Der Matrix unterworfen

Utopie Mit neuer Technik für "Erweiterte Realitäten" wird es bald möglich sein, Obdachlose auf der Straße als liebenswerte Comicfiguren zu sehen, glaubt Charlie Brooker.

Technophile, Experten und der kleine Mann in Ihrem Ohr sind sich einig, dass 2010 das Jahr der „erweiterten Realität“ wird. Gesetzt den Fall, dass Sie noch nicht wissen, was es damit auf sich hat: „Erweiterte Realität“ ist ein relativ neuer Alltagsbegriff, der jene schlaue Art von Software bezeichnet, die eine eingespeiste Liveaufnahme aus der wirklichen Welt in Echtzeit verändern und ergänzen kann.

Eine magische Hand weist den Weg zur nächsten Starbucks-Filiale

Für das I-Phone, dessen Existenzzweck geradezu darin besteht, dass die Leute öfter auf den Bildschirm schauen, als auf die Welt um sie herum, gibt es selbstredend eine ganze Reihe von Apps, die genau das ermöglichen. Und dann erscheint auf Ihrem Display plötzlich eine magische Hand, die Ihnen den Weg zur nächsten Starbucks-Filiale weist. Wenn Sie sich bewegen, richtet sich die Hand neu aus. Diese Extras sind wahnsinnig praktisch, insbesondere wenn Sie es – die Augen fest auf Ihr Display geheftet – lieber darauf ankommen lassen, auf dem Bürgersteig einen Riesenstau zu erzeugen, anstatt einen Ihrer Mitbürger nach dem Weg zu fragen.

Die Nintendo DSi verfügt über eine eingebaute Kamera mit einem „Fun-Modus“. Wenn Sie die Kamera auf einen Ihrer Freunde richten, dann erweitert dieser Modus die Gesichter um Schweinerüssel, Glubsch-Augen und Ähnliches. Es bedarf nur eines Knopfdrucks, um die Bilder für die Nachwelt aufzubewahren. Eine Zeit lang ist das wahnsinnig unterhaltsam („Schau Mal! Papa wachsen lustige Hasenohren aus dem Kopf! Ha, ha, ha!“), aber dann erkennen Sie, dass es etwa sechs Optionen gibt und dass zwei davon auf einer lustigen Brille basieren. Hätte man die Möglichkeit, das Tool individuell zu verändern, dann könnte man jedem, der in Sichtweite ist, damit ein Hitlerbärtchen verpassen. Babyfotos könnten dadurch hundertmal besser aussehen. Aber man kann das Tool nicht nach seinen eigenen Vorstellungen erweitern, vermutlich aus eben diesem Grund. Man könnte das Foto natürlich ausdrucken und das Hitlerbärtchen mit einem Filzstift draufkritzeln. Aber das wäre 2010 ein wenig überholt.

Während die aktuellen Beispiele also alles andere als begeistern, erscheint die Zukunft der erweiterten Realitäten grenzenlos. Sobald es jemandem gelingen wird, die Technik in eine leichte Brille einzubauen und die schwebenden Hände und die Hasenohren simultan über die wirkliche Welt zu legen, werden alle Dämme brechen.

Duffy Duck in der Hängematte statt Obdachlose in der Gosse

Schon vor Jahren hatte ich die Idee einer futuristischen Brille, mit der sich Obdachlose optisch in liebenswerte Comicfiguren verwanden ließen. Der reiche Großstadtmensch müsste sein Gewissen nicht mehr mit dem Anblick von verkommenen Heroinabhängigen belasten, die in einem Ladeneingang zitternd versuchen, etwas Schlaf zu finden. Durch seine Brille sähe er Duffy Duck, der verträumt in einer Hängematte döst. London sähe plötzlich wie die Welt im Zeichentrick-Realfilm-Mix „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“ aus.

Aber das wäre längst nicht alles. Mit der Brille könnte man entscheiden, welchen Grad von Armut man ausblenden will. Je nach Belieben könnte man nicht nur die Obdachlosen ersetzen, sondern auch alle, die Sozialhilfe empfangen, billige Kleidung tragen, einen schäbigen Dialekt sprechen oder Pay-TV schauen. Irgendwann wären alle ausgelöscht, bis auf den Hochadel.

Als ich die Idee zu dieser Brille hatte, war sie nichts weiter als eine kranke, weit hergeholte Fantasie. Im Jahr 2013 wird sie vermutlich nur eines von vielen Apps sein, die man sich für 49 Cent auf seine I-Blinker laden kann. Im Preis wird ein App inbegriffen sein, mit dem man seine Freundinnen in Topmodels und seine Feinde in Feldmäuse verwandeln kann.

Plötzlich ist der Bierbauch weg

Und glauben Sie bloß nicht, dass die erweiterte Realität beschränkt bleiben wird auf das, was Sie sehen. Von einer erweiterten Sicht (Ihr Bierbauch ist verschwunden und Sie sind wunderbar braungebrannt) ist es nur ein Katzensprung hin zum erweiterten Hören (Ihr Leben wird Ihnen wie ein Kinofilm vorkommen, wenn sich die Musik um Sie herum passend zu ihren Erlebnissen verändert), erweitertem Geruchsvermögen (Sie lassen einen fahren und es riecht nach Schweinebraten) und erweitertem Empfinden (jede Betonbank fühlt sich wie ein Sitzsack an). Schließlich könnten auch schmerzhafte Gefühle, ausgelöst durch extreme Temperaturen oder körperlichen Schmerz, remixt und dadurch angenehmer werden. Durch den geschickten Einsatz dieser Technologien könnte der Tod in einem glühenden Feuerball so manipuliert werden, dass man das Gefühl hätte, man würde sich beim Sockenausziehen den Nagel einreißen.

Manche Leute werden nun sagen, das sei eine ganz finstere und fehlgeleitete Vorstellung. Sie werden behaupten, es sei besser, sich wirkliche Menschen anzusehen und echte Luft zu atmen. Andererseit musste keiner von denen wohl jemals in Reading leben. Und selbst wenn sie Recht haben sollten, würden wir es niemals erfahren, denn die Software würde sie automatisch herausfiltern, sobald sie nur den Mund aufmachten.

Anders gesagt: Wir werden uns in den kommenden Jahren alle bereitwillig der Matrix unterwerfen. Wir werden uns digitale Halluzinogene in die Augen und die Ohren spritzen, bis es es nicht einmal mehr nötig sein wird, überhaupt noch eine frische Hose anzuziehen. Klingt beängstigend? Iwo. Man merkt ja nichts.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Charlie Brooker | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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