Charlie Watts: Der Ruhende unter den Rollenden

Nachruf Unbeirrt von Exzessen und Streitigkeiten unterstricht Ausnahmeschlagzeuger Charlie Watts mit seiner Technik Bedeutung und Ausdruckskraft der Rolling Stones-Songs
Charlie Watts spielte oft mit versteinerter Miene und schien eine unaussprechliche, leicht distanzierte Belustigung auszustrahlen, so als ob er das alles lächerlich fände und vielleicht lieber seiner Liebe zum Jazz nachgehen würde
Charlie Watts spielte oft mit versteinerter Miene und schien eine unaussprechliche, leicht distanzierte Belustigung auszustrahlen, so als ob er das alles lächerlich fände und vielleicht lieber seiner Liebe zum Jazz nachgehen würde

Foto: Daily Express/Hulton Archive/Getty Images

In jeder Hinsicht war Charlie Watts, der diese Woche im Alter von 80 Jahren verstorben ist, ein unwahrscheinlicher Kandidat für einen erfolgreichen Rockstar.

Er war ruhig, von trockenem Witz und immer bescheiden – Eigenschaften, die theoretisch besser zu seinem ursprünglichen Beruf als Grafikdesigner passten als in die schrille Welt des 60er-Jahre-Pop. Zudem hatte er, wie er selbst einmal verriet, wenig mit Rock’n’Roll am Hut („Ich wusste nichts darüber ... früher hasste ich Elvis Presley. Miles Davis – das war jemand, den ich schätzte“, erklärte er 1993 in einem Interview). Und er musste anfangs den Rhythm and Blues, den seine Band-Mitglieder so liebten, erst erklärt bekommen: „Ich wusste nicht, was es war. Ich dachte, es bedeute Charlie Parker langsam gespielt”.

Anfangs fragten sich die anderen Rolling Stones, ob Watts überhaupt in der Lage war, die Musik zu spielen, die sie machen wollten – statt seines geliebten Jazz’. „Charlie swingt sehr gut, aber er kann nicht rocken“, schrieb ein frustrierter Keith Richards 1963 in sein Tagebuch. „Aber ein großartiger Typ.“

Wie sich herausstellte, hätte Richards nicht falscher liegen können. Der „Typ“ lernte schnell, und zwar nicht nur einfach zu rocken. Watts wurde als einer der größten Drummer in der Rockgeschichte gefeiert – manchmal als der Größte von allen. In jedem Fall nimmt er eine einzigartige Rolle in diesem speziellen Pantheon ein.

Er brauchte keine Gimmicks

Weder war er ein extravaganter, risikofreudiger Show-Typ wie Keith Moon von The Who, noch ein Vertreter der wummernden, wilden Kraft eines John Bonham von Led Zeppelin, noch ein Experte für schwierige Taktarten wie Neal Peart von Rush. Ganz sicher setzte er nicht auf besonderes Equipment wie Gongs oder eine Doublebass, die Rock-Drummer häufig benutzen, um hinten auf der Bühne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Watts hielt an seinem Schlagzeug aus dem Jahr 1957 fest, das nach modernen Rockband-Standards minimalistisch war.

Es gab Momente, in denen Watts’ Schlagzeugspiel auffällig war – wie bei seinem donnernden Auftritt in Paint It Black aus dem Jahr 1966. Aber normalerweise zeichnete sich Watts durch weniger offenkundige Fähigkeiten aus: perfektes Timing; ein Swing, der auf die Stunden zurückgeht, die er in den späten 50er-Jahren in seinem Schlafzimmer mit dem Trommeln zu Jazzplatten verbrachte, und besonders brillante Shuffle-Rhythmen. Hinzu kam die Fähigkeit, eine unerschütterliche Basis zu schaffen, egal, ob die Stones in Richtung psychedelischer Rock, Disco, Reggae oder Funk gingen.

Gelegentlich hielten es seine Band-Kollegen für notwendig, die Welt daran zu erinnern, wie großartig er war. „Charlie is gut heute Abend, nicht wahr?“, fragt Mick Jagger nach Little Queenie von Chuck Berry auf dem Live-Album Get Yer Ya-Ya's Out! von 1970. Und sowohl Keith Richards als auch Ronnie Wood meinten, dass die Rolling Stones ohne ihren Drummer nicht weitermachen könnten. Eine These, die jetzt wohl überprüft wird: „Charlie ist der Motor“, sagte Wood 2003, „und ohne den Motor gehen wir nirgendwo hin.“

Schon klar, warum seine Stones-Kollegen den Drang verspürten, ihn zu loben. Watts, der gerne behauptete, er sei „nicht besonders begabt“, sondern „habe Glück gehabt“, würde die Aufmerksamkeit sicher nicht selbst auf sich lenken. Dabei musste seine Brillanz als Drummer eigentlich nicht unterstrichen werden: Sie ist für alle offensichtlich, die Ohren haben. Man muss sich nur sein Spiel in Jigsaw Puzzle aus dem Jahr 1968 anhören, das den Song gleichzeitig vorantreibt und mit einer Reihe von scheinbar anstrengungslosen Trommelwirbeln Akzente setzt.

Niemand kritisierte das Schlagzeug

Manchmal wirkt sein Spiel auch fast kontraintuitiv, gegensätzlich zu allem Anderen, das in einem Song passiert. Im düsteren Ende-der-60er-Meisterwerk Gimme Shelter zeigte er meisterhafte Zurückhaltung. Während Mick Jagger und die Background-Stimmen von Vergewaltigung und Mord klagen, ist Watts die Ruhe im Zentrum des apokalyptischen Sturms.

Manchmal scheint sein Spiel auch ein intuitives Verständnis davon zu zeigen, worum es in einem Song geht. Bei Get Off Of My Cloud spielt er in den Strophen des Liedes alle zwei Takte genau denselben Fill-in: Das hat etwas Unerbittliches, das perfekt zu dem Song passt, in dem es um frustrierte Wut geht.

Dagegen ist Undercover of the Night aus dem Jahr 1983 einer der regelmäßigen Versuche der neueren Rolling Stones, zeitgemäß zu sein und voller damals hipper Studio-Effekte. Aber Watts’ Schlagzeugspiel zieht sich als Konstante durch all das hindurch und das ist bezeichnend. Seit Anfang der 80er waren die zunehmend sporadischen neuen Alben der Rolling Stones sehr uneinheitlich, ihre Aufnahmen häufig zerrissen vom Aufeinanderprallen der Persönlichkeiten und den grimmigen Disputen darüber, welche musikalische Richtung die Band einschlagen sollte. Das Einzige an der Band, das nie jemand zu kritisieren schien, war das Schlagzeug: Watts blieb scheinbar unerschütterlich und musikalisch zuverlässig, während seine Bandkollegen alles andere waren.

Seine Zurückhaltung war durchaus auch zu seinem Vorteil. Seit 1964 verheiratet, wirkte er weitgehend uninteressiert an den Exzessen mit Drogen oder Sex, zu denen seine Kollegen neigten.

Eine bekannte Geschichte aus den frühen 70er Jahren handelt davon, dass die Band zu einer Party in der Playboy Mansion eingeladen war: Watts schlich sich davon und schloss sich die ganze Nacht im Spielzimmer ein. Wie schockiert der Rest der Band war, als er Anfang der 80er-Jahre kurzzeitig Drogen nahm, lässt sich daran ablesen, dass sich ausgerechnet Keith Richards meinte, eingreifen zu müssen – und Watts ermahnte, die Finger davon zu lassen.

Aber die legendärste Geschichte über Watts ist die möglicherweise irreführende Erzählung, er habe die Beherrschung verloren, als Mick Jagger ihn als „seinen Schlagzeuger“ bezeichnete. Er hätte ihm ins Gesicht geschlagen und gesagt, in Wirklichkeit sei er Watts’ Sänger. Die Geschichte ist vielleicht deswegen so legendär, weil sie so gar nicht zu seinem Charakter passt.

Schließlich wurde seine Zurückhaltung zu dem, was man heute als Markenzeichen bezeichnen würde. Seine unaufgeregte Gelassenheit und Abgeklärtheit sind auf ihre Weise ebenso charakteristisch wie Richards’ Auflösung. In den 80ern und 90ern waren die Tourneen der Rolling Stones von immer extravaganteren Ton-und Lichtspielen mit Feuerwerk und aufblasbaren Objekten geprägt. Gelegentlich zeigten die riesigen Leinwände an der Seite der Bühne auch Watts.

Er spielte fast immer mit versteinerter Miene und schien eine unaussprechliche, leicht distanzierte Belustigung auszustrahlen, so als ob er das alles lächerlich fände und vielleicht lieber seiner Liebe zum Jazz nachgehen würde, was er auf die Zeit zwischen seinen Auftritten vor Hundertmillionen in den Konzerthallen und Stadien der Welt beschränkte.

Es bildete einen perfekten Kontrast zu Mick Jaggers Auftreten, auch wenn Watts das in Wahrheit gar nicht so lächerlich fand, denn er war immer stark am Bühnen- und Produktionsdesign der Stones-Tourneen beteiligt. Vielleicht war er ein weniger eindeutiger Mann, als sein unauffälliges öffentliches Image erkennen ließ. In jedem Fall ist es schwierig, sich vorzustellen, wie die Rolling Stones ohne ihn je wieder die Gleichen sein sollen.

Alexis Petridis ist Autor des Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Alexis Petridis | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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