„Bleibt auf euren Positionen“, ruft ein bärtiger Kommandeur in Richtung einer Gruppe junger Männer, die Kalaschnikows, schwere Maschinengewehre und sogar ein Schlachtermesser schwenken und sich auf die Ladefläche eines losfahrenden Pickups drängeln. „Wir haben Anordnung, uns nicht zu bewegen und die Verteidigungslinie aufrecht zu erhalten! Hört auf eure Waffen abzufeuern! Wir haben nicht genug Munition um ins Leere zu schießen!“
Vor Ras Lanuf steckt die Revolte fest
Zu spät. Unter den stürmischen, unerfahrenen Rebellenkämpfern, von denen viele bis vor ein paar Tagen noch nie eine Waffe in Händen gehalten haben, hat sich das Gerücht verbreitet, die Streitkräfte Muammar Gaddafis hätten erneut am Rande Ras Lanufs eine Offensive gestartet. Die Männer sind nicht interessiert an Befehlen, sie sind gekommen um zu kämpfen. Also strömen sie aus der vom Kampf gezeichneten Stadt hinaus zur nur wenige Minuten entfernten Front. Krankenwagen mischen sich unter die Bewaffneten, darin sitzen Ärzte – ebenfalls Freiwillige – die ihren ersten auf dem Schlachtfeld verwundeten Patienten entgegen sehen.
Die Revolte in Libyen steckt vor Ras Lanuf fest. Der größte Teil der aufständischen Truppen, die die libysche Ostküste entlang geprescht sind, auf ihrem Weg Städte eingenommen, Gaddafis Truppen zum Rückzug gezwungen und ein paar Tage lang die Illusion geschaffen haben, sie könnten bis nach Tripolis marschieren, besteht inzwischen aus jungen Freiwilligen. Beinahe die gesamte Zivilbevölkerung – 10.000 Menschen – hat die Stadt verlassen, statt ihrer hat sie sich mit Hunderten junger freiwilliger Kämpfer gefüllt, von denen täglich weitere ankommen. Einige von ihnen bleiben länger, wohnen bei anderen Männern, die sie aus ihren Heimatorten kennen oder bei Freunden. Andere sind nur für einen Tag gekommen, in überfüllten großen Autos, um in einer Art Drive-In-Krieg zu kämpfen. Am Abend fallen sie erschöpft wieder in ihre Fahrzeuge und kehren in ihr heimatliches Bett zurück. Einige kommen am nächsten Tag wieder, andere nicht.
Akademiker ohne Kampferfahrung
Yasin el Shari gehörte zu einem Trupp junger Kämpfer mit Kalaschnikows, die vor fünf Tagen aus Tobruk gekommen sind. Sie haben ihre eigenen Waffen aus einem geplünderten Militärposten mitgebracht. Nur wenige von ihnen haben schon einmal eine Waffe besessen, nur einer hat militärische Erfahrung. Deshalb haben sie ihn zu ihrem Anführer gemacht.
„Wir sind Akademiker. Wir haben keine Kampferfahrung“, sagt el Shari. Er ist schwarz gekleidet, an seinem Gewehr hat er Bajonett befestigt, um seinen Kopf ein Tuch gebunden. Die wenigen Erfahrenen unter den Kämpfenden, oftmals Überläufer aus Gaddafis Armee, befinden sich an der Front. Die „Neulinge“, die die große Mehrheit darstellen, gibt ihnen abwechselnd Rückendeckung. Für El Shari und seine Kameraden waren die letzten Tage ein ernüchterndes Erlebnis: „Gaddafi hat bessere Waffen, wir haben nur alte aus den Achtzigern.“ Die allerdings werden oft in Gebrauch genommen, selbst wenn der Feind nicht in Sicht ist, was den Anführern der Aufständischen Probleme bereitet.
Gaddafis Luftwaffe hat Ras Lanuf mehrfach aus der Luft bombardiert. Am Dienstag unterbrachen sie die Wasserversorgung der Stadt und zerstörten Wohnhäuser. Am darauffolgenden Montag kamen auch Zivilisten zu Tode, darunter Mohammed Ashtal, der mit dreien seiner Kinder getötet wurde, als eine Bombe sein Auto traf.
Sinnlos wird in alle Richtungen gefeuert
Die Bombardements haben die unerfahrenen Kämpfer nervös gemacht, ohne Unterlass suchen sie den Himmel nach Flugzeugen ab. Ab und zu ist ein Rufen zu hören. Jemand hat angeblich einen MiG-Jet gesichtet. Den kann zwar sonst keiner sehen, trotzdem wird mit Hunderten Waffen sinnlos in alle Richtungen gefeuert. Junge Männer schwenken Flugabwehrwaffen, schießen mit tödlichem, dumpfem Knallen Granaten ab. Die Kugeln von Kalaschnikows schwirren wild umher.
Kurz nach einem solchen Fehlalarm eilen die jungen Kämpfen entgegen der Appelle der erfahreneren Kommandanten, die sie anhalten, die Defensive und ihre Positionen zur Bewachung einer nahe gelegenen Ölraffinerie beizubehalten, aus der Stadt hinaus zur Kampflinie.
Fathi Mohammed, hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für die jungen Männer, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren und Verzweiflung angesichts ihres Mangels an Disziplin, zeigt sich besorgt. Der 46 Jahre alte ehemalige Hauptmann von Gaddafis Spezialtruppen versucht einer Bande junger Kämpfer etwas Organisation beizubringen.
„Sie sind außer Kontrolle“, sagt er. „Einige von ihnen haben sich einfach Waffen aus dem Militärlager in Benghazi genommen und sind hierher gekommen, ohne dass irgendjemand wüsste, was sie überhaupt machen. Wir versuchen sie in organisierte Einheiten einzuteilen, aber einfach ist das nicht.“
Gaddafi soll Panzer zusammenziehen
Rajab Hasan, ebenfalls mit der Ausbildung Freiwilliger betrauter ehemaliger Soldat stimmt zu: „Sie brauchen einen Anführer. Davon haben wir nicht genug.“ Mohammed bringt seine Befürchtungen darüber, was dies bedeuten könnte, mit Bedacht zum Ausdruck: Die Rebellenarmee hat sich bisher gut geschlagen, ist vorangekommen und hat Versuche der Gaddafitruppen abwehren können, ihre Linien zu durchbrechen. Er räumt allerdings ein, dass die Rebellen vor einem Problem stehen könnten, sollte ihren Gegnern eine nachhaltiger Angriff gelingen. Dass auch eine Niederlage möglich sein könnte, mag Mohammed nicht eingestehen, auch wenn es unter den Rebellen heißt, dass Gaddafi Panzer für einen Frontalangriff zusammenzieht. Er gibt jedoch zu, dass der Sieg ihnen nicht sicher sei: „Es ist nicht unmöglich, nach Tripolis vorzudringen, so Gott mit uns ist“, meint er. Den Mut der jungen Kämpfer zweifelt er allerdings nicht an. „Sie sind mutig. Sie haben Courage. Dies ist ein beliebter Krieg. Es herrscht eine Menge Enthusiasmus.“
Auch bei anderen Freiwilligen in Ras Lanuf herrscht Begeisterung. Nicht zuletzt unter den Ärzten, die mit den vordringenden Soldaten angekommen und auch während der Bombardements geblieben sind. Einer von ihnen ist der 43jährige Salem Langhi, der Dienst hat, als drei Leichen ins Krankenhaus gebracht werden. Laut den Ärzten handelt es sich um Zivilisten, die versuchten, nach Hause zurückzukehren und deren Bus unter Beschuss der Gaddafi-Truppen geriet. Langhi hat vor seiner Rückkehr in die Heimat in einem Londoner Krankenhaus und sechzehn Jahre lang in Irland gearbeitet. Als die Revolution ausbrach, meldete er sich sofort als Freiwilliger.
„Alle Libyer wurden vollkommen überrascht“, berichtet er. „Wir wussten selbst nicht, dass so etwas in uns steckt. Wir haben viel über uns selbst erfahren. Wir lieben unser Land und wir lieben einander.“ Vor allem aber, fährt er fort, hätten sie festgestellt, dass die „Schranke der Angst“ gefallen sei. „Die Leute haben keine Angst. Sie schauen einem in die Augen, wenn sie mit einem reden. Und sie haben den Mut zu kämpfen.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.