Mitte Mai regnete es in Topčić Polje wie in weiten Teilen Bosniens und Serbiens in drei Tagen so viel wie sonst in drei Monaten. Fast alle Bewohner des Dorfes mussten ihre Häuser verlassen. Das schlimmste Hochwasser seit 120 Jahren kostete auf dem Balkan 34 Menschen das Leben und richtete einen Schaden von über vier Milliarden Euro an. Seit ein paar Wochen sind die Menschen nun zurückgekehrt, um mit den Aufräumarbeiten zu beginnen. Kaum einer hier ist gegen den Schaden versichert. Und viele haben zum zweiten Mal in ihrem Leben ihr Zuhause verloren. Bereits der Krieg zwischen 1992 und 1995 hatte zwei Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht.
Doch von den vielen Bildern, die die Verheerungen der Flut zeigen, fängt eins aus Topčić Polje noch etwas anderes ein, das viel über das Bosnien von heute erzählt. Es zeigt eine Frau, die mit ihrem Sohn eine Dorfstraße entlanggeht. Der Junge trägt ein Fußballtrikot mit dem Namen des Mannes, der dem Land zum ersten Mal seit seiner Geburt aus der Gewalt des Krieges neue Zuversicht gibt: Edin Džeko. Mit dem Stürmer von Manchester City konnte sich die bosnische Fußball-Nationalmannschaft erstmals für die Fußball-WM qualifizieren.
Am vergangenen Montag spielte das Team, das zur Hälfte aus Flüchtlingen besteht, die der Krieg über die ganze Welt verteilt hat, sein erstes Spiel im Allerheiligsten des Fußballs, dem Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro. Gegen den ehemaligen Weltmeister Argentinien gab es zwar eine knappe 1:2-Niederlage, dennoch sind die Chancen weiter ganz gut, dass Bosnien sich gegen die anderen Gruppengegner Nigeria und Iran durchsetzt und ins Achtelfinale einzieht. „Nach diesem Spiel bin ich mir zu 100 Prozent sicher, dass wir die nächste Runde erreichen“, gab sich Džeko kurz nach dem Abpfiff zuversichtlich. Für das kleine Land hätte ein solcher Erfolg eine kaum zu überschätzende Bedeutung. In Bosnien und Herzegowina steht die Nationalmannschaft – wie vielleicht nirgendwo sonst in diesem Maße – für die Hoffnungen einer tief zerrissenen Gesellschaft.
Als Džeko und seine Mannschaftskollegen ihr Trainingslager Ende Mai für ein Benefizspiel gegen 100 Kinder aus von dem Hochwasser betroffenen Familien unterbrachen, trug die Hälfte der Kinder, die sich den Ball gegen ihre Idole zuspielten, ein Trikot mit dem Namen des Stürmers. Und wenn man sich mit seinen Landsleuten unterhält, wird schnell klar, dass Džeko für Bosnien mehr ist als nur ein Fußballstar.
Asmir Selimovic, der vor dem Krieg nach St. Louis, Missouri, floh und dort heute Immunologie studiert, ist als Kind in seiner Heimatstadt Vlasenica einem Massenmord entkommen, weil seine Familie in das belagerte Srebrenica floh. Dort bot Fußball die einzige Möglichkeit, sich abzulenken, der Ball bestand aus zusammengewickeltem Klebeband. Selimovic erinnert sich noch lebhaft an den Tag im Juli 1995, als serbische Todesschwadronen in Srebrenica eintrafen, um Männer und Jungen für die Exekution auszusortieren: „Meine Mutter musste mich als Mädchen verkleiden, damit wir in einen Bus steigen konnten.“ In den folgenden Tagen wurden 8.000 bosnisch-muslimische Männer und Jungen in Srebrenica ermordet. Als ich Selimovic 2011 für ein Buch über die Kriegsgräuel interviewte, sprachen wir auch über Fußball. Er erklärte mir: „Džeko ist ein Nationalheld. Wenn er ein Tor geschossen hat, dann haben alle Bosnier auf der ganzen Welt ein Tor geschossen. Er ist unser Vorbild und unsere Hoffnung.“
Als Jugoslawien 1991 auseinanderbrach, gehörte das Land zu den Größen des internationalen Fußballs. Dann begann der Krieg zwischen der jugoslawischen Armee und den Kroaten, ein Jahr später das Blutvergießen in Bosnien. Das Ende des Kriegs brachte eine Aufteilung des Landes Bosnien und Herzegowina in zwei Teile, in die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina mit einer bosnisch-muslimischen und kroatischen Bevölkerungsmehrheit.
Seit der bosnische Fußballverband eine Woche nach dem Friedensabkommen von Dayton im November 1995 von der Fifa anerkannt wurde, befindet sich das Land aber permanent in Gefahr, entlang ethnischer Linien wieder auseinanderzubrechen. Dies spiegelt sich im Fußball: Bosnische Serben unterstützen die serbische Nationalmannschaft, bosnische Kroaten die kroatische.
Alte Grenzen in den Vereinen
Der Verband ist mit politischen Vertretern besetzt, die überhaupt nichts mit Fußball zu tun haben und die beiden Landesteile haben ihren eigenen Ligabetriebe. Lange gab es überhaupt keine landesweiten Spiele. Und seit die beiden Verbände die ersten Ligen 2000 zusammengelegt haben, kommt es immer wieder zu Zusammenstößen. Zwei der drei Erstliga-Klubs Sarajevos werden überwiegend von bosnischen Muslimen unterstützt, einer von Serben. In Mostar gibt es eine bosnische und eine kroatische Mannschaft. Bei einem Spiel zwischen dem bosnischen FK Sarajevo und dem kroatischen Široki Brijeg wurde 2009 ein Fan ermordet. In der abgelaufenen Saison musste ein Spiel zwischen FK Sarajevo und der Mannschaft aus Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska, wegen Ausschreitungen abgebrochen werden.
Die Nationalmannschaft erzählt hingegen eine andere Geschichte. Sie ist der einzig funktionierende multi-ethnische Organismus in der 20-jährigen Geschichte des Landes. Wenn der Kroate Toni Šunjik aus der Abwehr heraus an den bosnischen Serben Zvjezdan Misimović im Mittelfeld abgibt und dieser für den Stürmer und Bosniaken Džeko auflegt, gibt es keine ethnischen Grenzen, überschreitet das Spiel die sonst so fest zementiert scheinenden Fronten.
„Der Rasen ist der einzige Ort, wo Bosnien wirklich stattfindet“, sagt der Srebrenica-Überlebende Asmir Selimovic. „Man kann den ganzen Scheiß nicht mit auf ein Fußballfeld nehmen. Für uns ist diese Mannschaft Bosnien. Sie ist so, wie Bosnien sein sollte, alle drei Völker vereint.“
In diesem Geiste und gegen die sektiererische Farce ihrer Fußballverbände rebellierten die bosnischen Fans. Angeführt von den Ultras des BH Fanaticos organisierten sie zahlreiche Demonstrationen und boykottierten Spiele. Einige Spieler beteiligten sich an den Protesten. Und ausnahmsweise gewannen in Bosnien einmal die Menschen. Im April 2011 schlossen die Fifa und die Uefa Bosnien von internationalen Wettkämpfen aus, bis der Verband des Landes reformiert würde. Schließlich wurden die politischen Beauftragten entlassen, ein „Normalisierungsausschuss“ übernahm und ernannte mit Safet Sušić, der einst für die jugoslawische Nationalmannschaft und Paris Staint Germain gespielt hatte, eine Fußballlegende zum Trainer. Der Verband wurde wieder zugelassen. Sušić holte die Refuseniks zurück und baute eine Mannschaft auf, die die WM-Qualifikation schaffte.
Seit einem spektakulären Tor in einem Spiel gegen Belgien 2009 hat Edin Džeko in seiner Heimat dabei den Spitznamen „Diamant“ weg, den ihm ein Fernsehkommentator verpasste. Džeko wurde 1986 im Sarajevoer Vorort Brijesce geboren, der während der Belagerung der Stadt von bosnischen Serben besetzt wurde. Das Haus seiner Familie wurde zerstört. Der junge Edin musste mit seinen Eltern und seiner Schwester bei seiner Großmutter im Keller einziehen, auf der „freien“ Seite der Belagerungslinie, die unter bosnisch-republikanischer Kontrolle stand.
Heute muss Džeko manchmal Journalisten, die nur wenig über den Krieg wissen, all das erklären. „Es war einfach beschissen“, antwortete er einmal knapp auf die Frage, wie es denn im Krieg gewesen sei. Bei seinem ersten Spiel für Manchester City stellte er sich den Fans im Begleitheft mit großer Offenheit so vor: „Ich hatte eine sehr traurige Kindheit inmitten einer Belagerung. Unser Haus wurde zerstört und wir mussten bei meinen Großeltern einziehen. Die ganze Familie – vielleicht 15 Leute – drängte sich in eine Wohnung mit 35 Quadratmetern. Ich war noch jung und habe oft geweint. Jeden Tag konnte man das Gewehrfeuer hören.“
Einmal rief ihn seine Mutter Belma ins Haus. Sekunden später schlug genau an der Stelle, an der er mit einem Ball gespielt hatte, eine Mörsergranate ein. „Wir haben Freunde und Verwandte verloren“, schrieb Džeko weiter. „Die Erinnerung an so etwas verlässt einen nicht.“
Solidarität zwischen Brüdern
Er spricht über seine Erfahrungen mit jungen Leuten – in Bosnien genauso wie im von Armut geprägten Manchester-Viertel Harpurhey. So wurde er auch zu Bosniens erstem Unicef-Botschafter. „Ich versuche, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich etwas verändert“, sagt er. „Ich gehe in bosnische Schulen, wo es noch immer eine Menge zu tun gibt. Viele der Schulen sind zweigeteilt, wie zwei Schulen in einer. Ich versuche den Kindern zu zeigen, dass es nicht wichtig ist, was für einen Namen sie tragen, und ob sie Muslime, Orthodoxe oder Katholiken sind.“
2003 spielte Džeko noch für Željezniča Sarajevo. Nur wenige erkannten damals sein Talent, die große Ausnahme war der tschechische Trainer Jiří Plíšek. Als Plíšek wieder in seine Heimat zurückkehrte, um dort die Mannschaft von MFK Ústí nad Labem zu trainieren, wollte er einen Spieler unbedingt mitnehmen. Als die Verantwortlichen bei Labem sich nur halbherzig für die Idee begeistern konnten, sagte Plíšek, wenn der Verein Džeko nicht kaufen werde, werde er sich die erforderlichen 25.000 Euro selbst leihen. Labem gab nach.
Als Džeko dann für den FK Teplice spielte, bot man ihm einen tschechischen Pass an. Doch er lehnte dankend ab, er sei Bosnier. Das Gleiche wiederholte sich, als er 2007 zu Wolfsburg wechselte. Auch hier lehnte er das Angebot, für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen, höflich ab. Als Manchester City Džeko für 25 Millionen Pfund kaufte, brauchte man ihn gar nicht erst auf einen möglichen Wechsel der Staatsbürgerschaft anzusprechen. Als der Klub 2011 den Pokal und 2012 und 2014 die Meisterschaft gewann, wickelte Džeko sich zum Feiern in die bosnische Fahne.
„Džeko sticht nicht allein wegen seiner Qualitäten heraus, sondern auch wegen des Weges, den er zurückgelegt hat. Er hat den Krieg hier erlebt und die gleichen Erfahrungen gemacht wie alle, die ihn durchlitten haben“, sagt der Sportmoderator Mo Konjić, der aus demselben Dorf stammt wie Džekos Familie. „Wir haben verfolgt, wie er sich aus all dem emporgearbeitet und eine Weltkarriere gemacht hat. Seine größte Leistung ist es aber, dass er bei all dem er selbst geblieben ist: aufrichtig, sympathisch und geradeheraus.“
Die Reaktion der Nationalmannschaft auf die Flutkatastrophe war bemerkenswert: So ging der Verteidiger des AS Rom, Miralem Pjanić, in eine Apotheke und kaufte kurzerhand alles, was es dort an Medikamenten gab, um es den Flutopfern zu schenken. Das Team reiste durch die betroffenen Gebiete und spielte für wohltätige Zwecke. Und Džeko rief zur Solidarität zwischen „bosnischen und serbischen Brüdern“ auf. In zahlreichen Tweets dankten die Menschen über die ethnischen Grenzen hinweg Džeko und der Mannschaft dafür.
Sportmoderator Konjić erzählt, dass die Leute ihn bei seiner Tour durch die von der Flut heimgesuchten Gebiete zuerst fragten, welche Chancen er der Mannschaft bei der WM einräume – bevor sie ihm ihre Situation schilderten. „Die einzige Klage, die ich zu hören bekam, stammte von einem Mann, der sich beschwerte, er habe keinen Strom und sei so von den neuesten Informationen über das Team abgeschnitten.“
Es ist dieser Rückhalt in der Heimat, an den Džeko auch nach der Auftaktniederlage in Rio appellierte. An die Fans gewandt sagte er: „Glaubt an uns, eure Unterstützung brauchen wir jetzt noch mehr als zuvor.“
Ed Vulliamy ist Autor von The War is Dead, Long Live the War. Bosnia: The Reckoning
Der internationale Vergleich
Mit zehn Treffern schoss Edin Džeko Bosnien und Herzegowina in der WM-Qualifikation nach Brasilien. Für ein Land mit nur 3,8 Millionen Einwohnern ist bereits die WM-Teilnahme ein großer Erfolg. Der Kader der bosnischen Nationalmannschaft hält aber durchaus internationalen Vergleichen stand. Die meisten Spieler sind in großen ausländischen Ligen im Einsatz, allein sieben von ihnen in der deutschen Bundesliga – mit Vedad Ibišević vom VfB Stuttgart und Sejad Salihović von 1899 Hoffenheim als den bekanntesten.
Der bosnische Fußballverband wurde 1992 nach der Abspaltung von Jugoslawien neu gegründet. 1994 bemühte man sich um die Aufnahme in die FIFA, wurde jedoch zunächst mit Verweis auf die unklare politische Lage abgelehnt. Ihr erstes offizielles Länderspiel bestritt die bosnische National- mannschaft daher erst 1995 gegen Albanien. Dazu reisten die Bosnier mit nur zwölf Mann an und spielten in geliehener Ausrüstung. Mittlerweile kann das Land auf 165 Länderspiele zurückblicken. Mit 35 Treffern ist Edin Džeko mit Abstand bosnischer Rekordtorschütze. Bei der ersten WM-Partie seines Landes kam er allerdings nicht richtig ins Spiel. Das erste WM-Tor Bosniens erzielte bei der 1:2-Auftaktniederlage gegen Argentinien Stürmer- kollege Vedad Ibišević. jap
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