Als Jean-Marie Le Pen es 2002 in die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahlen schaffte, waren viele Wähler schockiert – und zwar vor allem darüber, dass eine Seite Frankreichs, die immer im Schatten geblieben war, plötzlich im grellen Licht stand. „Das heißt, Leute, die wir kennen, haben den Front National gewählt“, sagte mir damals fassungslos ein Freund, der für den sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin gestimmt hatte. Dass er die Gründe zu kennen glaubte – Protest gegen die Wirtschaftspolitik, eine in Apathie verfallene politische Mitte –, verringerte das Entsetzen nicht.
Wenn sich nun für 2017 Le Pens Tochter Hoffnungen auf die Präsidentschaft machen kann, ist das auf andere Weise erschr
t das auf andere Weise erschreckend, weil es so unvermeidlich wirkt. Marine Le Pen verströmt das herbe Aroma eines Faschismus, der gerade aus der Reinigung kommt. Sie hat sich samt ihrer Partei vom rüpelhaften Stil ihres Vaters distanziert, indem sie auf offen rassistische Parolen verzichtete und stattdessen den Teil des politischen Raums kolonisierte, in dem extremistische Haltungen im Gewand der Ehrbarkeit salonfähig sind. Auch nach dem Dämpfer in der zweiten Runde der Regionalwahlen sieht sich der Front National als wichtigste Oppositionspartei im Land. Illiberale DemokratieUnd Frankreich ist ja keine Ausnahme. Die andauernde Krise der liberalen Demokratie auf dem Kontinent scheint sich zum Verfall auszuwachsen. In Osteuropa grassiert bereits das Konzept einer „illiberalen Demokratie“: Den Begriff hat Ungarns Viktor Orbán ins Spiel gebracht, der als Premierminister im Namen der „öffentlichen Moral“ kritische Medienberichte über die Regierung zu unterdrücken versuchte und nicht-christliche Religionen ebenso wie Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Feinde seines „nationalen Projekts“ behandelt. Einen solchen Kurs steckte er bereits lange vor Beginn der Migrationskrise in der EU ab. Dementsprechend diffamiert er nun Flüchtlinge als muslimische „Unterwanderungsarmee“.In Polen fegte im Oktober die ultrakonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die vorige Mitte-Rechts-Regierung hinweg und bemüht sich seither im Hauruckverfahren, Orbáns christlich-nationalistische Agenda für das eigene Land zu kopieren. Der Widerstand gegen diesen autoritären Umbau Polens ist durchaus heftig, und optimistische Beobachter sehen das Pendel zumindest mittelfristig wieder zum moderaten Lager zurückschwingen.Neonazistische WurzelnAllerdings scheinen solche Pendel in Europa zunehmend schief zu stehen. Selbst in Skandinavien brechen inzwischen Rechtspopulisten ins freundschaftliche Hin-und-Her zwischen konservativer und sozialdemokratischer Spielart des Liberalismus ein. Die Partei der „Schwedendemokraten“, die neonazistische Wurzeln hat, kommt in neueren Meinungsumfragen in ihrem Land ganz groß heraus, in Dänemark baut die Regierung bereits auf die Unterstützung der immigrantenfeindlichen Volkspartei und in Finnland gehören die Basisfinnen (Perussuomalaiset) zur regierenden Koalition mit der liberal-konservativen Sammlungs- und der etablierten Zentrumspartei.Man darf politische Analogien zwischen verschiedenen Staaten nicht überstrapazieren, doch in all diesen Fällen liegen die Gemeinsamkeiten auf der Hand. Dahinter scheint immer ein Wechselspiel aus materieller Ungewissheit und einer von der Wählerschaft entfremdeten politischen Elite zu stehen. Von Paris bis Warschau werden die Politiker der Mitte als abgehobene Technokraten-Kaste wahrgenommen. Zugleich projizieren die Wähler ihre durch ökonomische Turbulenzen und abrupten demografischen Wandel ausgelösten Ängste, die derzeit noch durch das Gespenst des Terrorismus verstärkt werden, auf Flüchtlinge aus überwiegend muslimischen Ländern.Was die auflebenden Nationalismen schwer entschärfen lässt – das ist die Unverfrorenheit, mit der sie sich ins Gewand der volksnahen Demokratie hüllen. Marine Le Pen achtet sehr darauf, nicht als Ausländerhasserin zu erscheinen, sondern als Bewahrerin der säkularen Republik. Die nationalen Rechten in Skandinavien bemänteln ihre Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, als pragmatische Verteidigung der traditionell nordischen Werte von Toleranz sowie des Prinzips von Geben-und-Nehmen. Dahinter steht die Unterstellung, Migranten würden sich per se nicht integrieren, weil sie einen religiösen Drang zur Absonderung hätten. Hat sich die Vorstellung, der Islam neige stets zu Isolation und Unfreiheit, einmal in den Köpfen festgesetzt, lässt sich leicht argumentieren, dass Massenmigration „europäische“ Werte bedrohe und sich durchlässige Grenzen nicht mit pluralistischer Demokratie vertragen würden.Kollektiver ImpfschutzGroßbritannien hat sich – wenngleich kaum als integrationspolitisches Vorbild tauglich – bisher weitgehend immun gegen den Hang zu ausdrücklich fremdenfeindlichem Populismus gezeigt. Die UK Independence Party (UKIP als Partei am rechten Rand ist im internationalen Vergleich eine Amateurtruppe. Oft heißt es, Churchills Antifaschismus präge und schütze das Land bis heute. Jedoch dürften die Geografie – keine Landgrenzen zum Rest Europas – und der zweifelhafte Segen eines Wahlsystems, das kleinen Parteien keine Chance lässt, mindestens ebenso zur britischen Sonderstellung beitragen.Dieser vermeintliche kollektive Impfschutz gegen politischen Rassismus wird nun in der Kampagne zum EU-Referendum auf die Probe gestellt. Bis zu den Terroranschlägen von Paris bestimmten ökonomische Argumente die Debatte über Ausstieg oder Verbleib in der Union. Die Brexit-Befürworter stellten eine dauerkriselnde Eurozone mit hoher Arbeitslosigkeit als Bremsklotz für britisches Wachstum dar. Die EU-Freunde hielten dagegen, nur die Mitgliedschaft im großen Wirtschaftsklub könne Jobs und Investitionen sichern.Seit November aber hat sich der Fokus der Debatte auf die Sicherheit verschoben. Aus dieser Perspektive gilt die EU-Mitgliedschaft entweder als nötige Prämisse für eine koordinierte Anti-Terror-Politik (mit Datenaustausch, internationalen Haftbefehlen und Geheimdienstkooperation); oder aber als Einfallstor für Dschihadisten, die sich als Flüchtlinge tarnen.Für die EU-Befürworter ergeben sich damit neue Schwierigkeiten. Schon immer krankten ihre Argumente daran, dass sie sich auf einen abstrakten Liberalismus und ein romantisierendes Geschichtsbild beriefen. Die Offenheit und der Austausch mit dem Kontinent wurden als Kennzeichen einer modernen, selbstbewussten Nation angepriesen. Man verwies auf das EU-Gründungsziel, die Nationalismen zu überwinden, indem Grenzen überflüssig würden, und man kanzelte die Haltung der Euroskeptiker als reaktionären Kulturprotektionismus mit rassistischen Tendenzen ab. Aus solchen Thesen massenwirksame Kampagnensprüche zu machen, war nie einfach. Neuerdings aber haben die Pro-Europäer nicht mehr nur bei der Vermittlung ihres Anliegens ein Problem, sondern ebenso bei der Begründung. Das liberale Plädoyer für das Zusammenwachsen mit dem Rest Europas droht haltlos zu werden, wenn der Rest Europas sich im großen Stil vom Liberalismus abkehrt.