Manoubia Bouazizi hat sich an die Vorstellung gewöhnt, dass ihr Sohn Mohamed nicht länger ihr, sondern der arabischen Welt gehört. In den Straßen ihres Wohnortes am Stadtrand von Tunis wird sie als die Mutter des Markthändlers erkannt, der sich im Dezember 2010 aus Protest gegen das autoritäre Regime Tunesiens selbst verbrannt hat. Er brachte damit in seinem Land die so genannte Jasminrevolution ins Rollen, die ihrerseits Proteste in angrenzenden Ländern inspirierte und nun als „arabischer Frühling“ bezeichnet wird.
Manoubia räumt offen ein, dass sie mit dem weltweiten Interesse am Tod ihres Sohnes auch Geld gemacht hat. Zuweilen wird sie von Medien für Interviews bezahlt. Dafür hält sie einen vorgefertigten Vertrag bereit, den die Journalisten nur zu unterzeichnen brauchen. Als Entschädigung für ihren Verlust erhielt die Familie vom ehemaligen Präsidenten Ben Ali 20.000 tunesische Dinar, was etwa 10.000 Euro entspricht. Ihr neuer Wohlstand ist deutlich sichtbar. Die Bouazizi-Familie pflegte in einem bescheidenen Betonhaus im zentraltunesischen Sidi Bouzid zu wohnen. Nun sind Manoubia, ihr Mann und ihre sechs überlebenden Kinder in ein großes Apartment in La Marsa umgezogen, einem schönen Vorort an der Küste von Tunis.
Für Manoubia wie für die Menschen in ihrer Umgebung scheint der Mann hinter den Mythos zurückzutreten. „Es ist eine seltsame Vorstellung, dass mein kleiner Mohamed aufwachsen sollte, um dieser Mensch zu werden“, sagt Manoubia. Sie sitzt im Wohnzimmer ihrer Mietwohnung und hält ihre schwarzen Gewänder gerafft, die sich stark von der leuchtend orangenen Decke auf dem Sofa abheben. Wenn sie spricht, dreht sie sich weg, vermeidet Augenkontakt und manchmal scheint es, als sage sie auswendig gelernte Antworten auf. Es sind Sätze, die sie bereits hunderte Male zuvor formuliert hat. „Ich bin stolz und glücklich, dass er der erste Funke der Revolution war.“
Diese Wendung hört man überall in Tunesien wieder und wieder in wechselnder Form. Einige nennen Bouazizi „den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“; andere beharren darauf, dass sein Tod „Feuer an die Lunte“ der arabischen Frühjahrsrevolten gelegt hat. Aber wenn man genau hinhört, bemerkt man den wachsenden Widerspruch jener, die Mohamed nicht für einen politischen Helden, sondern für ein Geschöpf der Medien halten.
„Seine Mutter ist die einzige Gewinnerin dieser Revolution“, sagt Hania Bouazizi, eine Cousine und Manoubias ehemalige Nachbarin. „Für die meisten Tunesier ist das Leben immer noch hart, aber sie hat tausende Dinare angehäuft“. Hanias Meinung wird von einigen anderen Bewohnern von Sidi Bouzid geteilt. Niemand von ihnen möchte seinen Namen zu Protokoll geben, um die jetzt schon giftige Atmosphäre nicht zu verschlimmern. Aber die Gerüchte bezeugen die wachsende Überzeugung vieler, dass an der Geschichte über den Märtyrertod von Mohamed Bouazizi vielleicht nicht so viel dran ist, wie es scheint.
Fakt ist, dass sich am 17. Dezember des vergangenen Jahres der Markthändler Mohamed selbst verbrannte. Zuvor hatte er mit einer Regierungsbeamtin darüber gestritten, wo er sein Obst und Gemüse verkaufen könne. Seinerzeit wurde vielfach berichtet, dass die für ihre Strenge bekannte Inspektorin Fedia Hamdi, Mohamed ins Gesicht geschlagen habe – die schlimmste Beleidigung in einer patriarchalen Gesellschaft. In der Konfrontation schien ein einfacher Mann, der um seinen Lebensunterhalt kämpft, dem uniformierten Symbol eines korrupten Regimes gegenüber zu stehen. Bouazizis Selbstmord im Alter von 26 Jahren wurde von vielen als eine Tat gesehen, die aus seiner heftigen Frustration über die autoritäre Herrschaft entsprang.
In allen Punkten freigesprochen
In Sidi Bouzid, einer Stadt mit 70.000 Einwohnern, 300 Kilometer von der Hauptstadt Tunis entfernt, versammelte sich eine Menge vor dem Büro des Gouverneurs und rief Parolen gegen einen diktatorischen Staat, der seine Bürger so demütigte. Einige behaupteten fälschlich, Bouazizi sei ein Universitätsabsolvent gewesen, der keine Arbeit fand – ein Slogan, der perfekt zum wachsenden Problem der Jugendarbeitslosigkeit in der Region passte. Die Menschen gingen in Scharen auf die Straße, sprühten Graffiti auf die Wände der Regierungsgebäude, nahmen die Ereignisse mit ihren Handys auf und luden die Videos im Internet hoch.
Am 14. Januar, 28 Tage nach Bouazizis Selbstverbrennung, floh Präsident Ben Ali nach Saudi Arabien – Tunesien war befreit. Und alles, so schien es, wegen einer verhängnisvollen Ohrfeige, die einen einfachen Markthändler um den Verstand gebracht hatte. Es ist diese Lüge, auf der die Jasminrevolution in den Augen von Fedia Hamdi gründet. Die Ohrfeige, sagt die besagte städtische Inspektorin, war erfunden.
Fedia Hamdi ist eine kleine, gebeugte Frau, die älter aussieht als ihre 46 Jahre. Das einzige Bild, das bis vor kurzem von Hamdi verbreitet wurde, war ein für die Arbeit aufgenommenes Foto. Es zeigte ein schönes, ovales Gesicht. Unter der hellblauen Kappe ihrer Uniform lugen mit Kajal geschminkte Augen hervor. Als sie das Wohnzimmer des Heims ihrer Eltern betritt, sieht sie dagegen so anders aus, dass sie kaum mehr zu erkennen ist. Ihre Gebrechlichkeit, erklärt sie, kommt größtenteils von der Zeit im Gefängnis. Nach dem Tumult mit Bouazizi entlastete eine interne Untersuchung der städtischen Behörden sie von jedem Fehlverhalten. Dennoch wurde sie auf Anweisung Ben Alis am 28. Dezember verhaftet. Es war ein letzter verzweifelter Versuch, die Randalierer zu beschwichtigen. „Ich fühle mich wie ein Sündenbock“, sagt sie nun. „Ich hätte Bouazizi niemals geschlagen. Das war unmöglich, zunächst weil ich eine Frau bin und in einer traditionellen arabischen Gesellschaft lebe, die es einer Frau verbietet, einen Mann zu schlagen. Und zweitens hatte ich Angst … Ich habe nur meine Arbeit getan.“
Nach einem kurzen Hausarrest verbrachte Hamdi fast vier Monate in einem Gefängnis. In Haft trat sie für 15 Tage in den Hungerstreik, bis die Ärzte einschritten. „Einen Monat lang verbarg ich meine Identität vor den anderen Gefangenen, weil ich solche Angst vor dem hatte, was sie mir antun könnten“, erklärt sie.
Aber nachdem Ben Ali aus dem Land geflohen war, begann sich das Blatt zu wenden. Im Februar enthüllte ein tunesischer Fernsehsender, dass Bouazizis Mutter und Stiefvater – trotz ihrer vorherigen Dementis – Geld vom Präsidenten angenommen hatten. Hamdi fühlte sich sicher genug, ihren Mitgefangenen zu erzählen, wer sie war. Statt sie zu meiden, drückten sie ihre Unterstützung aus. Jenseits der Zellentür gründeten Hamdis frühere Kollegen eine Facebook-Gruppe, um für ihre Freilassung einzutreten.
Am 19. April, nach 111 Tagen Haft, wurde Hamdi schließlich von einem Gericht in Sidi Bouzid in allen Punkten für unschuldig befunden. Es stellte sich heraus, dass nur eine einzige Person die Ohrfeige gesehen haben wollte – ein Straßenhändler, der einen Groll gegen sie hegte –, während vier andere Zeugen aussagten, es habe keine körperliche Konfrontation gegeben.
Ich bin die erste Journalistin, mit der Fedia Hamdi spricht hat. Wir treffen uns zwei Tage nach ihrer Entlassung, zusammen mit ihren Kollegen und ihren sieben Geschwistern, die gekommen sind, um mit süßem Milchkaffee zu feiern. Tahar Hamdi, ihr 75 Jahre alter Vater, ein pensionierter Polizeikommissar, trägt eine Goldrandbrille, einen roten Fez und einen Dreiteiler. Seine Frau Meriem, 74, hält einen „Sebha“ in den Händen – das islamische Gegenstück zum Rosenkranz – und betet.
Paprika beschlagnahmt
Warum hat Fedia Hamdi bis jetzt geschwiegen? „Sie sind die Erste, die zuhört“, antwortet sie, und Tränen laufen über ihre Wangen. Sie umklammert ihre Hände, damit sie aufhören zu zittern. Hamdis Version der Ereignisse unterscheidet sich von jener der Bouazizi-Familie in kleinen, aber entscheidenden Aspekten. Sie räumt ein, dass es gegen 11 Uhr am Morgen des 17. Dezember zu einer Konfrontation mit Mohamed kam, weil er seinen Karren gegenüber städtischen Gebäuden geparkt hatte und „das Gesetz es den Markthändlern nicht gestattet, in einen öffentlichen Bereich zu gehen.“ Aber sie beharrt darauf, ihn nicht geschlagen zu haben. Eine kleine Ansammlung von Markthändlern habe sich um sie versammelt, und sie habe Angst bekommen, der Streit könne aus dem Ruder laufen: „Als ich ihn zum Gehen aufforderte, weigerte er sich, griff nach meiner Hand und verletzte mich am Finger. Er war wütend auf mich, daher nahm ich es hin. Aber als Strafe beschlagnahmte ich einige seiner Bananen und Paprikas und gab sie einer wohltätigen Organisation. Danach kehrte ich zur Arbeit zurück, und um 13 Uhr ging ich nach Hause.“
Hamdi sagt, Bouazizi sei „hysterisch“ gewesen, als sie ihn verließ. „Er wusste kaum, was er tat.“ Erst ging der Markthändler zur Polizeistation, um sein Obst wieder zu bekommen, wurde aber abgewiesen. Dann verlangte er, den Gouverneur zu sehen und wurde erneut abgewiesen. Vielleicht sprudelten in diesem Stadium die aufgehäuften Frustrationen und Demütigungen der vorherigen Stunden über. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, kurz nach 13 Uhr goss Bouazizi eine brennbare Flüssigkeit über seinen Körper und setzte sich dann in Flammen.
Wusste er, was er tat? Selbst das bietet Anlass zum Streit. Ein Bürger von Sidi Bouzid meint, er habe die Flüssigkeit bloß „als Drohung“ über sich gegossen: „Er wollte sich nicht umbringen“. Einige von Hamdis Kollegen behaupten sogar, Bouazizi habe sich versehentlich in Brand gesetzt, als er eine Zigarette anzündete.
Bouazizi wurde wegen seiner schweren Verletzungen in ein Krankenhaus ins 100 Kilometer entfernte Sfax gebracht. Als später Präsident Ben Ali ein persönliches Interesse zeigte, wurde er der Pflege eines Ärzteteams in Tunis übergeben. In einem vergeblichen Versuch, von der zunehmenden Kritik an seinem Umgang mit den Ereignissen abzulenken, besuchte der Präsident am 28. Dezember den stark verbundenen Bouazizi im Krankenhaus. Er soll eine Woche später, am 4. Januar, gestorben sein. Doch selbst das wird bestritten.
Wie die traurige Wahrheit über Bouazizis Tod auch aussehen mag, einige in Sidi Bouzid scheinen entschlossen, selbst die Erinnerung an sein Leben auslöschen zu wollen. Unmittelbar nach seiner Selbstverbrennung schoss in der Stadt eine Reihe improvisierter Gedenkstätten mit Mohameds Foto aus dem Boden. Eine Tafel mit der Aufschrift „Place de Mohamed Bouazizi“ wurde am zentralen Platz angebracht. Aber am Morgen nach Hamdis Freilassung stellten die Bewohner fest, dass jedes einzelne Bild von Mohamed abgerissen und jedes Graffiti, das seinen Namen trug, übermalt worden war. Die Tafel am zentralen Platz war verschwunden.
„Die Revolution war größer als zwei Menschen“, sagen viele. Und dennoch: Im Alltag scheint sich nicht viel verändert zu haben. Auf den Straßen von Sidi Bouzid bieten die Händler weiter ihre Ware feil. Unter Lotusbäumen, einige Meter von der Stelle entfernt, an der Mohamed Bouazizi sich tötete, ordnen Männer mit wettergegerbten Gesichtern glänzende Stapel aus Paprikas, Orangen und Erdbeeren. „Was wir gewonnen haben, ist die Furchtlosigkeit. Wir können uns offen äußern“, sagt der 30 Jahre alte Inhaber eines Standes. Auch eine ganz praktische Sache habe sich zum Besseren gewandelt. „Wir können unsere Karren nun hier abstellen“, sagt er und zeigt zu den städtischen Gebäuden auf der anderen Straßenseite. „Es ist illegal, aber seit der Revolution behelligt uns niemand mehr.“
Elizabeth Day arbeitet für den britischen Observer
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