Er sieht ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Der Mann, der in einem halbleeren Restaurant im Zentrum von London zur Mittagszeit die Speisekarte studiert, sieht wie eine abgemilderte Version des Tom Jones aus, mit dem ich gerechnet hatte. Seine Haut ist nicht mehr so mahagonifarben, das Haar nicht mehr tiefschwarz gefärbt, seine Zähne nicht mehr ganz so blendend weiß. Aber auch sein ganzer Habitus wirkt auf mich ruhiger als gedacht.
Er ist inzwischen siebzig – natürlich – und vielleicht hat der Lauf der Zeit das Draufgängerische und Anzügliche, die Haartönungen und die Bräune verblassen lassen. Vielleicht hat er auch erkannt, dass er kaum mehr etwas beweisen muss. Während der Zeit, die wir miteinander verbringen, kommt der alte Sc
er alte Schürzenjäger nur einmal durch, als er eine große Flasche Mineralwasser bestellt. Die Kellnerin bringt sie an unseren Tisch und Jones nimmt augenzwinkernd Maß an der Flasche. „Oh“, sagt er. „Das ist wirklich ein großes Teil.“ Ein kurzer Rückfall in alte Zeiten. Die Kellnerin sieht ihn verständnislos an.Jones hat immer wieder mit Unerwartetem Karriere gemacht. In den Sechzigern, als die Charts von Musikgruppen, Pop-Bands und Möchtegern-Beatles mit hellen, süßlichen Stimmen bevölkert waren, sang er allein, schmetterte Hits wie „Delilah“ und „What’s New Pussycat?“. Er eroberte Amerika und erfand sich als Country-Sänger neu, bevor er seine Charts-Karriere gegen Ende der Achtziger mit einem Cover des Prince-Songs „Kiss“ wiederbelebte. Es folgten Zusammenarbeiten mit Cerys Matthews, Mousse T und Robbie Williams, Alben mit Wyclef Jean und Jools Holland.Die Schwere von Johnny CashIn diesem Jahr nun folgt die nächste Kehrtwende: Jones kehrt mit einem Album zurück, das sich als das erlesenste seiner Karriere erweisen könnte. Praise Blame vereint Blues-Nummern und Spirituals, Songs von Bob Dylan und John Lee Hooker – Material, das Jones’ bemerkenswerte Stimme zur Geltung bringt. Reduziert und schlicht, erinnern die Schwere und die nachdenkliche Qualität der Songs an die letzten Aufnahmen des verstorbenen Johnny Cash.Am Anfang stand die Idee zu einem Weihnachtsalbum. Das Label Island Records bat Jones „ein paar Weihnachtslieder oder etwas anderes Religiöses“ aufzunehmen, so erinnert er sich. Er war nicht abgeneigt, aber hatte keine Eile, die Sache schnell durchzuziehen, um die Platte rechtzeitig unter den Tannenbaum zu bringen. „Wir haben gesagt: ‚Wenn wir das machen, warum lassen wir uns nicht Zeit und machen es richtig?’ Gott sei Dank gab es den Vorschlag, als Produzent Ethan Johns zu nehmen.“ Johns ist für seinen rohen, organischen Ansatz bekannt. Er überzeugte Jones, den Big-Band-Sound hinter sich zu lassen. „Johns sagte: ‚Ich möchte, dass alles authentisch ist. Wir suchen die Songs aus, gehen nur mit einer Rhythmusgruppe ins Studio und probieren’s aus.‘ Und ich erwiderte: ‚Klingt gut.‘“Sie begannen mit zwei Songs: „Did Trouble Me“ und der Gospel-Nummer „Run On“. Während sie letztere aufnahmen, wurde ihnen klar, in welche Richtung das Album gehen sollte. „Urplötzlich zündete es“, erinnert sich Jones. „Wir machten uns auf die Suche nach spirituellen Sachen – Songs, die etwas zu bedeuten haben.“ Er sagt es beinahe zärtlich. Für ihn war es in vielerlei Hinsicht eine Rückkehr zu den Anfängen. Jones, dessen bürgerlicher Name Thomas Woodward lautet, wuchs als Sohn eines Bergarbeiters im walisischen Pontypridd auf. „Dort war Musik eine extrem große Sache, insbesondere der Gesang. Vielleicht weil wir keine Instrumente besaßen, vielleicht aber auch, weil es uns quasi körperlich eingebaut ist. Ich glaube, dass die Stimme mehr Ausdruckskraft besitzt als alles andere. Als Kind wurde ich ständig zum Singen ermutigt.“Sie sangen damals überall. Bei Geburtstagsfesten, auf Hochzeiten und bei Beerdigungen. „Es gibt eine walisische Weise, die wir The Old Rugged Cross nennen“, erzählt Jones mit leicht verklärtem Blick. „Sie wird bei Begräbnissen gesungen. Ich wollte sie in einer A-Cappella-Version auf dem Album haben, doch sie passte nicht.“ Es klingt melancholisch. Er habe sich nie gern einengen lassen, sagt Jones. Wer in einem Chor singe, bekomme einen Part zugewiesen, den man zu singen habe. „Ich habe lieber für mich allein gesungen. Selbst als Sternsinger bin ich allein losgezogen. Wenn ich mich den anderen Jungs anschloss, dann verbockten sie es immer, denn wir sind alle laut. Waliser sind laute Sänger, auch wenn sie falsch singen.“Probleme im MusikunterrichtLaut seiner Selbsteinschätzung hat Jones im Musikunterricht nicht gerade geglänzt. „Es lag daran, dass sie von dir verlangen, auf eine ganz bestimmte Art zu singen“, erklärt er. Doch jeden Freitag veranstalteten sie in der Schule kleine Konzerte. „Und ich ging auf die Bühne und sang Songs, die gerade angesagt waren. ‚Ghost Riders in the Sky‘ war eine große Nummer, als ich ein Junge war. Vaughn Monroe hat das gesungen, Frankie Laine, eine ganze Reihe von Leuten. Aber auch das war ein Country-Cowboy-Gospel-Song.“ Er trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. „Dieser Rhythmus ist die Bass Drum, damit habe ich mich während des Singens begleitet“, sagt er und grinst. „Mein Vater hat mir beigebracht, wie das funktioniert.“Jones sang auch in der Kirche – in einer presbyterianischen Gemeinde, wo er immer zu spät zum Gottesdienst kam und der schwere Klang der Orgel lehrte, Gott zu fürchten. „Diese spirituellen Songs auf dem neuen Album sind für mich etwas sehr Natürliches. Es ist nicht so, als würde ich unerforschtes Terrain betreten. Ich weiß, was diese Lieder ausmacht. Sie sind mein Ding. Ich habe immer solche Sachen gehört.“Auch in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern, als er mit seiner musikalischen Karriere ernst machte und in Clubs und Pubs mit einer Cover-Band auftrat, sang er ausschließlich mit Unterstützung einer Rhythmusgruppe die alten Lieder, die ihn bewegten. „Die Band war eine Cover-Band. Als ich sie kennenlernte, wollten sie Popsongs spielen, Beatles-Songs und Dinge, die damals angesagt waren. Aber ich brachte sie dazu, den Rock’n’Roll der Fünfziger zu spielen, den ich liebte. Und ich kehrte zum Gospel zurück.“Zu Beginn seiner Karriere nahmen die Leute seine musikalischen Ambitionen nicht wirklich ernst. „Wissen Sie, die Waliser haben zwar den Gesang im Blut“, sagt er. „Ich wollte aber ein Profi-Sänger werden, und so etwas machte bei uns damals keiner. Musik war eine Lebensweise, alle waren Amateur-Sänger. Und von Südwales nach London war es ein großer Schritt.“ Doch der junge Jones war nicht zu beirren. Ansporn gab ihm eine Fernsehsendung, die er als kleiner Junge gesehen hatte. „Die Al Jolson Story begleitete den Weg des amerikanischen Musikers nach oben, sie zeigte, wie er aufwuchs und wie er ins Showbusiness reinkam. Das hat mich sehr interessiert. Ich dachte, ‚Wow! Ich will wie dieser Typ sein! Wie er sich bewegt und singt!‘“Er habe nicht groß an seinem später berühmt gewordenen, exaltierten Tanzstil gearbeitet, sagt Jones. Die Bewegungen seien ganz von selbst gekommen. „Ich habe den Rhythmus im Blut. Meine Mutter hat mir erzählt, wie sie mich als Kind in einem Tuch an ihrem Körper trug, damit sie die Hände frei hatte, um im Haushalt zu arbeiten. Wenn im Radio ein rhythmischer Song kam, dann begann ich mich im Tuch zu bewegen.“ Bis Jones in den Clubs auftrat, waren seine Moves aber wesentlich vulgärer und weniger familienfreundlich geworden. Als ich ihn darauf anspreche, lacht er und sieht verlegen auf seinen Teller mit Fish und Chips. „Oh ja, ich habe schon verstanden: ‚Dieser Tom, er ist so ein schlimmer Junge!‘“Sex war immer ein Schlüsselelement zu Tom Jones’ Anziehungskraft, mit der er bis heute über 100 Millionen Platten verkauft hat. Jones war aber nie eines dieser aalglatten Sexsymbole, eher ein verruchter Spitzbube, der den Ruf eines Frauenhelden hatte, obwohl er – bis zum heutigen Tag – mit seiner Jugendliebe verheiratet ist. Dennoch zelebrierte er mit Songs wie „Sex Bomb“ dieses verruchte Image.Auf Praise Blame sucht man vergeblich nach sexuellen Anspielungen; das Album ist zwar verführerisch – seine Stimme hat nie so sinnlich und voll geklungen –, doch die Themen sind eher herbstlich. Es geht um schwere Entscheidungen und Verantwortung, die man für sein Handeln übernehmen muss. Selbst der Titel, sagt er rasch, sei eine Referenz an das Leben, das hinter ihm liege. „Ich bin meine ganze Karriere lang gelobt worden und ich bin ebenso oft getadelt worden“, sagt Jones. Wofür der Tadel? „Nun, Sie wissen schon.“ Er errötet beinahe. „Vielleicht waren meine Hosen echt etwas zu eng. Vielleicht waren sie das. Und das Höschen-Werfen. Als hätte ich das angezettelt.“ Hat er das denn nicht? „Ich habe nicht damit angefangen“, beharrt er. „Aber wenn etwas nun mal geschieht, dann versucht man natürlich, es zu seinem Vorteil zu nutzen.“Der Wendepunkt in Jones Karriere kam, als die Sache mit den Höschen aus dem Ruder lief. Nachdem sein Freund und langjähriger Manager Gordon Mills 1986 starb, übernahm Jones’ Sohn Mark sein Management. Jones Karriere war damals etwas eingeschlafen und er war damit beschäftigt, Platten für den amerikanischen Markt zu produzieren. „Doch ich musste erkennen, dass ich mir damit mein eigenes Grab schaufelte, weil ich den Rest der Welt ignorierte“, sagt er heute.In den Sechzigern und Siebzigern liefen die Dinge sehr gut, erinnert er sich. „Aber dann war es irgendwann anders. Ich habe zu viele Live-Shows gespielt. Wenn man andauernd auftritt, kümmert man sich zu wenig um die Aufnahmen. Aber genau das hätte ich tun sollen.“ Nach einer Pause fährt er fort: „Ich werde manchmal gefragt, was ich ändern würde, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte. Ich antworte dann immer: ‚Ich würde mich in den Siebzigern mehr auf meine Aufnahmen konzentrieren.‘“ Stattdessen ließ er sich mit Unterhosen bewerfen. „Man wird da einfach hineingezogen. Sie kamen mir in die Quere, sie ließen alles aussehen, als ob ...“ Jones wirkt leicht verzweifelt. „So wollte ich es nicht haben.“ Schließlich brachten ein paar einfache Ratschläge seines Sohnes die Wende. „Mark sagte zu mir: ‚Schau, wenn sie Höschen werfen, dann lass die liegen – fang sie einfach nicht auf und wisch dir ja nicht die Stirn damit.‘“Ein Hauch von Traurigkeit Seither sind 25 Jahre vergangen. Man spürt, dass Jones bereit ist, sich immer weiterzuentwickeln. Er wirkt nachdenklich und ihn umgibt ein Hauch von Traurigkeit. Er spricht darüber, dass seine Frau schwer krank ist, darüber, wie er erkannt hat, dass auch er nicht unbesiegbar ist, wie eine bestimmte Zeile in „Did Trouble Me“, der ersten Single-Auskopplung aus dem neuen Album, ihn berührt: „If I let things stand that shouldn’t be“, singt er.Hat ihn das Älterwerden etwas gelehrt? „Ich glaube, ich habe mit dem Alter erkannt, dass man sich bei jeder neuen Platte die Frage stellen muss: ‚Was hat es mit diesem Album auf sich?‘ Nicht einfach nur ein Misch-Masch an Songs, wie ich es früher gemacht habe.“ Das Überraschende ist, für ihn so sehr wie für uns, dass der echte Tom Jones nicht zwischen den Lichtern von Las Vegas und den Höschen-übersäten Bühnen zu finden ist, sondern hier, bei den Liedern seiner Heimat. „Als ich das Album hörte, dachte ich: Das bin ich“, sagt er sanft. „Das ist mein Lebenselexier. Das ist es, wo ich herkomme.“Laura Barton schreibt für den Guardian über Musik und Popkultur. Ihre Kolumne Hail, Hail, Rock ’n’ Rollerscheint alle 14 Tage jeweils donnerstags auf guardian.co.uk.
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