Auf den Wahllisten für diesen Urnengang stehen etwa 900 Millionen Menschen, davon mehr als 84 Millionen Erstwähler, was die Bedürfnisse junger Inder zum zentralen Wahlkampfthema erhebt. Seit einigen Jahren dürfen auch im Ausland lebende indische Bürger ihre Stimme abgeben. Die Nationale Wahlkommission rühmt sich, allen Wahlberechtigten zu ermöglichen, worauf sie Anspruch haben. 2004 war in einem Bezirk des Staates Kerala nur ein einziger Mann als Wähler registriert. Als er nicht überzeugt werden konnte, die Reise zu einer Wahlurne anzutreten, wurde für ihn allein ein Wahllokal eingerichtet.
Üblicherweise geben die Wähler ihre Stimme mithilfe von aktenkoffergroßen, batteriegespeisten elektronischen Wahlmaschinen ab, die freilich umstritten sind. Regelmäßig wird behauptet, die Geräte würden gehackt und zum Vorteil der jeweiligen Regierungspartei programmiert. Bewiesen wurde das bisher nicht. Die Wahlbehörde verteidigt die Geräte, weil sie Sabotage vorbeugen, die Abgabe mehrerer Stimmen sowie Diebstahl von Wahlurnen verhindern würden.
Weiterhin gilt das Mehrheitswahlrecht. Das heißt, in einem Wahlkreis gewinnt der Bewerber mit den meisten Stimmen, selbst wenn dessen Quote unter 50 Prozent liegt. Kritiker monieren die so entstehende Diskrepanz zwischen den errungenen Stimmen einer Partei und der Zahl der Mandate. Bei der Wahl 2014 etwa erhielt der Sieger, die Bharatiya Janata Party (BJP), landesweit 31 Prozent, sicherte sich aber 282 Sitze und damit 114 mehr, als ihr nach dem Verhältniswahlrecht zugestanden hätten. Der Konkurrent Kongresspartei gewann 19 Prozent der Stimmen und kam auf 44 Abgeordnete, 61 weniger, als bei einer Verhältniswahl fällig gewesen wären.
Mehr Milliardäre denn je
Laut der Internet and Mobile Association of India haben inzwischen mehr als 500 Millionen Inder Online-Zugang, doppelt so viele wie 2014. Entsprechend unterhalten die großen Parteien Netzwerke Zehntausender von Online-Aktivisten, die ihre Botschaften über Facebook, Whatsapp wie den Kurzvideodienst Tiktok verbreiten. Bei vielem, was geteilt wird, handelt es sich um Fake News, wie die gerade kursierenden Fotos von einer Frau im Bikini, die angeblich Kongresspartei-Matriarchin Sonia Gandhi zeigen – tatsächlich aber das erste James-Bond-Girl Ursula Andress. Die Wahlbehörden können wenig tun, um derartige Manipulationen zu stoppen, sosehr sie auch von den Parteien dazu aufgefordert werden. Und die haben ausnahmslos Grund dazu, Lügen entgegenzutreten.
Narendra Modi und seine BJP liegen zwar in den Umfragen vorn, können sich aber nicht sicher sein, ob der nächste Triumph winkt. Ohne Zweifel hat der Premier seine große Mehrheit im Unterhaus dazu genutzt, lange verzögerte Reformen durchzusetzen: eine Mehrwertsteuer auf Waren und Dienstleistungen etwa, ein kostenloses Gesundheitsprogramm für Arme, dazu ein nationales Insolvenzrecht. Aber diese Pfeiler des „neuen Indien“ sind längst nicht fest verankert. Wie Modi stets beteuert, brauche es eine weitere Amtszeit, um eine Landreform, eine nationale Sozialgesetzgebung und Aadhaar, die größte Biometriedatenbank weltweit, auf den Weg zu bringen. Seine hindunationalistische Basis würde ergänzen: Er braucht mehr Zeit, um das durch die säkulare, multikulturelle Vision von Indiens erstem Regierungschef Jawaharlal Nehru (1889 – 1964) geprägte Wesen des Landes zu verändern. Ihnen geht es um die hinduistische Nation, die der Kern Indiens sei.
Aus Sicht seiner Gegner wie Rahul Gandhi, Präsident der Kongresspartei, hat Modi fünf Jahre lang die freien Institutionen Indiens untergraben: sich beim Obersten Gericht eingemischt, die Medien eingeschüchtert, die Zentralbank unterhöhlt und die Polizei ermutigt, immer dann wegzuschauen, wenn ein Hindu-Mob Muslime oder andere Minderheiten aufs Korn nahm. Auch habe die BJP-Exekutive nicht die versprochenen Arbeitsplätze, aber so viele Milliardäre wie noch nie geschaffen, überdies Indiens Ruf als tolerantes Land ruiniert.

Foto: Getty
Modis Starker-Mann-Führungsstil führte zu heftigen Gegenreaktionen. Oppositionsführer stellen ihre eigentlichen Agenden zurück, um Anti-Modi-Allianzen zu bilden. Regionale Politikerinnen wie Mamata Banerjee (s. oben) in Westbengalen sagen, sie führten Wahlkampf zur „Rettung der Demokratie“. In Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat, hat sich Akhilesh Yadav von der linken Samajwadi Party (SP) mit seiner Erzrivalin und langjährigen Chefministerin Mayawati von der Bahujan Samaj Party (BSP) zusammengetan, um eine erneute Mehrheit Modis zu verhindern. Klar ist, dass keine Partei allein den Premier vom Thron stoßen kann, eine breite Koalition dagegen schon.
Im Dezember hat Modis BJP drei Wahlen in drei Bundesstaaten an einem Tag verloren. Erst im vergangenen Monat – als indische Kampfjets bei der seit Langem gefährlichsten Konfrontation mit Pakistan Bombenangriffe flogen – stabilisierte sich die Unterstützung für Modi. Er präsentiert sich seither als der „Chowkidar“ (Wächter) der Nation und hat gar seinen Twitter-Account-Namen geändert, um diesen Titel hinzuzufügen. Mutmaßlich nicht ohne Wirkung, denn drei Wählerbefragungen im März prophezeiten ihm für die Wahl eine leichte Mehrheit, wobei etwas klügere Beobachter die Daten der Meinungsforscher mit Skepsis bedenken.
Herr der Kühe
Was Indiens 1,3 Milliarden Bürger bewegt, ist von Bezirk zu Bezirk verschieden und der Wahlkampf genau darauf abgestimmt. Da verspricht die hindunationalistische BJP schon mal in einer Gegend mit einer Hindu-Mehrheit, das Schlachten von Kühen einzuschränken, während sie bei einer christlichen Mehrheit damit wirbt, die Qualität des Fleisches zu verbessern. Die indischen Bauern wiederum mussten in etlichen Regionen jahrelang Dürren und Missernten verkraften, trotzdem hält die Regierung zugunsten der städtischen Massen die Lebensmittelpreise niedrig – eine schlechte Nachricht für diejenigen, von denen die Nahrungsmittel produziert werden. In den vergangenen drei Jahren demonstrierten regelmäßig Zehntausende Bauern in Delhi, um ihren Unmut zu zeigen. Nachdem Premier Modi zuletzt versucht hat, sie mit Geldgeschenken zu besänftigen, bleibt unklar, ob das reicht, die diffuse Wählerschaft der Farmer zurückzugewinnen, die in etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmacht.

Grafik: der Freitag
Modi stürmte auch deswegen 2014 an die Macht, weil er versprochen hatte, Millionen Jobs zu schaffen. Hungrig nach Arbeit und frustriert von der Korruption unterstützten ihn viele junge Inder, begeistert und in der Hoffnung auf mehr Prosperität. Doch sie wurden enttäuscht, das in Delhi erscheinende Blatt Business Standard bekam im Januar eine Studie in die Hand, die zu veröffentlichen der Regierung suspekt war, obwohl das Dokument schon wochenlang vorlag. Demnach stieg Indiens Arbeitslosenrate bis Ende 2018 auf 6,1 Prozent, die höchste Quote seit 45 Jahren.
Sicher ist Modi der standfesteste Hindu-Nationalist, der je eine indische Regierung führte. Sein Sieg hat die Hindutva-Bewegung gestärkt, die überzeugt ist, dass den Vätern der Unabhängigkeit keine säkulare Republik der verschiedenen religiösen Gemeinschaften vorschwebte. Ein überwältigender Sieg Modis würde den Hindutva-Aktivisten grünes Licht dafür geben, nun erst recht die Schulbücher umzuschreiben, Gesetze zu reformieren, um heilige Kühe zu schützen, und dafür zu werben, einen Hindu-Tempel auf den Ruinen einer mittelalterlichen Moschee in der nordindischen Stadt Ayodhya zu bauen.

Grafik: der Freitag
Modis Kritiker meinen, er habe mit eiserner Hand regiert und sich den normalen Kontrollmechanismen der Macht eines indischen Premiers widersetzt. Ihm wird vorgeworfen, die Polizei und den Geheimdienst des Landes missbraucht zu haben. Von einem Hang zur Abschottung zeuge der Umstand, dass Modi während seiner Amtszeit nie eine Pressekonferenz gab.
Gezählt werden sämtliche Stimmen am 23. Mai ab acht Uhr morgens. Sollte sich ein eindeutiges Ergebnis herauskristallisieren, wird man um die Mittagszeit wissen, wer Indiens nächste Regierung stellt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.