Der Klerus wird zum Wahlsieger

Irak Für die künftige Regierung zeichnen sich ein Durchmarsch der Schiiten und ein Regime mit theokratischen Zügen ab, während Wahlsieger Allawi leer ausgehen könnte

In der ersten Maiwoche schlossen sich die beiden mächtigsten schiitischen Blöcke – das Bündnis Rechtsstaat von Premier Nuri al-Maliki und die Irakische National-Allianz (sie wird vom Obersten Islamischen Rat ISCI dominiert) zusammen, um über ein neues Kabinett zu verhandeln. Sollten sie erfolgreich sein, werden ihnen im Parlament nur vier Sitze zur absolute Mehrheit fehlen. Eine solche Koalition dürfte deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Schalthebel der Macht in die Hände nehmen. Sie wird dies auf Kosten des sunnitischen Blocks tun, der mit Ex-Premier Ayad Allawi die Wahlen im März knapp gewann.

Viele Sunniten werden diesen Schritt als sektiererisches Manöver der Schiiten verurteilen, um sie ins Abseits zu drängen. Dennoch blieb seit dem Wahltag dieses Szenario immer das wahrscheinlichste. Es war vorherzusehen, dass Allawis Irakische Nationalbewegung in den Augen der schiitischen Parteien, auch der Kurden, zu sehr von ultranationalistischen Elementen belastet sein würde. Dabei waren Letztere so schlau, zunächst abzuwarten, während sich ihre arabischen Kollegen zerfleischten, um herauszufinden, auf welches Pferd man setzen sollte. Die neugebildete schiitische Koalition hat sich nun als klarer Favorit empfohlen, doch ist das Rennen noch längst nicht vorüber.

Ein sunnitischer Präsident?

Wenn die neue Regierung eine gewisse Legitimität haben will, dann müssen in ihr sowohl Kurden als auch Sunniten vertreten sein. Der nächste Schritt der schiitischen Koalition muss deshalb darin bestehen, die exponierten Politiker aus Allawis Block (vielleicht sogar Allawi selbst) für die neue Regierung zu werben und ihnen wichtige Ressorts anzubieten, vielleicht sogar die Präsidentschaft, bei der es sich größtenteils um ein zeremonielles Amt handelt, mindestens aber das Amt des Parlamentssprechers. Auch die Kurden werden auf eine solche Versorgung drängen, denen sehr wohl bewusst ist, dass ohne sie nicht regiert werden kann.

Doch selbst wenn es möglich sein sollte, diese Integrationsschritte zu gehen, wäre damit eine kommende irakische Führung kaum stabil. Zu gegensätzlich sind die ideologischen und politischen Agenden innerhalb der schiitischen Koalition. Ihre führenden Instanzen – die Dawa-Partei, der Obersten Islamischen Rat und die Sadristen, die Anhänger des im iranischen Exil lebenden Predigers Muqtada al-Sadr – haben das selbst erkannt: Sie sind einem Bündnis beigetreten, das einer religiösen Führungsschicht das letzte Wort bei allen Streitigkeiten zwischen ihnen zugesteht.

Das System soll so ähnlich wie die „Kollektivverantwortung“ der Kabinettsmitglieder in Großbritannien funktionieren: Die ranghöchste geistliche Autorität würde eine Entscheidung treffen und die anderen sich anschließen. Meinungsdifferenzen würden nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen. In diesem Fall wäre die höchste Autorität Großayatollah Sistani, der von einer ausgewählten Gruppe ihm nahestehender Geistlicher beraten wird, darunter sein Sohn und andere ranghohe religiöse Persönlichkeiten wie Ajatollah Mohammed Saeed al-Hakim.

Kein Gottesstaat?

Für viele wird es ein schwerer Schlag sein, diesen Hang zur Theokratie hinnehmen zu müssen. Seit der Invasion vom März 2003 hat das Land sieben blutige Jahre durchlebt, allein um den demokratischen Standard zu erreichen, den es nun hat. Die irakischen Wähler werden die Übernahme politischer Angelegenheiten durch den schiitischen Klerus als Rückschritt, wenn nicht gar Beleidigung empfinden. Man sollte freilich Realist sein und anerkennen, dass die wichtigsten politischen Entschlüsse zu einem gewissen Grad auch jetzt schon vom Votum der religiösen Elite in Najaf abhängen. Großayatollah Sistani wird regelmäßig von unterschiedlichen Akteuren konsultiert. Auch verdankt das irakische Volk seiner Intervention die Einführung offener Wahllisten, mit denen der Einfluss der Parteien gedämpft wurde.

Sollte es demnächst ein Koalitionsabkommen geben, wird dies im Übrigen zwischen den Parteien geschlossen und weniger zwischen ihnen und den Geistlichen. Es könnte auch möglich sein, dass sich die Geistlichen dazu entscheiden, die Vereinbarung öffentlich abzulehnen, um nicht vor ähnlichen Herausforderungen wie der Klerus des Iran zu stehen.

Der Irak ist immer noch weit davon entfernt, ein Gottesstaat zu werden. Seine multiethnische und multireligiöse Vielfalt bürgen dafür, dass einer solchen Versuchung widerstanden wird. Wie es politisch weitergeht, ist dennoch unsicher. Die neue schiitische Allianz wird vielleicht nicht halten, da es Streit um den Posten des Premierministers gibt und letzten Endes der große Wurf misslingt, eine repräsentative und homogene Regierung zu bilden, die keine „Geschlossene Veranstaltung“ ist.

Übersetzung: Christine Käppeler

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ranj Alaaldin | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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