Der Verlierer sagt ab

Porträt Raila Odinga setzt Kenia durch den Verzicht auf die Präsidentenwahl einer erneuten Zerreißprobe aus
Ausgabe 43/2017
Misserfolge durchziehen Raila Odingas (Mitte) politische Vita mehr als alles andere
Misserfolge durchziehen Raila Odingas (Mitte) politische Vita mehr als alles andere

Foto: Marco Longari/AFP/Getty Images

Vermutlich hat Raila Odinga nicht mehr daran geglaubt, er könne aus der für diesen Donnerstag erneut anberaumten Wahl zum Präsidenten Kenias als Sieger hervorgehen. Stattdessen sah der 72-Jährige seiner fünften Niederlage bei einem solchen Votum entgegen. Das schien so unwiderruflich wie unvermeidlich. 1997, 2007, 2013 und jüngst am 8. August hat der Oppositionsführer die Abstimmungen um das höchste Staatsamt im Wesentlichen aus den gleichen Gründen verloren. Es gab Manipulationen, die jeweils einem auf Wiederwahl bedachten Amtsinhaber Vorteile verschafften und von der Nationalen Wahlkommission mitverschuldet oder toleriert wurden. Zudem musste sich Herausforderer Odinga darüber im Klaren sein, als Angehöriger des Minderheitsvolkes der Luo nur bei absolut verlässlichen Allianzen mit den Parteien anderer Volksgruppen in der Lage zu sein, den Bewerber des Mehrheitsvolkes der Kikuyu zu schlagen. Und der heißt derzeit Uhuru Kenyatta, ist seit 2013 Staatschef und genießt bei seinen Anhängern auch deshalb Respekt, weil er sich einer Anklage des Internationalen Tribunals (ICC) in Den Haag mit Chuzpe und Gleichmut widersetzt hat. Und das erfolgreich.

Sicher deutet die vom Obersten Gericht in Nairobi Anfang September verfügte Wiederholung der Wahl vom August – die Opposition hatte gegen die Stimmenauszählung geklagt – auf eine Zäsur hin, nur änderte sich weder etwas am Personal der Nationalen Wahlkommission noch am Umstand, dass die ethnische Zugehörigkeit in Kenia weiter ein entscheidender Faktor für politische Loyalität ist.

Odinga tritt einen bockigen Rückzug an und will sich offenbar in der Aura des „legitimen Präsidenten“ sonnen, dem verwehrt bleibt, was ihm zusteht. Dass eine mit voller Wucht zugeschlagene Tür das ostafrikanische Land in eine tiefe politische Krise stürzt, scheint zweitrangig zu sein. Als Anführer der oppositionellen Nationalen Superallianz (NASA) hat Odinga vor Journalisten erklärt: „Alles weist darauf hin, dass die neue Wahl schlimmer wird als die vorherige.“ Er sehe sich daher gezwungen, am 26. Oktober nicht anzutreten. Mit der Absicht, die Regierung zu Reformen und mehr Fairness zu zwingen, sei er wiederholt gescheitert. Ohne Frage ein Eingeständnis. Misserfolge durchziehen Odingas politische Vita mehr als alles andere. Er scheiterte 1982 als Führer eines Umsturzversuchs junger Luftwaffenoffiziere, die Kenia ein Mehrparteiensystem verschaffen wollten. Der Aufrührer musste danach für sechs Jahre ins Gefängnis, stets davon bedroht, wegen Hochverrats zum Tode verurteilt zu werden. Zwar triumphierte er – als weitgehend rehabilitierter Politiker – 2005 mit seiner Widerstandsfront gegen eine neue Verfassung, doch ließ ihn der damalige Staatschef Mwai Kibaki gelassen an sich abtropfen und verweigerte ihm die zugesagte Präsenz in der Regierung. Hatte Odinga nicht vorausgesehen, derart ausgespielt zu werden? Seinerzeit wurde er in Kiswahili immer häufiger „Agwanbo“ genannt – das Rätsel. So trägt auch der jetzige Wahlboykott nicht minder erratische Züge. Schon nach der umstrittenen Abstimmung am 8. August starben bei Protesten wegen mutmaßlicher Wahlfälschungen mehr als 30 Menschen, wobei die meisten von der Polizei erschossen wurden. Wie viele Opfer wird es geben, sollten die Dämme brechen, weil sich Odingas Gefolgschaft nicht damit abfindet, von einem politisch korrupten Regime ausmanövriert zu werden?

Nicht zuletzt westliche Wahlbeobachter hatten Raila Odinga aufgefordert, die Niederlage bei der Augustwahl anzuerkennen. Es habe keine Hinweise auf einen „zentral gelenkten Betrug“ gegeben. Die Ermahnungen hatten auch etwas mit der Erinnerung daran zu tun, dass Odingas Vorwürfe nach der Präsidentenwahl Ende 2007 einen Rausch der Gewalt evoziert hatten, durch den gut 1.200 Menschen ums Leben kamen. Nicht auszuschließen, dass sich wiederholt, was vor zehn Jahren nicht zu verhindern war, als die Polizei zu einem ungezügelten Schusswaffeneinsatz überging.

Kurz nachdem am 1. September das Oberste Gericht mit vier gegen zwei Stimmen eine Wahlwiederholung angeordnet hatte, drückte Uhuru Kenyatta in einer Fernsehrede sein Bedauern über das Urteil aus, versprach aber, es zu respektieren. Er wolle damit „Frieden, Frieden und nochmals Frieden“ stiften. In den letzten Wochen jedoch ist die Rhetorik auf beiden Seiten schärfer geworden. NASA-Vertreter gaben zu verstehen, die Opposition könne die Abgabe von Stimmen komplett stoppen, indem sie Wahllokale blockiere. „Wir sehen uns einer hässlichen Pattsituation gegenüber. Daher ist bei Aktionen der Kenyatta-Gegner mit einer brutalen Reaktion des Staates zu rechnen“, sagt Murithi Mutiga, Experte der International Crisis Group in Nairobi. „Die politische Elite des Landes hatte die Gelegenheit, die kenianische Demokratie zu festigen, aber da alle bei extrem unverantwortlichen Hardliner-Positionen verharren, ist ein Kompromiss – so notwendig der sein mag – nicht zu erwarten.“

Einige Beobachter halten die erneute Konfrontation für das letzte Kapitel einer langen Geschichte rivalisierender Dynastien. Die Familien Kenyattas und Odingas sind seit über 50 Jahren im Zwist. Die Väter der Präsidentschaftskandidaten – Jomo Kenyatta und Jaramogi Odinga – waren im nationalen Unabhängigkeitskampf Verbündete gegen Großbritannien und wurden zu erbitterten Rivalen, als Kenia Ende 1963 Souveränität errungen hatte. Die Söhne könnten dem Land so viel ersparen, wenn sie nur wollten.

Jason Burke ist Afrika-Korrespondent des Guardian

Übersetzung: Carola Torti

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