Wir sind auf einem Highway nördlich von Sydney unterwegs, auf dem Weg zu einem Konzert seiner Band The Bad Seeds, als Nick Cave von sich aus darauf zu sprechen kommt: „Wir werden über Arthur reden müssen, nicht wahr?“
Die Show am Abend ist Teil einer größeren Australien-Tour. Erstmals seit dem Tod seines 15-jährigen Sohnes steht Cave hier, am anderen Ende der Welt, wieder auf der Bühne. Arthur, der Teenager, hatte im Juli 2015 mit LSD experimentiert und war daraufhin von einer Klippe gestürzt, in der Nähe des britischen Seebads Brighton. Alle Ermittler gehen von einem Unfall aus, nicht von einem Selbstmord. Die Tragödie überschattete die Aufnahmen für das 16. Studioalbum von Nick Cave and The Bad Seeds, das im Herbst 2016 herauskam, unter dem morbiden Titel Skeleton Tree, „Skelett-Baum“. Die Fans, die Kritiker, das Livepublikum wissen um seinen Schmerz. Sie begreifen Skeleton Tree als ein Traueralbum, sie kennen den Gram, der den Musiker seit fast zwei Jahren belastet. Erst recht diejenigen, die den parallel zur Platte herausgekommenen Film One More Time with Feeling („Noch einmal mit Gefühl“) gesehen haben, eine Schwarz-Weiß-Dokumentation, in der Regisseur Andrew Dominik Caves Trauer eindrücklich eingefangen hat.
Noch im Auto fragt mich Cave, ob er mir zu diesem Thema vielleicht auch einige Dinge per E-Mail sagen könne. Falls es im direkten Gespräch nicht so gut laufen sollte. Die Dinge kämen ihm nie so über die Lippen, wie er es beabsichtige. Wenn er ein Interview gebe, sehe er immer alles schon als gedruckten Text vor sich, dann falle es ihm schwer, überhaupt noch etwas „Wahres“ zu sagen. „Wenn ich mich aber schriftlich äußern und dann vielleicht auch noch auf das reagieren könnte, was ich spontan im Gespräch sagte, würde ich das sehr zu schätzen wissen.“ – „Sicher, können wir so machen“, antworte ich ihm. Cave fährt fort: „Die Sache ist die: Ich würde wirklich gern einiges über Arthur sagen. Aber ich habe auch Angst, es auszusprechen.“
Der schwerste Verlust von allen
Der Tod des eigenen Kindes ist für die meisten Erwachsenen weit schwerer zu verarbeiten als der Verlust des Lebenspartners. „Es ist, als sei die Zukunft gleich mitgestorben.“ So oder so ähnlich äußern sich Betroffene in Selbsthilfegruppen, in Trauerberatungen oder Online-Foren. Die Generationenfolge ist plötzlich unterbrochen: Alles, was die Eltern ihrem Kind für später mitgeben wollten – auch die Hoffnung auf das eigene Weiterleben in den Nachfahren, den Enkeln und Urenkeln – ist dahin. Und bei vielen bleibt die quälende Frage zurück: „Hätte ich das als Mutter oder Vater nicht irgendwie verhindern müssen?“ Diese Erfahrung ist traumatisch. Von „verwaisten Eltern“ sprechen Seelsorger und Psychologen.
Nick Cave ist nicht der einzige Prominente, der sich, nach einigem Zögern, öffentlich zu diesem Schmerz äußert. 1991 verlor der Musiker Eric Clapton seinen vierjährigen Sohn Conor, ebenfalls durch einen Sturz: Der Junge fiel aus dem 53. Stock eines Hochhauses in New York. Clapton widmete ihm den Song Tears in Heaven. Erst vier Jahre alt war auch die Tochter von Boxer Mike Tyson, als sie sich 2009 beim Spielen in ein Laufband verwickelte und erdrosselte. Hierzulande sprach Sängerin Nena immer wieder offen über den Tod ihres erstgeborenen Sohnes Christopher, der wegen Sauerstoffmangel behindert zur Welt gekommen war und elf Monate später starb.
Die Dokumentation One More Time with Feeling, die von Nick Caves Trauer erzählt, ist seit kurzem als Doppel-DVD erhältlich (Rough Trade, 117 Min.). Soeben erschien bei BMG außerdem das Album Lovely Creatures. The Best of Nick Cave and The Bad Seeds (1984 – 2014). Redaktion
Zwei Monate vor Beginn der Tour – der Tod seines Sohnes lag gut ein Jahr zurück – haute es Cave noch einmal richtig um. Eines helllichten Tages habe er sich ins Bett legen müssen und sei nicht mehr in der Lage gewesen, wieder aufzustehen. „Es stürzte alles wieder über mir zusammen.“ Nun läuft vor jedem Konzert ein düsteres elektronisches Stück, ein Vorspiel, das wie aus der Unterwelt klingt. Caves Sprechgesang wirkt dabei wie eine Beschwörung aus Dantes Inferno, der Text ist schwer zu verstehen. „Far from your eyes in a place where winter never comes … And all along the wind I run … And I return to this place …“ – immer wieder geht es darum, sich dem Wind zu stellen. Und zu diesem einen ganz bestimmten Ort zurückzukehren.
Mit diesem sehr speziellen Eröffnungsstück hat Cave inzwischen so seine Schwierigkeiten. Der Bad-Seeds-Bandleader und Ko-Songautor Warren Ellis hatte es gut gemeint, indem er das Stück extra für ihn arrangierte. Doch im Moment kann Cave es nicht ertragen. Also bat er darum, ihm einfach ein paar Minuten später Bescheid zu sagen, damit er nicht kurz vor dem Auftritt in den Kulissen stehen und dieses Stück mit anhören muss. „Es ist so leicht, kurz bevor man auf die Bühne geht, die Lust und die Kraft zu verlieren. Im einen Augenblick denkst du noch ,Oh yeah!’, und plötzlich wird daraus ,Oh nein!‘.“
Langsam zurück in die Welt
Bei den Konzerten in Australien schien er aber immer ausgesprochen gut drauf zu sein. Ja, er wirkte jeden Abend wie von einer Last befreit, aufgeweckt, froh, wieder aufzutreten. Immer wenn ich ihn nach einem der langen und vom Publikum begeistert aufgenommenen Auftritte hinter der Bühne traf, waren ein Funkeln und eine kräftige Wärme in seinen Augen. Arthur war nicht Caves einziger Sohn. Der Zwillingsbruder, Earl, lebt, ist gesund – und hat Cave gerade ganz neu für die 1980er-Band The Smiths begeistert. „Magst du sie?“, fragt er mich, mit begeistertem und neugierigem Blick, so, als spräche er gerade vom letzten großen Schrei. „Großartige Texte!“
Man merkt dem 59-Jährigen an, wie er Schritt für Schritt versucht, wieder in die Welt zurückzukommen. Ich vermute, es dauert nicht mehr lange, bis er wieder mit voller Kraft unterwegs sein wird. Cave besitzt eine Energie, die auch seine Trauer nicht verdecken kann, man spürt sie fast physisch, wenn man sich in seiner Nähe befindet. Er erzählt mir, dass er schon wieder neue Songs für ein weiteres Album schreibt. Gemeinsam mit dem Bad-Seeds-Kollegen Ellis hat er den Soundtrack für die Serie Mars des Wissenschaftssenders National Geographic veröffentlicht, mehrere weitere Anfragen für Filmmusik liegen bei ihm auf dem Tisch, außerdem hat er an einem Kinderbuch gearbeitet.
Als wir uns in einem Hotel wieder treffen, um uns in Ruhe weiter zu unterhalten, traue ich mich, Folgendes anzumerken: dass es mich nicht verwundert hätte, wenn er sich nach dem Tod seines Sohnes die Sinnfrage gestellt hätt: „Wozu das alles?“ – „Wozu?“, wiederholt er mit beinahe ungläubigem Unterton. „Nein, nein“, sagt er, „das habe ich mich nie auch nur eine Sekunde gefragt.“ Tatsächlich habe ihm „diese Sache“ zunächst fast alles geraubt, vor allem den „Raum für die Imagination“, erklärt er. „Es sitzt einfach da und erfüllt den gesamten Raum. Es erfüllt deinen Körper. Du kannst spüren, wie es gegen die Innenseiten deiner Brust drückt, wie es an deinen Händen haftet.“ Mit all dieser Schwere sei ihm das, was man gemeinhin Kreativität nennt, „wie Luxus“ erschienen.
„Aber darüber bin ich hinweg“, fährt er fort. „Ich arbeite jetzt anders. Ich habe mein Büro aufgegeben, sitze mit großem Vergnügen in meinem Schlafzimmer am Fenster, umgeben von meinen Büchern, denke einfach nach und schreibe. Ich bemühe mich nicht, unbedingt Songs zu schreiben, sondern häufe oft einfach nur Zeilen, Gedanken, Bilder und Ideen an.“ Und er zitiert die britische Dichterin Stevie Smith: „Ich habe das Gefühl, über einen Berg geklettert und in eine weite, offene Landschaft hinausgetreten zu sein – in die ,süßen Ebenen der Anarchie‘.“
Kurz nach Arthurs Tod habe er gleich eine ganze Reihe von Songs geschrieben. „Aber ich hatte das Gefühl, sie seien eine Art Betrug an dem, was wir damals alle durchmachten, oder sogar noch schlimmer: ein Betrug an Arthur selbst. Es fehlte den Liedern an emotionaler Nähe, also habe ich sie wieder verworfen.“ Überhaupt habe er heute nicht mehr viel übrig für allzu stringente, erzählerische Texte. „Die Vorstellung, unser Leben würde so geradlinig verlaufen wie in einer Geschichte, erscheint mir zunehmend absurd und einer Art intellektueller Bequemlichkeit geschuldet. Ich habe das Gefühl, dass die Ereignisse im Leben sich eher verhalten wie Glocken, deren Schwingungen sich ausbreiten und alles berühren: unsere Gegenwart, unsere Zukunft, auch unsere Vergangenheit. Manchmal scheinen Zeit und Raum aufeinander zuzurasen und in einem großen Knall der Verzweiflung miteinander zu kollidieren.“ Und er setzt, etwas rätselhaft, hinzu: „Es gibt ein reines Herz – aber überall um es herum herrscht Chaos.“
Cave erzählt noch immer Geschichten – in Songs wie Magneto oder Higgs Boson Blues, in dem es um ein Experiment geht, bei dem Wissenschaftler ein sogenanntes Gottesteilchen isolieren. Sie wirken expressionistischer, unbewusster, verträumter, tiefer als früher. „Ich kann keinen Song schreiben, den ich nicht sehen kann“, sagt er dazu. Ich hatte mich gefragt, ob sein persönliches Leid Caves Werk schmälern und die Vergangenheit im Vergleich zu den Wunden der Gegenwart schwach und theatralisch erscheinen lassen würde. Aber wenn ich mir sein jetzt gerade erschienenes Best-of-Album Lovely Creatures – The Best of Nick Cave and The Bad Seeds (1984 – 2014) (BMG)anhöre, erscheint es mir eher so, als komme ihm sein Gesamtwerk entgegen, als spreche es auf gleichzeitig vertraute und ganze neue Art über diesen Mann – vielleicht auch zu diesem Mann.
Tagelang sind wir um das eigentliche Thema herumgeschlichen. Aber dann spricht Cave doch noch über Arthur. „Es ist schwer, jemandem, der sein Kind verloren hat, etwas Hilfreiches zu sagen. Das habe ich immer wieder gemerkt. Auch daran, wie sich die Menschen anstrengen, das Richtige zu sagen. Viele meinten, sie könnten sich nicht vorstellen, wie es wäre, das eigene Kind zu verlieren. Aber in Wahrheit können sie das. Ja – ich glaube, jeder kann sich vorstellen, wie das ist.“ Was ihn störe, sei die weitverbreitete Ansicht, dass man als Betroffener mit seiner Trauer letztlich allein sei. „Für mich stimmt das nicht. Der Zuspruch, den wir nach Arthurs Tod erhalten haben, insbesondere über die sozialen Medien, von Leuten, die ich gar nicht persönlich kenne, denen aber meine Musik gefällt und die uns ihre Hilfe angeboten haben, war enorm. Die Gefühle, die all das bei anderen Menschen ausgelöst hat, und die Art, wie sie mir über ihre eigene Trauer geschrieben haben, war gewaltig und hat mir und meiner Familie sehr geholfen.“
Dabei hatte er zunächst, unmittelbar nach dem tragischen Todesfall, vorgehabt, sich vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. „Der Impuls war ganz klar der, mich zu verstecken. Aber wir waren praktisch gezwungen, öffentlich zu trauern, so ist es eben, wenn man als Person bekannt ist. Und dann hat sich herausgestellt, dass uns genau das vermutlich gerettet hat.“ Natürlich habe es etwas „Heroisches und Erhabenes“, für sich alleine zu leiden und sich in eine Welt der Erinnerung einzuschließen, sagt Cave. „Aber damit begibt man sich in eine gefährliche, vielleicht sogar lebensbedrohliche Situation. Susie und mir ist das schnell klargeworden. Wir passen aufeinander auf und achten darauf, dass wir uns nicht abschotten.“
Die alten Lieder berühren ihn
Über seine Frau Susie Bick, die das Modelabel „The Vampire’s Wife“ leitet, spricht er gern und viel. Seit 18 Jahren ist er mit der zwölf Jahre jüngeren Britin verheiratet. „Susie haut mich um mit der Art, wie sie sich seit dem Tod unseres Sohnes entwickelt hat. Sie hat sich stark in ihre Arbeit gestürzt – und dabei die Heilkraft entdeckt, die sich entfaltet, wenn man sich mit dem beschäftigt, was man gerne tut. Das ist nicht nur Ablenkung. Nein, ihre Arbeit hat Susie auf eine sehr schöne und kreative Weise aus der Trauerblase herausgeholt, in der wir gefangen waren. Das zu sehen, war sehr inspirierend für mich.“
Einen anderen, ebenso wichtigen Wiedererweckungsmoment hat ihm seine eigene Musik beschert. Wenn er heute die alten Lieder wieder spiele, die auf Lovely Creatures versammelt sind, dann passiere in ihm mehr, als er sich je habe vorstellen können: „Ich habe mich diesen Liedern seit Jahren nicht genähert. Bei manchen bin ich regelrecht erschüttert darüber, dass sie für mich komplett die Bedeutung geändert haben. Into My Arms etwa. Es fühlt sich jetzt an, als würde ich es nicht mehr für irgendjemanden singen, sondern …“ Er verstummt, überlegt, wie er den Satz beenden will. „Ich will nicht, dass das Publikum heruntergezogen wird und die Leute sich schlecht fühlen. Denn so fühle ich mich auch nicht. Im Gegenteil: Auf der Bühne fühle ich mich großartig. Songs sind sonderbare Dinge. Sie sind geduldig und warten gespannt darauf, wie sich ihre Bedeutung mit den Jahren verändert.“
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