Im Prinzip überrascht es kaum, dass der Gig unter den Teppich der Musikgeschichte gekehrt wurde, denn eigentlich gilt dasselbe für das Genre, das die Cockney Rejects unbeabsichtigt begründeten. Heute, dreißig Jahre nachdem ihr Manager Garry Bushell – damals auch Autor des Musikmagazins Sounds – den Begriff „Oi!“ prägte um jene dritte Generation von Punk-inspirierten Working-Class-Bands zu beschreiben, die „auf der ganzen Linie härtere Musik machten, gitarrenlastige Stadionhymnen“, ist das Genre in Großbritannien immer noch verpönt und findet kaum Beachtung.In den Augen der verbliebenen Fans ist Oi! „das einzig Wahre“, der echte Sound der britischen Straße der späten Siebziger, bevölkert von den Musikern, für die Bushell sich einsetzte, als sich der Rest der Musikpresse auf Bands stürzte „die literarische Anleihen verwendeten, die man nur mit einem Uni-Abschluss verstand und hochgestochene Songtexte schrieben“. Bands wie die Cockney Rejects, Angelic Upstarts – Marxisten aus South Shields, die Bushell zufolge von einem Typen gemanagt wurden, der „ein Psychopath war – alle Fenster seines Hauses waren vergittert, weil die Leute Brandbomben hineingeworfen hatten –, Red Alert und Peter and The Test Tube Babies. Für kurze Zeit stürmten diese Bands die Charts. Die Angelic Upstarts folgten den Cockney Rejects in die Sendung Top of the Pops. Unterdessen schaffte es die Band Splodgenessabounds mit dem unsterblichen Hit Two Pints of Lager and a Packet of Crisps Please in die Top 10. Doch heute teilen die meisten, denen der Begriff Oi! überhaupt etwas sagt, die Meinung, die der Journalist und Moderator Stuart Maconie damals äußerte: „Oi! ist der zurückgebliebene, dämliche Stiefbruder des Punk, musikalisch primitiv und politisch fragwürdig, denn er steht in enger Verbindung zu rechtsradikalen Gruppen“. Bushell hingegen beteuert, Oi! sei „zweifellos das musikalische Genre schlechthin, das am meisten missverstanden wurde.“Das Problem ist denn auch nicht die Musik an sich, auch wenn jeder, der dem Werk von Peter and the Test Tube Babies – darunter Hits wie Student Wankers, Up Yer Bum und Pick Your Nose (and Eat It) – einmal etwas länger ausgesetzt ist, irgendwann unter Tränen um ein paar literarische Anleihen und hochgestochene Sogtexte flehen wird, selbst wenn er ein besonders harten Knochen ist. Das eigentliche Problem ist, dass die extreme Rechte Oi! zum Soundtrack ihrer Wahl erklärt hat. Er war nicht die einzige Untergrundkultur, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern die Aufmerksamkeit der National Front und des British Movement auf sich zog. Nachdem die NF im Zuge des Aufstiegs Margaret Thatchers an den Wahlurnen eine Schlappe nach der anderen erlitt, verlegte sie sich auf „direkte Aktionen“: Sie versuchte sich mit Auftritten bei Fußballspielen und Konzerten den Weg in die Schlagzeilen zu prügeln. Konzerte von Punk- und Skabands wie Sham 69, Madness und The Specials wurden von Rechten gesprengt. 1978 verursachten Skinheads, die den Hitlergruß zeigten, bei einem Sham 69-Gig in London einen Schaden in Höhe von 7.500 Pfund.Doch es war der Oi!-Punk, der die größte Anziehungskraft auf die Rechtsradikalen hatte, nicht zuletzt weil er sowohl Fußballhooligans als auch die neu auflebende Skinheadbewegung anzog – und aus diesen beiden Gruppen wollte die National Front insbesondere mit ihren direkten Aktionen Mitglieder rekrutieren. „Bei einem Konzert in Camden sahen wir, wie zwei Nazi-Skinheads zwei Punks vermöbelten“, erinnert sich Jeff Turner. „Sie hatten es geschafft, die Karriere von Sham 69 zu ruinieren, aber wir, mit unserer Fangemeinde beschlossen da nicht mitzuspielen“. Der Anführer der Inter-City-Firm-Hooligans war damals Cass Pennant, dessen Eltern aus Jamaica stammten. „Wir gingen also runter und machten sie fertig. Wir erklärten ihnen, dass wir sie erledigen würden, wenn sie es noch einmal wagen sollten, in unsere Nähe zu kommen.“ Doch so geschah es. „Die Neo-Nazis stellten die Rejects am Bahnhof von Barking“, erinnert sich Bushell. „Sie erklärten ihnen im Grunde: „Wir werden weiterhin zu euren Konzerten kommen, und wir werden dies tun und das.“ Die Rejects und ihre Jungs prügelten sie durch den ganzen Bahnhof. Danach hielten sich die Nazis von ihren Konzerten fern.“Doch Bushell weist auch darauf hin, dass die ganze Geschichte des Punk auch vor dem Hintergrund der Annäherungsversuche der Nazi-Subkultur gesehen werden muss. Malcolm McLaren war mit seinen Hakenkreuzen daran sicher nicht ganz unschuldig, denn viele, die nicht ganz so schlau waren, dachten automatisch „Oh, das müssen Nazis sein.““ Es gab expliziteWhite-Power-Punkbands wie die Dentists und die Ventz, die eine Erfindung der „Punk Front“-Abteilung der National Front waren, weil die echten Punkbands kein Interesse daran hatten, für die Vorherrschaft der Weißen zu werben. Auf diesen Kniff verfiel die NF dann erneut, als die Oi!-Bands nicht auf ihre Avancen eingingen. Sie rekrutierte eine gescheiterte Punkband aus Blackpool namens Screwdriver und positionierten sie neu als die musikalische Stimme der Neonazibewegung. „Mit dem was wir taten, hatte das nichts zu tun“, meint Bushell. „Die einzige Gemeinsamkeit zwischen uns und diesen Bands war unsere gegenseitige Abneigung.“Dass Bushell inzwischen als lautstarker Aufwiegler gegen die liberale Linke bekannt ist, trägt jedoch nicht gerade dazu bei, die öffentliche Wahrnehmung der politische Ausrichtung der Oi!-Bewegung zu verändern. Diese behauptet jedoch, er sei zu den Hochzeiten des Oi! ein überzeugter Trotzkist gewesen, der sein Bestes gegeben habe, um der Bewegung sozialistische Prinzipien einzuflößen. Er organisierte Oi!-Konferenzen und Diskussionsrunden, „um die Bewegung zu formen und die Kultur der Gewalt zu einem Ende zu bringen. Ich sprach darüber, wie wir Arbeitslosen helfen könnten, dass wir Benefiz-Konzerte für Häftlinge veranstalten sollten – ich dachte, Punk und der soziale Fortschritt könnten Hand in Hand gehen.“ Doch dieser Gedanke stieß nicht bei allen auf offene Ohren: „Stinky Turner tauchte bei einer Diskussionsveranstaltung auf und trug eigentlich nichts dazu bei, außer der legendären Zeile: „Oi! ist die Arbeiterklasse und wer nicht zur Arbeiterklasse gehört, der kriegt einen Tritt in die Eier.“ Bushell lacht: „Einwandfrei! Das war es, wofür die Rejects standen.“Trotzkist oder nicht, Bushell hatte durchaus ein Talent dafür, das Problem zuzuspitzen, wie etwa, als er 1981 die Idee zu einem Sampler hatte, der den unglücklichen Titel Strength Thru Oi! trug. „Ich war völlig ahnungslos!“ beteuert Bushell. „Ich war jahrelang politisch aktiv, aber der Satz „Kraft durch Freude“ war mir als Nazi-Slogan nie untergekommen. Für mich war das nur der Titel einer Single der Skids.“Um das Ganze noch heikler zu machen wurde für das Cover ein Foto des Skinheads Nicky Crane ausgewählt, der es, als echter Multitasker, verstand sein Leben als aktiver Neo-Nazi mit einer geheimen Karriere als schwuler Pornostar in Einklang zu bringen. „Bei mir Zuhause hing eine verwaschene Weihnachtskarte mit eben diesem Foto an der Wand, das zum Coverbild der Strength Thru Oi!-Compilation wurde. Ganz ehrlich, Hand aufs Herz, ich dachte es sei ein Standfoto aus dem Film The Wanderers“, behauptet Bushell. „Erst als mir das Cover vorgelegt wurde, um es vor der Veröffentlichung abzusegnen, fielen mir seine Tätowierungen auf. Wäre ich nicht so ungeduldig gewesen, dann hätte ich wohl gesagt, tretet das verdammt nochmal in die Tonne, wir machen ein ganz neues Foto. Stattdessen haben wir die Tattoos wegretuschiert. Da wurden zwei Fehler gemacht, die nehme ich beide auf meine Kappe. Hände hoch!“Doch es sollte weit schlimmer kommen. Im Juli 1981 mündete ein Oi!-Konzert mit den 4-Skins und The Business in Southall – das 1976 Schauplatz eines rassistisch motivierten Mordes und 1979 der Rassenunruhen war, die mit dem Tod des Lehrers Clement Blair Peach endeten – in ein gewalttätiges Chaos. 110 Personen mussten ins Krankenhaus gebracht werden und der Veranstaltungsort, die Hambrough Tavern, wurde mit Molotowcocktails beschossen und brannte ab. Je nachdem, wen man fragt, war der Auslöser entweder, dass Skinheads Asiaten angriffen oder, dass asiatische Jugendliche die Konzertgänger angriffen. So oder so bedeuteten die Unruhen von Southall dass Ende des kommerziellen Erfolgs des Oi! Die Plattenläden weigerten sich „The Power and the Glory“, das neue Album der Cockney Rejects, in ihr Sortiment aufzunehmen. „Ich hatte doch nur einen Song geschrieben, der Oi Oi Oi hieß – und plötzlich war da diese ganze Bewegung, die sich Oi! nannte, mit der ich nichts zu tun haben wollte“, rekapituliert Turner. „Wir waren nicht dort, als diese fürchterliche, fürchterliche Scheiße in Southall passierte, aber uns wurde dann der Boden unter den Füßen weggezogen. Es dauerte keine 18 Monate, bis ich nicht mehr im Fernsehen auftrat sondern aufs Arbeitsamt ging.“Und dann erschien ein aufrührerischer Artikel in der Daily Mail, der die Situation weiter verschärfte. „Davor hatten wir bei unseren Konzerten nie Probleme mit Nazis“, erzählt Bushell. „Erst dann kamen die ganzen Typen an, und dachten, das wäre jetzt so eine rechtsradikale Sache. Als sie dann herausfanden, dass dem nicht so war, ging der Ärger richtig los. Ich wurde bei einem Konzert der Upstarts im 100-Club in London von etwa 20 Skins angegriffen. An der Haltestelle Charing Cross bedrohte mich einer mit dem Messer.“Das wäre wohl das Ende der Geschichte gewesen, hätte der Oi! nicht in Amerika eine seltsame Wiederauferstehung erlebt. Steve Whale – der sich nach den Ereignissen in Southall der Band The Business anschloss und bis in die Achtziger hinein darum kämpfe, die Band als Street-Punk-Band neu zu positionieren – bekam unerwartet von Epitaph, dem Label des Bad Religion-Gitarristen Brett Gurewitz auf dem unter anderem die Bostoner Irish-Punk-Band Dropkick Murphys und Rancid veröffentlichen, einen Vertrag angeboten.„Lars Freidricksen von Rancid hat mir einmal erzählt, dass er sich ohne Oi! als Teenager vermutlich umgebracht hätte“, erzählt Garry Bushell: „Da dachte ich: „Verdammt, Oi! hatte wirklich einen Einfluss auf diese Leute.“ Ich bin nicht stolz darauf, wie Oi! falsch interpretiert wurde, aber ich bin stolz auf die Musik, auf das, was sie anregte, und auf ihren Beitrag zum Punk.“In Großbritannien, meint er abschließend, habe das Genre in den Augen der meisten immer noch einen schlechten Ruf: „Wie gesagt, 1976 haben viele auch gesagt, Punk sei so ein Nazi-Ding, wegen der Hakenkreuze. Der Unterschied war, dass diese Bands die Musikpresse auf ihrer Seite hatten. Die Oi!-Bands hatten nur mich.“
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