Der Traum auszubrechen

Motor Musik In der krisengebeutelten US-Metrople Detroit kann man sehen, wie die Geschichte des Rock'n'Roll und die des Automobils untrennbar miteinander verwoben sind

Der Klang der Todesglocken der Detroiter Autoindustrie und das Ausläuten des 50. Geburtstages von Motown Records ergänzen einander zu einer seltsamen Harmonie. Während Hitsville U.S.A., so der Spitzname des ersten Firmensitzes des legendären Plattenlabels, sich auf ein Jahr der Festivitäten, CD-Kollektionen und All-Star-Konzerte einstimmt, flehen General Motors und Chrysler die US-Regierung an, sie einmal mehr vor dem Bankrott zu retten.

Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts geben Autos und Musik in Detroit Richtung und Ton an. Die Stadt, der wir den Ford Mustang, den Chevrolet Camaro oder den Pontiac Firebird zu verdanken haben, hat uns auch Motown geschenkt und schwelgt darüber hinaus zum Sound von Garagenrock, Hip Hop, Techno, Blues, Jazz und Gospelmusik.

Geschwindigkeit, Sex und Jugend

Detroit hat uns Hank Ballard and the Midnighters gegeben, Bill Haley, MC Five (übrigens kurz für Motor City Five), Smokey Robinson, the Stooges, George Clinton, Madonna, Martha Reeves, Brendan Benson, the Supremes, Stevie Wonder, the White Stripes, Touch-and-Go-Records, J Dilla, Eminem und das einflussreiche Creem Magazine.

Die Geschichte des Rock'n'Roll und die des Automobils sind untrennbar miteinander verwoben. Von Anfang an hat der Rock'n'Roll – um mit den Worten des „Boss“ Bruce Springsteen zu sprechen – seine Hände um die Automotoren gelegt. In der Glanzzeit der Detroiter Fahrzeugbauer, den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, wurden die aus den Werken rollenden Autos in einer Unzahl populärer Songs besungen. Was auch schon mal komisch wirken konnte: So erging sich der von Bill Romberger und Arlen Sanders komponierte Song Hopped-Up Mustang von 1964 in lyrischen Worten über den „289er Motor with spezial Cobra kit“ und dessen Transistorzündung, Super-Auspuff, V-8 Vierfachvergaser und Viergangschaltung.

Dem geborenen Michiganer Mack Rice hingegen gelang es, alle Wonnen des Automobils, von Geschwindigkeit, Sex und Jugend in die Nummer Mustang Sally zu stecken. Die Unbekümmertheit dieser Periode der Stadtgeschichte, die das Stück einfängt, lässt es auch heutige Hörer noch spüren.


Momentan entsprechen wohl eher Lieder wie Sufjan Stevens’ musikalischer Aufruf "Detroit Lift Up Your Weary Head (Restore! Rebuild! Reconsider!)" oder "The Big Three Killed My Baby"von den White Stripes dem Timbre der Stadt. Stevens Annäherung an ein Portrait der Motor – und Music-City mit all ihren guten, aber auch schlechten Seiten – der Industrie, den Pontiacs und Henry Ford, den Waffengesetzen, brennenden Gebäuden und der Arbeitslosigkeit - ist auf dem 93er-Album Greetings from Michigan zu finden.

Der Song der White Stripes stammt vom ersten Album der Band aus dem Jahr 1999. Er erzählt vom Niedergang der Gewerkschaften in den Sechzigern, ist aber auch als Anspielung auf das Schicksal des Tucker-Torpedo-Entwicklers Preston Tucker zu verstehen. „Die großen Drei“, das sind Ford, Chrysler und General Motors. (d. Red.: Tucker war ein in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lebender Detroiter Autobauer. Die großen Drei fürchteten ihn angeblich wegen seiner Innovativität und versuchten ihn auszubremsen. Nachdem Tucker wegen Steuerhinterziehung angeklagt, aber freigesprochen wurde, musste er die Produktion des Tucker Torpedo einstellen, der heute ein begehrtes Sammlerstück ist.)

Im Jahr 1959 folgte Ben Gordy dem Beispiel Henry Fords, gründete Motown Records und gab so den jungen schwarzen Amerikanern eine Stimme, von denen viele in die Stadt gekommen waren, um Arbeit in den Fabriken zu finden. Mit der Übertragung des Prinzips des Fließbandsystems auf die Musikproduktion entsprach Gordys kompositorischer Ansatz, der oft mit den Worten „Keep it simple, Stupid“ wiedergegeben wird, der Ford’schen Herangehensweise an die Autoproduktion, die da lautete: „Jede Farbe, so lange es schwarz ist.“

Ein bestimmter Vibe

Iggy Pop hat den nachhaltigen Einfluss des Aufwachsens in der Stadt an den großen Seen einmal so beschrieben: „Das Zeug aus Michigan ist von Dauer. Das steckt ganz tief drin. Die Autos meiner Kindheit waren wunderschöne, auf aggressive Weise optimistische, ausladend kurvige Korvetten. Als ich acht war, wurden wir durch die Werke geführt, in denen die Teile gepresst wurden. Dort herrschte ein bestimmter Vibe, eine Atmosphäre, die vermittelte, dass alle mechanisierten Dinge gut sind. Henry Ford hatte einen Traum, er wollte seine eigene Welt schaffen.“

Man denkt Patti Smith, ein weiteres jener Kind, derer Detroit sich angenommen hat, und ihren Song "Piss Factory", in dem sie mit gedehnter schleppender Stimme die Monotonie der Fließbandmaloche wiedergab: „Now you get off your Mustang Sally/ You ain’t going nowhere, you ain’t going nowhere“.

Denn wenn es etwas gibt, das das Auto und den Rock'n'Roll wirklich miteinander verbindet, dann ist es der Traum auszubrechen, die Sehnsucht, unabhängig von Raum und Zeit und allen Zwängen zu sein.

Was ist Detroit also, wenn nicht die Stadt der Träume? Um mit den Worten Joe Hunters von den Funk Brothers zu sprechen, der vor einem Monat bei der Eröffnungszeremonie der Motown-Feierlichkeiten sprach: „Gott segne den Traum. Gott segne den Träumer und Gott segne das Ergebnis.“


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hoffmann
Geschrieben von

Laura Barton, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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