Der unaufhaltsame Aufstieg des Variété

Glamour-Theater Beim Edinburgh Festival "Fringe" macht sich ein Trend bemerkbar: Cabaret- und Burlesque-Shows gewinnen mehr und mehr Zuschauer. Die bunte Mischung macht´s

Der augenscheinlichste Trend beim diesjährigen Edinburgh Festival ist die Allgegenwart von Cabaret und Variété. Beide Genres haben seit Jahren an Popularität gewonnen, insbesondere im Zuge des überwältigenden Erfolgs der Londoner Burlesque-Show La Clique, und doch ist ihre Omnipräsenz in diesem Jahr auffallend. Ich denke, wir haben den Umkipppunkt erreicht: Cabaret, Variété und Vaudeville sind in den Mainstream übergeschwappt.

Umso frustrierender, dass ihnen das dicke Programmheft des Fringe kein eigenes Kapitel widmet, denn sie passen weder bequem in die Sparte Theater noch in die Sparte Musik. Dabei gibt es zwei neue, schicke Veranstaltungsorte für diese Darbietungen: Ghillie Dhu und den Assembly-Ableger Spiegeltent in den Princes-Street-Gärten. Die Künstler, von denen viele ehemalige La Clique-Mitglieder sind, wie etwa die wunderbare Ali McGregor (die in diesem Jahr nicht mit ihrem Omnichord auftritt, sondern von einem Jazz-Ensemble begleitet wird), haben eigene Slots bekommen. Miss Behave ist Zeremonienmeisterin der allabendlichen Variété-Show The Crack im Spiegeltent, während im Famous Spiegelgarden auf dem George Square eine Cabaret-Show namens Smoke and Mirrors den Höhepunkt des Abends darstellt. Die großartige Show Meow Meow ist an einen größeren Ort verlegt worden, und die Künstlerin Camille, inzwischen ein großer Star, hat ihren eigenen Platz in den Assembly Rooms. Und so könnte man mit der Aufzählung munter fortfahren: Man könnte in diesem Jahr ein gesamtes Festival allein mit dieser Sorte Künstler bestellen.

Warum? Und warum jetzt?

Interessanter finde ich jedoch die Frage: Warum? Und warum jetzt? Besonders faszinierend finde ich das Phänomen Variété. Die Antwort liegt zum Teil in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes begründet, wie auch Ali McGregor betont: „Einen Teil macht sicher die bunte Mischung aus – die Aufmerksamkeitsspanne der Leute ist so kurz. Eine Variété-Vorführung bietet Stand-Up-Comedy, ein wenig Tanz und Burlesque, ein wenig Akrobatik. Die Leute wollen permanent unterhalten werden.“ Und das Risiko ist gering: Vielleicht gefällt einem nicht alles Dargebotene, aber etwas wird schon dabei sein – jedenfalls gibt man sein hartverdientes Geld nicht für einen eineinhalbstündigen Blindgänger aus.

Der Musiker Mikelangelo, der zu den Gastgebern der Late Late Show in der Assembly gehört, glaubt, dass die Anziehungskraft auch mit der besonderen Beziehung zu tun hat, die der Performer zu seinem Publikum aufbauen kann: „Man zieht die Leute in die Show herein, bricht die vierte Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum auf, und das, obwohl wir mit einer sehr traditionellen Bühnenform arbeiten. Es ist für beide Seiten eine aufregende Erfahrung: dem Publikum ist bewusst, dass es etwas Einmaliges sieht, denn die Show ist niemals vollkommen gleich.“ McGregor stimmt ihm zu: „Im Fernsehen gibt es nichts mehr, was wirklich echt wäre. Selbst Reality-Shows sind aufpoliert. Im Cabaret und im Variété kann man den Schweiß auf den Gesichtern der Künstler sehen, man kann sehen, dass sie aus vollen Herzen singen. Die Leute lieben es mit allen Fehlern und Schwächen, auch wenn sich einer mal verspielt.“ Und es gibt einen ganz praktischen Aspekt: Inzwischen besteht eine ganze Reihe etablierter Festivals für diese Kunstformen, mit ausgetretenen Pfaden zwischen dem Vereinigten Königreich und Australien.

Auch die Wirtschaftslage dürfte ihren Teil zum Erfolg beitragen: Altmodischer Glamour, Pailletten und Glitzer ermöglichen eine kurze Flucht vor den schweren Zeiten; dasselbe gilt für die Freude, die uns Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit bereiten können (ich hätte nie gedacht, dass ich vollkommen überwältigt davon sein könnte, dass jemand mit einem Hula-Hoop-Reifen tanzt, bis ich diese Woche bei The Crack das umwerfende Kalki Hula Girl gesehen habe). Amy Saunders (aka Miss Behave) glaubt zwar auch an diesen Zusammenhang, doch sie ist gleichzeitig überzeugt davon, dass die Unterhaltung ihre eigenen Zyklen hat. Das Variété im alten Stil hat die alternative Comedy und das politische Kabarett hervorgebracht; jetzt wollen wir wieder den Glamour des Variétés und des altmodischen Entertainments, und so wird es immer weiter gehen. Ich jedenfalls werde den aktuellen Boom mit Vergnügen genießen, solange er anhält.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Charlotte Higgins | The Guardian

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