Für Brad Doles ist das Community Health Center im New Yorker Stadtteil Hell’s Kitchen überlebenswichtig. Der HIV-positive Koch hat keine Krankenversicherung und ist auf die Non-Profit-Einrichtung angewiesen, die – um den Krankheitsverlauf zu überwachen – notwendige Untersuchungen vornimmt und ihn mit Medikamenten versorgt, die er sich andernfalls nicht leisten könnte.
Dole ist nur einer von 46 Millionen Amerikanern ohne Krankenversicherung, doch er hat Glück. Von der Ryan/Chelsea-Clinton Clinic erhält er die Behandlung, die er braucht und ohne die er womöglich sterben würde. In Hell’s Kitchen und den umgebenden Straßen rettet dieses Hospital Menschenleben, und das inmitten eines Bezirkes, in dem Arm und Reich auf krasse Weise aufeinanderprallen. Riesige, teure Apartmenttürme erheben sich gleich neben verfallenden Mietskasernen. Es gibt hoffnungslose Immigranten und wohlhabende Theatergänger. Hier leben die, die etwas haben, Seite an Seite mit denen, die nichts haben. Zu berühren scheinen sich ihre Welten kaum.
Niemand wird abgewiesen
Nicht anders verhält es sich mit dem US-Gesundheitssystem im Allgemeinen. Mit einem mehr als eine Billion Dollar umfassenden Plan, der die Versicherung aller Amerikaner vorsieht, unternimmt Barack Obama nun den Versuch, dies zu ändern. Gerade erst gelang ihm ein politischer Durchbruch, als das Repräsentantenhaus ein historisches Gesetz gegen den Klimawandel verabschiedete, das die USA erstmals zur Reduzierung ihrer Kohlendioxid-Emissionen verpflichtet. Noch ambitionierter ist die Reform des Gesundheitssystems – ein Erfolg würde einem ausufernden, teuren und für Millionen Menschen unzulänglichen System einen grundlegenden Wandel verordnen. Daran haben sich schon viele Präsidenten die Zähne ausgebissen. Es begann mit Theodore Roosevelt und seiner erfolglosen Präsidentschaftskandidatur 1912. Auch Obama setzt mit dem Projekt seinen politischen Ruf aufs Spiel.
Es dürfte eine gigantische Schlacht entbrennen. Auf Seiten der Widersacher werden sich die mächtige Gesundheitslobby, die republikanische Partei und nicht wenige von Obamas eigenen Parteigenossen formieren. Hat der Präsident Erfolg, wird er für das Leben und Wohlbefinden Millionen einfacher Bürger sehr viel getan haben. Sollte er scheitern, könnte dies seine Präsidentschaft ernsthaft ins Wanken bringen, lange bevor er nur ein einziges Jahr an der Spitze der Macht verbracht hat. „Es steht viel auf dem Spiel“, sagt Larry Haas, ehemaliger Berater im Weißen Hause während der Präsidentschaft Bill Clintons.
Für viele Amerikaner könnte noch mehr auf dem Spiel stehen. Bei einem Rundgang durch die blitzsauberen Flure der Ryan/Chelsea-Clinton-Klinik erzählt Dr. Andrew Gotlin, sein Haus habe im Vorjahr 40.000 Patienten aus allen Schichten behandelt. Einige hatten Krankenversicherungen, viele nicht. Niemand werde abgewiesen, die Mitarbeiter hätten aber das Gefühl, nie genug leisten zu können, um den Bedarf zu decken. „Die Leute sagen uns, sie wüssten nicht, was sie tun sollten, gäbe es nicht dieses Community Health Centre. “
Vor einer Woche schaltete sich Ethelmay Mason in die landesweite Übertragung eines im Weißen Haus stattfindenden Town Hall Meetings zur Gesundheitsversorgung ein. Obama erörterte seine Pläne und versuchte, die Öffentlichkeit für die massive Ausweitung des staatlichen Versicherungsschutzes zu gewinnen. Der 81-jährigen Schauspielerin, die zwar versichert ist, aber ebenfalls die Ryan/Chelsea-Clinton aufsucht, schien die Notwenigkeit einer Reform offenkundig. „Wir sind das reichste Land der Welt und sollten niemanden sterben lassen, weil er nicht versichert ist“, meint sie.
Dieses Meeting ist nur ein Rädchen in der Maschinerie, die Obama anwirft, um seine Reformpläne durchzusetzen. Auch das riesige Online-Netzwerk, das er während des Wahlkampfes aufgebaut hat, wird eingespannt. Unter dem Namen Organisation for America engagieren sich 500.000 Ehrenamtliche, es sind erste Anzeigen geschaltet und bezahlte, mit der regionalen Organisation beauftragte Mitarbeiter in 31 Staaten in Stellung gebracht. Hinzu kommen Dutzende Gewerkschaften, die Beschäftigten des Gesundheitssystems und der ganze Wille des Obama-Teams. Der Präsident will erreichen, woran Vorgänger wie Clinton und Carter gescheitert sind.
46 Millionen ohne Schutz
Tatsächlich waren die Zeiten für eine Revolution im Gesundheitswesen nie besser. Obama versprach im Wahlkampf, allen Amerikanern eine Versicherung zu beschaffen. Er arbeitet als demokratischer Präsident mit einer Demokratischen Partei zusammen, die in beiden Häuser des Kongress eine Mehrheiten hält. Laut Umfragen wächst der Rückhalt für eine Reform. Die nackten Tatsachen zeigen ein Gesundheitssystem, das immer weniger Menschen für immer mehr Geld versorgt. Die USA wenden als einzige Industrienation ohne allgemeines Gesundheitssystem 16 Prozent ihres Bruttosozialproduktes dafür auf, mehr als Länder wie Frankreich, Deutschland oder Österreich, die 11 bis 16 Prozent ausgeben.
Auch wenn die Kosten rasant steigen, sind aus 37 Millionen unversicherten Amerikanern zu Zeiten Bill Clintons inzwischen 46 Millionen geworden. Ein Grund dafür ist die Praxis privater Versicherungen, horrende Beiträge zu verlangen, was Arbeitgeber oftmals schwer belastet und sich effektiv lohndrückend auswirkt. Zugleich sind die staatlichen Systeme, von denen die ganz Armen und Kranken aufgefangen werden, über alle Maßen strapaziert. Die sich abmühende Mittelschicht bleibt oft sich selbst überlassen.
Das Gesundheitswesen ist ein derart komplexes Gefüge überlappender Bürokratien und konkurrierender Pläne, dass es schon einem Glücksumstand gleichkommt, einen Versicherungsschutz zu ergattern.
Linda Mason zum Beispiel ist Mitglied der starken Gewerkschaft Screen Actors Guilt und verfügt deshalb über einen guten Versicherungsschutz. Als sie angefahren wurde und sich die Hüfte brach, erhielt sie eine Behandlung, deren Kosten vollständig übernommen wurden. Ohne ihre Gewerkschaft hätte sie eine Rechnung über 250.000 Dollar begleichen müssen. Ihr Leben wäre zerstört gewesen. Mason: „Ich hätte das Geld einfach nicht gehabt.“
Die größte Gefahr für Obamas Pläne ist die enorme Macht der sich aus Krankenversicherern und Pharmaindustrie rekrutierenden Gesundheitslobby. Für diese Klientel stehen potentielle Verluste in Milliardenhöhe auf dem Spiel. Über Jahre haben sie mit enormem Aufwand eine gut geölte Lobby-Maschinerie errichtet, die darauf ausgerichtet ist, jeden ernstzunehmenden Reformversuch zu Fall zu bringen, und in Gestalt so genannter Front Groups agiert. Mit Wahlkampfspenden an Republikaner wie Demokraten soll deren Loyalität erkauft werden. Allein 2008 erhielten demokratische Politiker 90 Millionen und republikanische 76 Millionen Dollar – Summen, gegen die schwer anzukommen ist. Zudem hat die Industrie sich so genannte Blue Dogs, moderat konservative Demokraten, ausgesucht, die Obamas Rückhalt in seiner eigenen Partei schwächen sollen.
Clintons Fiasko
Dieser Tage ist wieder eine Kampagne gestartet worden, um Obama einen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Worte socialised medicine (verstaatlichte Medizin) sind bei Radiostationen und beim TV-Sender Fox News ständig zu hören. Eine simple Taktik, um den Leuten mit einem an „Sozialismus“ erinnernden Wort Angst einzujagen. Häufig ist zu hören, die Bürokraten der Regierung würden sich zwischen Menschen und Ärzte stellen. Dass momentan 46 Millionen Amerikaner noch nicht einmal der Arztbesuch erstattet wird, bleibt dabei völlig ausgeblendet – so ist sie, die bizarre Welt des derzeitigen Systems, es dreht sich alles ums Geld.
Für Obama wäre der Preis des Scheiterns hoch. Clintons Fiasko zerstörte dessen Präsidentschaft zwar nicht, veränderte sie jedoch erheblich. Er schreckte danach vor jedem weiteren radikalen Reformversuch zurück. Obama könnte ein ähnliches Schicksal ereilen. Die wirkliche Tragödie wäre jedoch, dass die einfachen Amerikaner weiterhin unter einem System von byzantinischer Komplexität ächzen würden, das abgesehen von denen, die enorme Profite damit erzielen, für kaum jemanden einen Sinn ergibt. Es würde bedeuten, dass der Traum von einer Reform wieder in weite Zukunft rücken würde. Bis dahin könnte das US-Gesundheitssystem vollends in einen unvorstellbar katastrophalen Zustand abgerutscht sein.
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