Die Abenddämmerung ist noch nicht hereingebrochen. Doch in südlicher Richtung verdunkelt ein herannahender Sturm den Himmel. Denis Dragusewitsch und Zhenya Kucheryawaya spielen Anfang Juli mit ihren drei kleinen Söhnen auf dem staubigen, zu ihrem Wohnblock in Slawjansk gehörenden Hof. Als ein lautes Grollen die Luft erzittern lässt, fragen die Nachbarn der beiden scherzhaft, ob es sich wohl um „Donner oder Hagel“ handele – sie spielen auf die BM-21-Hagel-Raketenwerfer an, mit denen die ukrainische Armee die Stadt beschießt. Oft kommen Haubitzen und Mörsergranaten geflogen. „Die Kinder zeigen auf das Badezimmer, wenn es losgeht. Sie kennen sich schon aus“, erzählt Zhenya. Die Familie fliehe während eines Bombardement
Der ganz alltägliche Wahnsinn
Leben im Krieg In den schwer umkämpften Städten der Ostukraine stehen viele vor der Entscheidung: Flucht oder Durchhalten
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Ausgabe 31/2014
Alec Luhn
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The Guardian
ents immer ins Badezimmer. „Dies werden einmal die Kinder des Krieges sein.“Nachdem prorussische Separatisten Anfang April im Osten eigene Republiken ausgerufen haben, wird die Stadt immer wieder von Regierungstruppen attackiert, seit Wochen fast täglich. Dutzende Wohngebäude sind bereits getroffen, der Vorort Semjonowka in Schutt und Asche gelegt. Laut jüngsten Zahlen der UNO hat der Konflikt bisher mindestens 1.000 Menschen das Leben gekostet, darunter Kombattanten wie Zivilisten, über 100.000 wurden zu Vertriebenen.„Alle reden nur noch darüber, wann der Krieg zu Ende sein wird“, sagt Katya, die mit ihrer Mutter und ihrem achtjährigen Sohn Gleb in einer Zweiraumwohnung lebt. Die Postfiliale, in der sie früher gearbeitet hat, ist längst geschlossen. Nun verbringt sie den halben Tag damit, Wasser in ihre Wohnung zu schleppen. „Die Kinder malen Panzer und Flugzeuge statt Blumen und Bäume wie früher. Mein Sohn wacht jeden Morgen auf und fragt: ‚Haben sie uns bombardiert?‘ Er hat Angst“, erzählt sie. Gerade seien sie im Kinderkrankenhaus unter schweren Beschuss geraten, als sie dort für ein Ferienlager ein ärztliches Attest abholen wollten.Wegen der beschädigten Infrastruktur ist für viele schon seit Juni das Wasser gesperrt. 90 Prozent der Stadt haben keinen Strom, Mobilfunkverbindungen sind unzuverlässig. Der Gastwirt Ibragim Kutuyew kocht auf einem Supermarktparkplatz Pilaw über einem Feuer, das er in einem alten Fass entzündet hat. Nachdem sein Café von einer Granate getroffen wurde, habe er angefangen, draußen zu kochen, erzählt er. Ein allgemeines Misstrauen gegenüber der Regierung in Kiew ist in bitteren Hass umgeschlagen. Die Rebellenkader gelten vielen als Retter der Stadt. Aber deshalb greift nicht jeder Bürger zur Kalaschnikow. Die meisten versuchen einfach, unter anormalen Bedingungen ein normales Leben zu führen. Einer der Einwohner meint: „Wenn man die ganze Zeit darüber nachdenkt, dass Krieg herrscht, ist das Leben nicht mehr lebenswert.“Limonade mit BirneDenis und Zhenya haben eine Zweizimmerwohnung, gemeinsam mit Zhenyas Vater, ihrer behinderten Mutter, ihrer Schwester und drei Söhnen, einem Einjährigen und den dreijährigen Zwillingen. Die Familie wacht beim ersten Licht des Tages auf. Da es keinen Strom mehr gibt, enden die Tage sehr viel zeitiger als gewohnt. Nach einem schnellen Frühstück holen Denis und Zhenya in Plastikflaschen Wasser von einem nahe gelegenen Brunnen. Andernorts in der Stadt haben Wassertürme Schläuche verlegt, an denen Durstige sich bedienen können.Mehrmals in der Woche kaufen sie Milch von einem Mann, der nebenan eine Kuh, Schweine und Hühner hält, die von ihren Besitzern ausgesetzt wurden. Drei Liter Milch kosten 20 Griwna (etwa 1,20 Euro) – das sei nicht schlecht, sagt Denis, aber teurer als früher. Der Mann verkauft ihnen auch Eier zum Sonderpreis von einer Griwna das Stück. Die wenigen Supermärkte, die noch Strom haben, bleiben geöffnet, doch zeugen viele leere Regale davon, wie schwer es ist, Waren wie gewohnt in die Stadt zu schaffen.Zhenya sagt, da das Familieneinkommen sinke, sei es ihre größte Sorge, Lebensmittel für ihre Mutter und die Kinder zu beschaffen. Früher habe sie jeden Monat 3.000 Griwna (190 Euro) Kindergeld bekommen und die Eltern etwa genauso viel Rente. Denis habe früher im Sommer auf Baustellen gearbeitet, manchmal für 100 Griwna (sieben Euro) am Tag. „Doch jetzt sind die Fabriken geschlossen und niemand baut, wenn Bomben fallen. Früher mussten wir beim Essen für die Kinder nicht knausern. Wir haben Kalbfleisch, Huhn, Milch und Süßigkeiten gekauft. Jetzt kommen wir nach Hause, und sie sagen: ‚Mama, kriege ich was Süßes?‘ Wie soll man einem Kind erklären, dass kein Geld da ist?“Gerade hat ein Soldat der Rebellen der Familie vier Kilo Rindfleisch geschenkt. Aus den Knochen hat Zhenya Borschtsch für die Erwachsenen gekocht, das Fleisch für die Kinder zubereitet. Wann immer humanitäre Hilfslieferungen den Belagerungsring der Regierungstruppen passieren dürfen, verbringt Zhenya den Vormittag mit Schlangestehen – fünf Stunden für ein Kilo Nudeln, einige Konserven und Limonade mit Birnengeschmack. Ein tätowierter Biker mit dem Spitznamen „Totenkopf“ berichtet, er habe seine Club-Kontakte – auch zu den berühmten russischen „Nachtwölfen“ – spielen lassen, um Hilfslieferungen zu erhalten. Die kämen aus Russland.Zhenya sagt, die ständige Angst habe sich auch in ihrem Aussehen niedergeschlagen. „Wenn man sich alte Fotos von mir ansieht, sieht man, dass sich mein Gesicht völlig verändert hat. Man hat so viele Sorgen.“ Auch deshalb, weil nur noch eine Apotheke geöffnet hat. An Medizin für ihre an Diabetes leidende Mutter heranzukommen, ist für Zhenya mühsam, teuer, manchmal unmöglich.Nach dem Mittagessen verbringt die Familie den Nachmittag meist schlafend, während der Großvater angeln geht. Danach zieht es die Eltern mit den Kindern zum Spielen nach draußen, doch nie weiter als bis zum Spielplatz vor ihrem Wohnblock, falls es zum Beschuss kommt. An den Abenden sitzen die Nachbarn draußen vor dem Eingang zusammen und lauschen am Ghettoblaster den Nachrichten eines rebellenfreundlichen Radiosenders. Wenn es dunkel wird, kommt die Zeit, hereinzugehen, noch etwas Kleines zu essen und sich schlafen zu legen.Heilige DreifaltigkeitDer Hof des Wohnhauses riecht nach Abfällen. Die Bewohner lassen die Mülltonnen offen stehen - für die vielen, von ihren Besitzern ausgesetzten Katzen und Hunde, die inzwischen herrenlos durch die Stadt streunen. Die Früchte der Aprikosenbäume im Hof verrotten, weil nicht mehr genug Bewohner da sind, sie zu pflücken. Das Leben im Kriegsgebiet ist eine übelriechende Angelegenheit – weil man kaum eine Toilette mit dem Wasser spült, das mühsam herbeigeschleppt wurde. Obwohl die Familie die Toilette täglich mit Chlor reinigt, herrsche in der Wohnung mit den Schmutzwäschestapeln und der bettlägerigen Großmutter „nicht unbedingt Kamillenduft“, räumt Zhenya ein.Wie viele hier hat auch diese Familie grauenhafte Geschichten von den Angriffen zu berichten, die sie miterlebt hat – den schlimmsten am 8. Juni, als die russisch-orthodoxe Kirche den Tag der Heiligen Dreifaltigkeit beging und Regierungstruppen den Menschen einen „Blutsonntag“ bescherten. Eine Granate landete im Glockenturm einer Kirche. Die Angaben über die Opferzahlen variieren. Die Berichte beider Seiten stimmen insoweit überein, dass Zivilisten ums Leben kamen – auch ein sechsjähriges Mädchen.Als Abschüsse aus der Ferne zu vernehmen waren, machte sich Denis auf die Suche nach Zhenya, die noch nicht von ihren täglichen Besorgungen zurück war. Als er die Swoboda-Straße hinunterlief, hörte er das Geräusch einer anfliegenden Granate und ließ sich auf den Boden fallen. Etwa 100 Meter weiter schlug es in einem Hochhaus ein, dann im benachbarten Wohngebäude. Ziegelsteine flogen durch die Luft. Angst habe er nicht verspürt, versichert Denis. „Es war bloß pure Emotion. Ich dachte: ‚Was macht ihr? Wann hört das bald auf, ihr Bastarde?‘“ Meist sind es Granaten, die einschlagen, hin und wieder Raketen. Am meisten aber fürchten sich alle vor den selteneren Luftangriffen. Zhenya erinnert den Tag, als die Rebellen ein AN-30-Aufklärungsflugzeug abschossen. Aus ihrer Wohnung konnte sie hören, wie Einwohner der Stadt „jubelten und feierten“, als sich die Nachricht verbreitete. Wie sich später herausstellte, wurden in der Nacht danach auf das Dorf Semjonowka Brandbomben geworfen. Zhenya erzählt, es sei „taghell“ gewesen.Wenn die Bombardements losgehen, bringen Denis und Zhenya die Kinder ins Bad. Die anderen bleiben mit der Großmutter in einem der Schlafzimmer, wo Denis vier Matratzen vor den Fenstern gestapelt hat. Als der Beschuss neulich um acht Uhr abends einsetzte, nahm er die Polster von der Couch und alle schliefen im Flur. Ansonsten nächtigt die Familie zu fünft in einem Bett. Jaroslaw, einer der Zwillinge, weint oft, seit eine Granate in der Nähe einschlug. „Es ist schlimm, wenn man einem Dreijährigen Baldrian zum Schlafen geben muss“, sagt Zhenya.Viele Keller sind zu Bombenschutzräumen umfunktioniert. Auch der unter der Wohnung der Bahnarbeiterin Sweta Serdyukowa und ihrer Söhne Igor (18) und Nikita (8). Wenn der Beschuss besonders heftig ist, sitzen sie stundenlang in dem fensterlosen, nur von Kerzen beleuchteten Raum, dessen Wände ebenfalls mit Matratzen ausgekleidet sind. „Das Leben hat uns gelehrt, stark zu sein und allen Schwierigkeiten zu trotzen. Ich habe Kinder, ich muss optimistisch sein“, meint Sweta auf die Frage, warum sie die Stadt nicht verlässt.Katya denkt ähnlich. Morgens holt sie Wasser und kümmert sich sonst um ihren Sohn Gleb, der mit seinen Actionfiguren oder seinem Lieblingsauto, einem Porsche Cayenne, spielt. Auch ihre Haustiere – eine Schildkröte und Fische – leiden unter der Situation. Von zwölf Fischen haben bislang nur vier überlebt. Und Katya macht sich Sorgen, wo Gleb im Herbst zur Schule gehen soll. Das dafür eigentlich vorgesehene Gebäude ist jüngst von einer Granate getroffen worden. Neulich hat sich Katya mit ihrer Mutter und Nachbarn über die ständigen Angriffe unterhalten, während Gleb in der Nähe einen streunenden Hund jagte. „In Afghanistan gab es einen offenen Krieg“, meinte einer. „Aber hier werden friedliche Menschen bombardiert. Wenn sie eine Strafaktion wollen, sollen sie doch herkommen und Mann gegen Mann mit den Rebellen kämpfen.“Denis und Zhenya beantworten die Frage, warum sie Slawjansk nicht verlassen, mit einem Verweis auf ihre prekären Finanzen. Die Großmutter müsste wegen ihres Zustandes von einem Taxi transportiert werden – das kostet 500 Griwna ( 31 Euro) für eine Fahrt ins nahe gelegene Swjatohirsk, wohin sich Tausende geflüchtet haben. Für sie sei diese Summe völlig „unrealistisch“, erklärt Zhenya.Anderen Familien geht es ähnlich. „Wir wollen alle weg. Aber was dann?“, fragt Katya. „Wenn ich einen Monat lang weggehe, komme ich in eine Wohnung ohne Türen und Fenster zurück. Jetzt kann doch so schnell alles geplündert werden.“Schließlich musste sie doch zu ihren Großeltern nach Kramatorsk fliehen. Das gesamte Viertel geriet unter massiven Beschuss, nahe gelegene Wohngebäude wurden getroffen, Anwohner getötet. Auch der Hof, auf dem Gleb gern spielte, war von Granatsplittern übersät. „Was hatte ich für ein Zuhause, was für eine Familie! Ich habe gearbeitet – aber die Stadt, die ich kenne, gibt es nicht mehr“, weint Katya übers Telefon aus Kramatorsk. „Was werden wir nun tun? Wohin mit uns? Wir haben praktisch nur noch unsere Unterwäsche. Und sie töten uns und töten uns immer weiter.“
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