Wenn Sie ein Französisch sprechender Lastwagenfahrer sind und gern mit einem Mindestgehalt von 200 Euro in der Nähe der belorussischen Grenze entfernt leben würden, dürfte sich Irena Grabaliskiene freuen, von Ihnen zu hören.
Grabaliskiene ist Direktorin des Jobcenters von Marjiampole, einer 50.000-Einwohner-Stadt in einer öden, von Wiesen und Wäldern beherrschten Gegend im Süden Litauens, und der Job des Truck-Fahrers ist der einzige von acht angebotenen, den sie nicht besetzen kann. Für die Mehrheit der 3.000 Arbeitssuchenden Marijampoles sind die Aussichten düster. „Ich versuche optimistisch zu bleiben. Bei dem, was ich tue, muss man das“, sagt sie mit einem matten Lächeln.
In Marijampole wie fast überall in Osteuropa trifft der wirtschaftliche Abschwung die Menschen sehr hart. Nach den neuesten Prognosen wird Litauens Ökonomie 2009 um sechs Prozent und die des Nachbarlandes Lettland um zehn Prozent schrumpfen. Für 2010 sehen die Aussichten nicht besser aus.
Wir wuchsen und wuchsen
Die „baltischen Tiger“ Litauen und Lettland hatten nach 2000 zunächst einen außergewöhnlichen Aufschwung erlebt. Jahr um Jahr erreichten die Wachstumszahlen neue Rekordwerte. Dieser Trend fand nun besonders in Lettland ein abruptes Ende, dessen Ökonomie unverkennbar von der Schwindsucht befallen ist – Litauen zeigt ähnliche Symptome.
„Wir wuchsen, wuchsen, wuchsen und dann ...!“, sagt der litauische Premier Andrius Kubilius. „Es ist nicht leicht für uns in dieser Phase. Die Leute sind verärgert, emotional, nervös. Wir müssen jetzt die kommenden beiden Jahre überstehen.“ Für Kubilius, den Vorsitzenden der stärksten konservativen Partei Litauens, ist Krise gleichbedeutend mit Reform. „Eine Krise bringt die Gelegenheit für grundlegende Veränderungen mit sich. Wenn man nichts verändert, vergrößert man die Not nur noch mehr.“
Da stellt sich freilich die Frage, welcher Art diese Veränderungen denn sein sollen. Die Wirtschaftskrise hat in der Region bereits zu sozialen Spannungen geführt, vergangenen Monat gab es in Litauen und Lettland Unruhen von bislang ungeahnten Ausmaßen. In Westeuropa rechnen viele mit einem erstarkenden Nationalismus, mit Demagogie und sozialen Unruhen. Politiker und Analysten vor Ort hingegen halten zwar Szenarien von Straßenkämpfen für überzogen, sind aber der Ansicht, dass die Krise durchaus nahelegt, darüber nachzudenken, auf welches Wirtschaftsmodell man setzen soll, wenn sich der Sturm wieder legt.
„Für uns, die erste postkommunistische Generation, wird davon sehr viel abhängen“, sagt die 27-jährige Agne Nacivakaite, die an der Universität von Vilnius Sprachen unterrichtet. Vor kurzem wurde ihr das Gehalt gekürzt, weshalb sie jetzt mehr arbeiten muss, um über die Runden zu kommen. Einige ihrer Freunde haben ihre Jobs verloren, nachdem sie hohe Kredite aufgenommen hatten, um Wohnungen zu bezahlen, deren Wert in sechs Jahren um das Sechsfache gestiegen ist. „Jetzt rücken die Leute viel enger zusammen als in der verrückten Phase, in der sich alles nur um Konsum drehte. Sie wenden sich vom Materialismus ab und besinnen sich wieder auf die menschlichen Werte.“ Auch der Vorsitzende der oppositionellen Sozialdemokraten und frühere Premier, Gediminas Kirkilas, bemerkt diesen Wandel. „Nachdem sie recht lange in die eine Richtung unterwegs waren, kommen die jungen Leute nun zu uns zurück, nicht zu den Konservativen oder Liberalen“, sagt er.
Die Krise erreichte das südwestlich der Hauptstadt Vilnius gelegene Marijampole gegen Ende 2008. Im Januar lag die Zahl der Arbeitslosen plötzlich bei 3.435, das Doppelte der Quote vom Oktober. Jobcenter-Direktorin Grabaliskiene meint, augenblicklich werde nirgendwo eingestellt, aber es würden Hunderttausende Litauer, die in Übersee, Großbritannien und Irland gearbeitet hätten, zurückströmen.
Mehr Nähe zu Gott
Am Stadtrand von Marjiampole liegt der größte Gebrauchtwagenmarkt Osteuropas – eine Drehscheibe zwischen Russland, dem Baltikum, Polen und Deutschland. Hier lässt sich ersehen, wie die Krise Grenzen überschreitet. Die Händler müssen herbe Einbrüche verkraften. Verkauften sie früher 20 Wagen am Tag, sind es heute nur noch ein paar pro Woche
„Nicht einmal die Russen kaufen noch“, sagt Genadeus, einer der Händler. Er hätte auf die Kasachen gehofft, aber auch die blieben aus. Vielleicht kommen sie im Frühling, um unsere Autos zu kaufen.Wenn nicht, dann gehen wir bankrott. Früher kamen sie und kauften ganze Lastwagenladungen voll.“
In der örtlichen Molkerei sieht Direktor Raimondas Karpavicius die Krise als Chance, „Gott näher zu kommen“. „Wir werden fett und faul, weil wir Zuschüsse von der EU bekommen und zusehen, wie unsere Seelen zugrunde gehen. Diese Krise wird uns gut tun“, sagt der 51-Jährige, der vor kurzem jeden Fünften aus seiner 520 Mann starken Belegschaft entlassen hat.
Nur wenige in Marjiampole trauern dem Ende der kommunistischen Herrschaft nach. Der 42-jährige Fahrer Vitas lacht bei der Vorstellung, jemand könnte wie anderswo in Osteuropa das Fehlen der Sowjetunion als Verlust empfinden. „Sie machen Witze“; sagt er.“ Vielleicht ein paar der ganz Armen, aber sonst doch niemand.“
Das Misstrauen gegenüber Russland lässt Litauen trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise fest an seiner pro-amerikanischen Einstellung festhalten. Auch die Akzeptanz des Militäreinsatzes in Afghanistan sei nach Aussage des Premierministers immer noch groß, das Parlament habe gerade erst eine Aufstockung der eigenen Spezialeinheiten bewilligt, die dort im Einsatz seien. Auch der Glaube an die EU, der das Land im Jahr 2004 beitrat, scheint ungebrochen.
„So fundamental ist die Abkehr vom Konsumismus und Materialismus der letzten Jahre nun auch wieder nicht, man kann das auch übertreiben“; sagt der prominente Journalist Virginijus Savukynas. „Nur sehr wenige Leute stellen die Kombination aus Kapitalismus und liberaler Demokratie grundsätzlich in Frage.“ In Marijampole sei mancher der Ansicht, für Litauen sei ein „Kapitalismus wie in Amerika“ noch immer das Beste, um vom eigenen Wagen, der eigenen Wohnung und einem guten Job zu träumen.
Algridas Paleckis von der Frontas Partei wehrt sich gegen solche Auffassungen, seine Gruppierung tritt für „Staatskapitalismus“ und einen „starken Staat“ ein, „der die nationalen Interessen Litauens vertritt und nicht nur blind der EU oder den USA folgt“. Nur widerstrebend haben sie sich davon verabschiedet, das Wort Sozialismus im Namen zu tragen, weil es „so negativ konnotiert“sei.
„Der Staat wurde von einem Konglomerat aus korrupten Politikern, teilweise korrupten Medien und einer in Teilen korrupten Bürokratie verdrängt“, sagt Paleckis, der von der Regierung beschuldigt wird, die Unruhen angezettelt zu haben, die Vilnius im Januar erschüttert haben. „Die politische Elite dieses Landes hat vor 20 Jahren das Dogma des freien Marktes übernommen, was uns jetzt große psychologische und intellektuelle Schwierigkeiten bereitet.“
Kein Zweifel, auch wenn Premier Kubilius darauf besteht, dass Litauen angesichts einer oftmals schwierigen tausendjährigen Geschichte auch noch zwei weitere schwere Jahre überstehen wird, hat das Vertrauen in die politische Führung doch stark gelitten.
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