Der gescheiterte Kapitalismus

Gesellschaft Die Botschaft des linken Ökonomen Thomas Piketty ist finster: Die Schere zwischen arm und reich droht uns zu zerstören
Thomas Piketty
Thomas Piketty

Foto: Fred Dufour/ AFP/ Getty Images

Auf einmal macht ein neuer Ökonom von sich reden, der nicht der politischen Rechten angehört. Auf der Konferenz des Institute of New Economic Thinking, die Anfang April in Toronto stattfand, wurde Thomas Pikettys Buch Capital in the Twenty-First Century bei jeder Veranstaltung, an der ich teilnahm, mindestens einmal erwähnt. Man muss in die 1970ern zu Milton Friedman zurückgehen, um einen Wirtschaftswissenschaftler zu finden, der einen solchen Einfluss ausübte.

Wie Friedman ist auch Piketty ein Kind seiner Zeit. An die Stelle der Inflationsangst der Siebziger sind heute Bedenken getreten, der Einfluss einer Schicht von Superreichen auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft könnte zu groß geworden sein. Piketty hat keinen Zweifel daran, dass die immer weiter steigende Ungleichheit der Besitzverhältnisse ein Ausmaß erreicht hat, wo sie die Zukunft des Kapitalismus selbst bedroht. Er hat es sogar bewiesen.

Die überraschende These dürfte denjenigen missfallen, die glauben, die am Tauschwert orientierte Produktionsweise setzte die Ungleichheit der Lebens- und Einkommensverhältnisse voraus. Der Kapitalismus brauche eine ungleiche Verteilung des Reichtums als Anreiz für das Eingehen von Risiken und persönliche Anstrengung, lautet ihr wirtschaftsliberales Argument. Wenn der Staat versuche, die Marktwirtschaft mittels Steuern auf Vermögen, Kapital, Erbschaften und Eigentum zu regulieren, töte er damit die Gans, die die goldenen Eier legt.

Piketty zeigt anhand von Wirtschaftsdaten und Steuerlisten, die einen Zeitraum von 200 Jahren umfassen, dass das nicht stimmt. Das Kapital, so argumentiert er, ist blind. Sobald seine Rendite – in Form jeglicher Art von Reinvestitionen von Mietwohnungen bis hin zu einem neuen PKW-Werk – das Realwachstum von Löhnen und Produktion übersteigt, wie dies in der Geschichte (bis auf einige wenige Phase wie etwa 1910 bis 1940 ) stets der Fall war – wächst das Kapital schneller als die Wirtschaft. Die Ungleichheit der Vermögen steigt exponentiell.

Dieser Prozess wird durch Erbschaften und dem Phänomen überbezahlter „Super-Manager“, vor allem in den USA und Großbritannien, noch weiter verschärft. Die Bezahlung von Spitzenfunktioniären habe hier nichts mehr mit wahren Verdiensten zu tun – in Kerneuropa und Japan falle sie wesentlich geringer aus. Wichtig in Pikettys Denken ist die Erkenntnis, dass Vermögensunterschiede kein Naturgesetz darstellen. Eine Gesellschaft kann sie hinnehmen oder gegen sie vorgehen.

Die Ungleichheit der Vermögen ist in Europa und den USA ungefähr doppelt so groß wie die Ungleichheit der Einkommen: Die reichsten zehn Prozent besitzen zwischen 60 und 70 Prozent des Gesamtvermögens, aber nur 25 bi 35 Prozent der Gesamteinkommen. Diese Konzentration des Reichtums existierte allerdings bereits vor dem Ersten Weltkrieg und geht bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, als das Glück zu erben das dominierende Element im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben darstellte. Es besteht eine beständige Wechselwirkung zwischen Vermögen und Einkommen: Ein großes Vermögen sorgt dafür, dass verdientes Einkommen durch unverdientes Kapitaleinkommen ergänzt wird und die Spirale der Ungleichheit weiter anheizt.

Die Verschwendung und die unglaublichen sozialen Spannungen des edwardianischen Englands, des Frankreichs der Belle Epoche und des Amerikas der robber barons, schienen für immer der Vergangenheit anzugehören. Doch Piketty zeigt, dass die Phase zwischen 1910 und 1950, in der die Ungleichheit verringert wurde, eine Ausnahme darstellt. Krieg und Depression installierten die Dynamik der Ungleichheit wieder und brachten gleichzeitig die Einsicht in die Notwenidgkeit, hohe Einkommen, und insbesondere Einkommen aus Vermögen, hoch zu besteuern, um den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. Heute ist der Prozess des blinden Kapitals, das sich in immer weniger Händen immer schneller vermehr, wieder im globalen Maßstab in Gang. Mit möglicherweise fatalen Folgen, wie Piketty schreibt.

Es fängt damit an, dass mit Ausnahme von ein zwei spektakulären Sillicon-Valley-Startups fast kein neuer Unternehmer mehr soviel Kapital akkumulieren kann, um die unglaubliche Konzentration des bereits bestehenden Reichtums in Frage stellen zu können. In diesem Sinne „verschlingt die Vergangneheit die Zukunft“. Es ist bezeichnend, dass der Duke of Westminster und der Earl of Cadogan zwei der reichsten Männer Britanniens sind. Sie verdanken dies allein den Feldern in Mayfair and Chelsea, die ihre Familien vor Jahrhunderten besaßen und dem Unwillen, die Schlupflöcher zu schließen, die Familienvermögen immer weiter anwachsen lassen.

Jeder, der in Branchen Vermögenswerte besitzt, in denen die Renditen über dem Wirtschaftswachstum liegen, wird schnell und unverhältnismäßig reicher. Der Anreiz ist größer, von Zinsen und Einnahmen zu leben, als ein Risiko einzugehen. Man muss sich nur einmal die explosionsartige Zunahme von Mieteigentum ansehen. Unsere Unternehmen und unsere Reichen müssen keine Innovationen fördern. Sie müssen nicht einmal investieren: Alles, was sie tun müssen, ist, ihre Erträge und Steuererleichterungen einstreichen. Steueroasen und der Zinsensins erledigen dann den Rest.

Die kapitalistische Dynamik wird so untergraben. Andere Kräfte verstärken diesen Effekt noch zusätzlich. Piketty bemerkt, dass die Reichen gut darin sind, ihre Vermögen der Besteuerung zu entziehen, und dass der Anteil am gesatmen Steueraufkommen, der von den mittleren Einkommen getragen wird, immer weiter ansteigt. Selbst wenn es stimmt, dass in Großbritannien die obersten ein Prozent ein Drittel der gesamten Einkommenssteuer zahlen, so macht die Einkommenssteuer doch lediglich 25 Prozent aller Steuereinnahmen aus: 45% stammen aus Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuern und Versicherungsleitungen, die von der Masse der Bevölkerung bezahlt werden.

Dies führt dazu, dass die der Durchschnittssteuerzahler immer stärker für die Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau aufkommen muss. Die Ungleichheit der Vermögen führt so zu einer ins Stocken geratenden, innovationsfeindlichen Renten-Ökonomien, härteren Arbeitsbedingungen und einer Verschlechterung des öffentlichen Dienstes. Mittlerweile werden die Reichen immer reicher und entfernen sich immer weiter vom Rest der Gesellschaft: nicht durch Verdienste oder harte Arbeit, sondern schlicht aufgrund der Tatsache, dass sie über Kapital verfügen, das langfristig mehr Rendite abwirft als die Löhne.

Aus der Geschichte lässt sich lernen, dass Gesellschaften sich zu schützen versuchen: Sie schließen ihre Grenzen, es kommt zu Revolutionen – oder zu Krieg. Piketty fürchtet, das könnte sich wiederholen. Seine Kritiker entgegnen, dass die Abneigung gegenüber den Super-Reichen bei einem höheren Lebensstandard der Gesamtbevölkerung zurückgehen werde – und sie suchen in seinen Daten mit großer Sorgfalt nach Fehlern. Bislang allerdings ohne Erfolg.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Menschen ihren angeborenen Gerechtigkeitssinn verloren haben. Natürlich kommt es zu verschiedenen Zeiten zu unterschiedlichen Reaktionen: Ich vermute, dass ein Teil der Energie hinter dem schottischen Nationalismus sich aus dem Wunsch speist, ein Land aufzubauen, in dem der Reichtum nicht so ungleich verteilt ist wie in England.

Seine Lösungen – ein Spitzensteuersatz von bis zu 80 Prozent, eine wirkungsvolle Erbschaftssteuer, und eine globale Vermögenssteuer – sind gegenwärtig unvorstellbar.

Doch, wie Piketty sagt, besteht die Aufgabe der Ökonomen darin, sie weiter in den Bereich des Vorstellbaren zu rücken. Sein Buch leistet dazu ohne Zweifel einen Beitrag.

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Zilla Hofman/ Holger Hutt
Geschrieben von

Will Hutton | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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