Der Ruf der Mittelschichten

Buchmarkt Verleger sagen voraus, dass Indien innerhalb der nächsten Dekade der größte Buchmarkt der Welt für englischsprachige Bücher werden wird

In einer der leicht heruntergekommenen Hallen des Kongresszentrums Pragati Maidan in Neu Delhi steht ein rosa-himmelblauer Messestand. Unter Plakaten, die für Romane wie Ruthless Magnate, Convenient Wife (Skrupelloser Industrieller, passende Ehefrau) und Accidentally Expecting (Unfreiwillig schwanger) werben, macht Manish Singh, der für die Aktivitäten des britischen Verlags Mills Boon in Indien verantwortlich ist, ein gutes Geschäft. Zwei Jahre ist es her, dass die Liebesschnulzen auf dem indischen Markt eingeführt wurden, im vergangenen Jahr konnte Mills Boon dort seine Absätze verdoppeln. Natürlich wolle man 2010 weiter expandieren, erklärt Manish Singh.

Mills Boon ist bei weitem nicht der einzige Verlag, der von dem Bücher-Boom, der ganz Indien erfasst hat, profitiert. Das verlorene Symbol, die Fortsetzung von Dan Browns Bestseller Sakrileg, hat sich allein als gebundene Ausgabe bereits 100.000 Mal verkauft. Von Aravind Adigas Roman Der weiße Tiger, der 2008 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, sind inzwischen 200.000 Exemplare über den Ladentisch gegangen.

Der Motor der Nachfrage sind der wirtschaftlichen Aufschwung – 6,7 Prozent Wachstum trotz Weltwirtschaftskrise im Jahr 2009 – und die Vorlieben der neuen indischen Mittelschicht. „Die neue Generation schaut nach vorn“, meint Singh. „Am einfachsten erreichen wir die alleinstehende, berufstätige Frau, die ausreichend Geld zur Verfügung und Zeit zu lesen hat, frei von Verpflichtungen ist, keinen Mann hat, keine Kinder, et cetera pp.“

Im Laufe des nächsten Jahrzehnts, prognostizieren die Verleger, wird Indien zum weltweit größten Absatzmarkt für englischsprachige Bücher werden. Neue Vertriebsnetze und eine zunehmende Präsenz der großen Handelsketten treiben die Expansion schon jetzt weiter voran. „Wir schätzen den Markt im Moment auf etwa 5 Millionen Kunden“, sagt Anantha Padmanabhan, die für Penguin die Geschäfte in Indien leitet. „Diese Zahl wird sich drastisch vergrößern.“

Ein Banker als Autor



Der Gott der kleinen DingeNew York Times

Doch die eigentliche Erfolgsgeschichte schreiben Bücher, die mit den Geschmacksurteilen einer intellektuellen, internationalen Leserschaft wenig zu tun haben. Eine aktuelle Studie der indischen Wochenzeitung Tehelka kommt zu dem Ergebnis, dass die vier beliebtesten Bücher in Indien alle von einem Autor namens Chetan Bhagat stammen. Der ehemalige Investmentbanker, der in den vergangenen fünf Jahren drei Millionen Bücher verkaufte und dessen aktuelles Buch, Two States, in weniger als vier Monaten die Millionenmarke knackte, schreibt über das Leben der aufstrebenden Mittelschicht. Damit, so sein Verleger Kapish Mehra, spreche er „ganz Indien und alle Altersgruppen“ an.

„Mein Markt ist nicht der gehobene englische Buchmarkt. Hier braucht es ein gut verständliches, schlichtes Englisch und Geschichten, die trotzdem interessant und relevant sind“, meint der Autor selbst.

Zu den traumhaften Verkaufszahlen bei Mills Boon und für Chetan Bhagat trägt bei, dass die Bücher zwischen 95 und 125 Rupien kosten – zwischen 1,50 und 2 Euro. Für einen Rikschafahrer, der etwa 50 Cent am Tag verdient ist das immer noch eine Menge Geld, doch für die Schicht, die sie ansprechen sollen, sind die Romane erschwinglich. Selbst die wesentlich teurere gebundene Ausgabe von Das verlorene Symbol, die 699 Rupien (10,50 Euro) kostet, kann sich die indische Mittelschicht gut leisten.

Simon Littlewood, internationaler Leiter der Verlagsgruppe Random House, ist der Ansicht dass das Verlagswesen in Indien so zersplittert ist, dass es wenig Sinn macht, von einem einzigen Buchmarkt zu sprechen: „Es existieren alle möglichen Nischen, die Verlage geben die unterschiedlichsten Sachen in den verschiedensten Sprachen heraus.“

Ein Trend, der sich abzeichnet, sind regionale Themen. Die Tehelka-Studie ergab, dass Autoren in ihren Heimatregionen und in den Regionen, die Schauplatz ihrer Romane sind, eine starke Leserschaft haben. Unterdessen lesen nur noch wenige Agatha Christie und P.J. Wodehouse, die einst die Klassiker auf dem indischen Buchmarkt waren. Auf dem Vormarsch soll hingegen, laut Priyanka Malhotra von Full Circle Publishing, seichte Frauenliteratur mit regionalem Bezug sein. Und auch bei Mills Boon stiegen die Absätze schlagartig, nachdem sich der Verlag stärker darauf konzentrierte, welche ihrer Romane in welchen Regionen beim Publikum ankommen.

Ein Wettbewerb, den Mills Boon für indische Autoren ausgeschrieben hat, löste laut Manish Singh eine „überwältigende Reaktion“ aus. Bis die Bücher der vier ausgewählten Autoren Ende des Jahres veröffentlicht werden, müssen sich die Leser allerdings mit A Trip With the Tycoon begnügen – einer Liebesgeschichte „unter dem Sommer der indischen Sonne“, deren Schauplatz das Taj Mahal ist.



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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Jason Burke | The Guardian

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