Anschläge Es gibt auch Hoffnung nach dem Terror von Brüssel: In Reihen des IS sind immer noch Menschen, die sich weigern zu sterben, schreibt die ehemalige IS-Geisel Nicolas Hénin
Wir sollten den Terroristen nicht den Gefallen tun, Angst zu haben. Besser, wir halten zusammen und bekräftigen unsere Werte
Foto: PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images
Wenige hätten sie eines zweiten Blicks gewürdigt: drei Männer, die mitten in Europa ihre Gepäcktrolleys durch einen Flughafen schieben. Ich habe Ibrahim El Bakraoui, den untersetzten in der Mitte, jedoch sofort wiedererkannt. Ich twitterte, dass er es ist – zwei Stunden bevor seine Identität als einer der Selbstmordattentäter am Brüsseler Flughafen von den Sicherheitsbehörden bestätigt wurde. Sein Name und Foto kamen in Geheimdienst-Briefings vor. Sein Bruder, so wurde später bekannt, sollte mit seinem Selbstmordanschlag in der Brüsseler Metro noch mehr Menschen töten.
Auf den Bildern der Überwachungskameras strahlen die Männer keine besondere Gefahr aus. Selbst die Tatsache, dass zwei von ihnen jeweils einen schwar
Selbstmordanschlag in der Brüsseler Metro noch mehr Menschen töten.Auf den Bildern der Überwachungskameras strahlen die Männer keine besondere Gefahr aus. Selbst die Tatsache, dass zwei von ihnen jeweils einen schwarzen Handschuh tragen – um die Auslöser für den Sprengstoff zu verbergen, so glauben die Ermittler – hätte wahrscheinlich keine Aufmerksamkeit erregt.Unsere Wahrnehmung des IS ist von dessen Bildern geprägt: die schwarze Flagge; die orangenen Anzüge, in die er seine Gefangenen zwingt; die maskierten, messerschwingenden Henker. Diese Symbolik hat sich in die Köpfe von Millionen Menschen eingebrannt. Aber die Dschihadisten, die mich über zehn lange Monate in Syrien als Geisel gefangen hielten, werden auch angesichts dieser unscheinbaren Bilder, die ihre drei Anhänger kurz vor ihrer mörderischen Attacke am Brüsseler Flughafen zeigen, Befriedigung empfinden.Die Terroristen sind leger gekleidet, einer zieht mit seiner weißen Jacke und dem schwarzen Strandhut fast Aufmerksamkeit auf sich. Dennoch ist es schaurig, dieses Bild zu betrachten. Die Männer haben in diesem Moment vor, dutzende Menschen – sich selbst eingeschlossen – zu töten und zu verstümmeln, wirken aber keineswegs ängstlich oder nervös. Der Grund liegt darin, dass sich für sie alles um den Tod dreht. Das Bild hat eine Botschaft: der Feind sieht ganz normal aus und befindet sich unter uns. Denn eines der Ziele des IS besteht darin, Zwietracht zu säen und uns gegenseitig Angst zu machen. Das ist eines der Dinge, die ich während meiner Gefangenschaft gelernt habe.Die Zahl der Todesopfer in Brüssel war zwar geringer als die in Paris, wo 130 Menschen ihr Leben verloren, dennoch kommt dieser jüngsten Gräueltat eine erhöhte Bedeutung zu. Sie wird den Gemütszustand eines jeden Europäers verändern. Denn die Anschläge in Brüssel zeigen, dass der Terror von einem Land ins andere wandert. So fragen plötzlich alle: Wer ist der Terrorist und wo wird er als nächstes zuschlagen – in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden?Wer waren also diese mysteriösen Typen, die ihre Gepäcktrolleys durch den Flughafen schoben? Sie waren mit Sicherheit überzeugte Anhänger des IS. Zudem stehen sie auch unter Verdacht, die Anschläge in Paris logistisch mit vorbereitet zu haben. Letztlich waren sie aber nur Kanonenfutter. Nachdem sie ihren Auftrag in Paris erledigt hatten, galten sie von nun an als entbehrlich. Das ist die Personalpolitik des IS.Es ist die Pflicht der Anhänger, zu sterben, sobald man es von ihnen verlangt. Überraschend ist es nur dann, wenn sie es nicht tun. Vor diesem Hintergrund sollten wir an Salah Abdeslam denken, einer der Pariser Attentäter, der letzte Woche in Belgien festgenommen wurde. Zweimal hat er verweigert in den Tod zu gehen, zunächst in Paris, dann in Brüssel. Und vielleicht kann man darin ein Zeichen der Hoffnung erkennen. Denn wenn es eine Schwäche innerhalb des IS gibt, dann sind es die Menschen in seinen Reihen. Selbst bei hoher Indoktrination braucht es am Ende immer noch den einzelnen Menschen, der den Zündknopf drückt, um Dutzende in den Tod zu reißen – sich selbst eingeschlossen. Die IS-Rekruten durchlaufen eine enorme Gehirnwäsche, darunter auch Folter und die Verpflichtung, ihre Treue durch das Töten von Menschen zu beweisen. Doch wenn Menschen aufgefordert werden, sich unmenschlich zu verhalten, bleibt immer eine, wenn auch geringe, Chance, dass sie davor zurückschrecken.Wie wir jetzt auf die Anschläge reagieren, ist absolut entscheidend. Die ersten Reaktionen sind jedoch fatal. Der französische Ministerpräsident Manuel Valls und Präsident Francois Hollande sind bereits in die Falle getappt, der terroristischen Bedrohung mit der Ausrufung des „Kriegs“ zu begegnen. Das ist das letzte, was sie tun sollten. Ich kann aus meiner Erfahrung mit dem IS nämlich sagen, dass es genau das ist, was sie wollen. Die Terroristen wollen nicht nur über Krieg reden, sie wollen ihn provozieren. Einen Bürgerkrieg, innerhalb Europas. Aber wir haben es mit keinem Krieg zu tun und wir dürfen ihn auch nicht als solchen begreifen.Ich spreche lieber von politischer Gewalt in großem Stil. Und das wichtige ist, dass wir diese in unserer Geschichte schon oft gesehen haben. Wenn wir hingegen das militärische, kriegerische Vokabular übernehmen, dann gibt es von dort keinen Weg mehr zurück. Wir werden unsere Feinde damit nur stärken.Valls und Hollande gelten als fortschrittliche Männer, aber sie reagieren auch auf die politischen Verhältnisse. Wie in anderen Ländern haben in Frankreich Rechtspopulisten immer mehr an Boden gewonnen, weshalb Politiker glauben, sie könnten dieser Entwicklung entgegenwirken, indem sie deren Sprache und Ideen übernehmen. Aber das ist ein Fehler. Damit helfen wir den Terroristen nur, denn deren Ziel besteht darin, uns zu spalten und in Angst zu versetzen.Es wird nun immensen Druck auf Belgien geben, ebenso wird der Ruf nach mehr Sicherheitsmaßnahmen folgen. Aber ich erinnere mich immer wieder an die Worte des damaligen norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg, die dieser 2011 nach den Attacken von Anders Breivik sprach. Stoltenberg stand ebenfalls unter dem Druck von Populisten, aber seine Antwort bestand dennoch in der Forderung nach mehr Demokratie und Freiheit.In Frankreich fürchteten wir nach den Attacken auf Charlie Hebdo eine heftige Gegenreaktion. Aber diese blieb aus, stattdessen zeigten wir großen Zusammenhalt. Von da an wurde jedoch ersichtlich, wie fragil wir als Gesellschaft sind. Mich schockieren rassistische Äußerungen von Politikern und Mainstream-Medien, Dinge, die zuvor niemals gesagt oder veröffentlicht worden wären. Solch ein Vorgehen hat keine Zukunft.Wir sollten besonnen bleiben und die Dinge in Perspektive rücken. Und vor allem sollten wir die Wurzel all dessen, den Krieg in Syrien, angehen. Schließlich sollten wir uns ebenso klar machen, dass Terroristen uns terrorisieren – mit Handlungen und Bildern. Dennoch bleibt der Terror einer der unwahrscheinlichsten Gründe für jemanden zu sterben. Die Terroristen wollen, dass wir Angst haben. Diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun. Besser, wir halten zusammen und bekräftigen unsere Werte.
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