Der Unnachahmliche

Nachruf Man kann die Bedeutung von Lou Reed nicht hoch genug hängen. Mit 71 Jahren ist der Mann, der den Graben zwischen Rock'n'Roll und Avantgarde überbrückte, gestorben
Lou Reed (1942-2013)
Lou Reed (1942-2013)

Foto: Patricia de Melo Moreira/ AFP/ Getty Images

Wenn ein Rockstar stirbt, besteht unter Fans und Journalisten die natürliche Tendenz, die Bedeutung des Verstorbenen zu übertreiben: erstere aus Trauer, letztere, weil das die Auflage steigert.

In Lou Reeds Fall ist das nahezu unmöglich, so wie man sich nicht vorstellen kann, wie Rochmusik klingen würde, wenn es The Velvet Underground nie gegeben hätte.

Elvis-, Beatles- und Dylan-Fans sind da vielleicht anderer Meinung, aber vieles spricht dafür, dass es sich bei deren Debüt The Velvet Underground And Nico von 1967 um das einflussreichste Album in der Geschichte der Rockmusik handelt. Es findet sich sicher keine andere Platte, die den Sound und das Vokabular des Rock so dramatisch verändert und seine Parameter mit einem Schlag so stark verschoben hat.

Möglich, dass Glamrock, Punk und alles, was lose von den Begriffen Indie- und Alternativerock zusammengehalten wird, auch ohne dieses Album passiert wären, aber es ist schwer zu sehen, wie.

Die natürlichste Sache der Welt

The Velvet Underground waren sicher nicht die einzige Band, die Ende der Sechziger versucht hat, den Graben zwischen Rock'n'Roll und Avantgarde zu überbrücken und Reed war sicher nicht der einzige Autor, der der Überzeugung war, dass Songtexten die gleiche Bedeutung zukommt wie „ernsthafter“ Literatur.

Doch sie waren diejenigen, bei denen die Überbrückung dieses Grabens so klang, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Egal, welche Herausforderungen ihre Musik auch an die Hörer stellte, klang sie doch nie bemüht oder befangen. Wie auch an Reeds Texten nichts Protziges oder Überhebliches war: Er versuchte, in der spartanischen, hartgesottenen Art Dashiel Hammetts und Raymond Chandlers das Leben in der von Drogen und sexueller Libertinage geprägten Halbwelt der Lower East Side zu beschreiben.

Vielleicht lag es daran, dass sie die perfekte Schnittstelle fanden. Reed hatte nichts für Schnörkel übrig. 1966 bekannte er in Interviews seine Liebe zum Doo-Wop, einem Musikstil, der in einer Zeit, in der die Rockmusik immer komplexer wurde, völlig aus der Mode gekommen war, der aber hörbar die oft übersehene eingängige Seite seines Songwriting beeinflusste – „Sunday Morning“, „I'll Be Your Mirror“, „Candy Says“.

"Ein Akkord reicht vollkommen aus"

Sein berühmtestes Zitat lautet vielleicht: „Ein Akkord reicht vollkommen aus, zwei sind Angeberei, drei Jazz.“ Und auch bei seinem ehemaligen Bandkollegen, dem klassisch ausgebildeten Musiker John Cale dreht sich alles um Einfachheit: Orgelpunkte, Minimalismus, La Monte Young und John Cage. Die beiden passten perfekt zusammen.

Der Pianopart in „I'm Waiting For My Man“ ist von La Monte Youngs Stück „X for Henry Flynt“ von 1960 inspiriert, das seine Avantgarde-Credentials aber nicht so sehr herausstellt, sondern sie hinter schwarzen Jallousien und einem höhnischen Grinsen verbirgt. Es gibt nicht den leisesten Hinweis auf die muffige Welt des Konservatoriums: Das Stück klingt bissig, gewieft und unglaublich cool. Allein aus diesem ersten Album ließ sich schon ersehen, welche Widersprüche Reed in sich vereint: Auf der einen Seite konnte er Balladen von so einfacher Schönheit wie „Femme Fatale“ schreiben, auf der anderen Stücke wie „Heroine“, mit seinem vielschichtigen, anstößigen Text und seinen erstaunlichen Ausbrüchen in heulendes akustisches Chaos.

Im Verlauf seiner Karriere spitzte sich dieser Widerspruch noch weiter zu. Auf der einen Seite verkörperte er eine bestimmte Form von Rock'n'Roll-Attitude und präsentierte sich der Welt, zumindest in Interviews, unendlich aggressiv, verachtungsvoll und wortkarg – eine Haltung, die man auch oft in seiner Musik wiederfinden kann: Die vier zermürbenden Songs, aus denen die B-Seite seines 1973er-Konzeptalbums Berlin besteht, sind ein Ausdruck von Kälte und Grausamkeit.

Auf der anderen Seite konnte er aber auch unglaublich bewegende Lieder schreiben, die von großer Zärtlichkeit und tiefem Einfühlungsvermögen zeugen: das einzigartige „Pale Blue Eyes“; die herzzerreißende Klage über New Yorks von Aids zerstörte schwule Community in „Halloween Parade“ oder seine Meditation über den Tod in „Magic And Loss“. In der richtigen Stimmung war er in der Lage, perfekte Popsongs zu schreiben, er konnte aber ebensogut Platten wie Metal Machine Music hervorbringen. Das nur aus Lärm bestehende Doppelalbum von 1975 stellt bis heute die Messlatte für alle dar, die sich meistens vergeblich darin versuchen, musikalisch den Mittelfinger zu zeigen. Beide Seiten seines Charakters haben zahllose Nachahmer gefunden. Es versteht sich, dass keiner von ihnen ihn wirklich erreichte. Einer der Künstler der Rockmusikgeschichte mit den meisten Nachahmern ist bis zuletzt völlig unnachahmlich geblieben.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Alexis Petridis | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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