Die 16 Jahre, in denen Ratko Mladić frei durch Serbien streifte, sind keine lange Zeit im Gedächtnis des Balkan. Sie sind nicht mehr als ein Augenblick. Überdies hat die Verhaftung von Europas meistgesuchtem mutmaßlichem Kriegsverbrecher ebenso viel mit der Gegenwart wie mit der Vergangenheit zu tun. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), Serge Brammertz, stand kurz davor, bei der UN ein vernichtendes Urteil über die widerwillige Verfolgung Mladićs durch Belgrad abzugeben.
Dieser Bericht hätte Serbiens Bemühen, im Laufe des Jahres offiziellen Kandidatenstatus für die EU-Mitgliedschaft zu erlangen, mit ziemlicher Sicherheit scheitern lassen. Serbien ist bereits Jahre hinter Kroatien zu
roatien zurück gefallen, das sich ausrechnen kann, 2013 zum 28. Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Präsident Boris Tadić ist mit Unruhen auf den Straßen und der Herausforderung durch eine gestärkte nationalistische Opposition konfrontiert. Er musste liefern – und zwar schleunigst. Die EU wird nun ihrerseits unter starken Druck geraten, sich erkenntlich zu zeigen. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die Verhaftung eines einzelnen Mannes ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen dessen Land und Europa eröffnen könnte.Nichts an dem untersetzten ehemaligen General war jemals zu unterschätzen. Allein zwei Anklagepunkten auf dem Anklageprotokoll des UN-Kriegsverbrechertribunals zufolge klebt an seinen Händen das Blut von 17.000 Opfern – das Massaker an 7.000 Männern und Jungen in Srebrenica 1995 und die Belagerung von Sarajevo, die 10.000 Menschen das Leben kostete. So viele waren selbst unter der deutschen Besatzung nicht gestorben. Und doch spricht der Umstand, dass er sich der Festnahme so lange entziehen konnte, Bände über die unverarbeitete Erinnerung an diese schrecklichen Ereignisse. Man denke nur an die gestrige Reaktion der Serbischen Radikalen Partei, deren Sprecher der serbischen Polizei Verrat vorwarf, weil sie einen serbischen Helden verhaftet habe. Einer Umfrage zufolge stimmen 40 Prozent dieser Sicht zu, und 51 Prozent würden Mladić nicht an das Tribunal ausliefern. Mladićs Insiderwissen über die Arbeit der Sicherheitsdienste war sicher nicht der einzige Faktor, der ihn in diesem Spiel 16 Jahre lang einen Schritt voraus sein ließ. Dazu trug auch der Umstand bei, dass er für die Menschen, die in der vergangenen Nacht in Belgrad protestierte, immer ein Held blieb, der ihren Schutz verdient hatte.Der Hexenkessel der ethnischen Säuberungen hat sich in diesem Teil Europas immer noch nicht ganz abgekühlt. Erst im vergangenen Monat stimmte Serbien das erste Mal direkten Gesprächen mit dem Kosovo zu, dessen Unabhängigkeit es sich anzuerkennen weigert. Dazu spielt Belgrad eine bedeutende Rolle in den Kalkulationen der bosnischen Serben und für ihre Forderung, sich in einem Kleinstaat von Bosnien-Herzegowina loszusagen. Wenn es den Kosovaren gestattet werde, sich von Serbien abzutrennen, argumentieren sie, warum sollte den bosnischen Serben dasselbe Recht verweigert werden? Die Glut dieses Feuers schwelt noch und könnte sich schnell wieder entzünden. Mladićs Prozess und die gewissenhafte Enthüllung der Beweise gegen ihn werden erst einmal nichts zur Abkühlung der Erregung beitragen. Tatsächlich könnten sie sie erst richtig entfachen. Die von der Serbischen Radikalen Partei organisierten Demonstrationen werden in den neun oder zehn Tagen, die nötig sind, um Mladić an den Strafgerichtshof in Den Haag zu übergeben, unweigerlich den Druck im Kessel erhöhen. In dieser Zeit müssen die Gerichte und Tadić standhaft bleiben.Auf lange Sicht ist die unerschütterliche Entschlossenheit des Staates, Mladić der internationalen Justiz auszuliefern, die stärkste Botschaft, die eine Regierung in Belgrad ihren Nachbarn geben kann, um zu signalisieren, dass sie gewillt ist, ein neues Kapitel in der Geschichte aufzuschlagen und das Land und die Region wieder aufzubauen. Das Zuckerbrot der EU-Mitgliedschaft beiseite gelegt: Mladićs Auslieferung nach Den Haag ist der einzig vorstellbare Weg, um normale Beziehungen zwischen all den belasteten und immer noch verarmten Gemeinschaften der Region zu etablieren. Nur sie kann Serbiens Platz auf dem Balkan wieder herstellen, nicht als Pariastaat, sondern als moderner Handelspartner. Sie könnte auch jene, die die Festung Europa bemannen, daran gemahnen, was der Preis dafür ist, die Tore geschlossen zu halten. Frankreich, Deutschland und die Niederlande, die alle erweiterungsmüde sind, haben neue Bedingungen für Kroatiens Mitgliedschaft gestellt. Gestern schlug Nicolas Sarkozy eine andere Richtung ein, als er anerkannte, dass es nun unmöglich sei, Serbien vor verschlossener Tür stehen zu lassen. Der Dinar ist gefallen.