Der Wahrheitswahrnehmer

Realist Clay Shirky wird „Internet-Guru“ genannt. Dabei glaubt er bloß an Freiheit und fragt sich: Kann die Gesellschaft mehr vom Netz haben?

Glaubt man Clay Shirky, dann wird die gedruckte Zeitung in weniger als 50 Jahren überhaupt nicht mehr existieren. Der Grund: Wer heute Mitte 20 oder jünger ist, der liest diesen Text vermutlich schon auf seinem Computerbildschirm. „Kein Medium hat je überlebt, das den 25-Jährigen gleichgültig war.“

Wer Shirky kennt, nennt ihn einen „Internet-Guru“. Er zuckt bei diesem Wort zusammen, und man versteht leicht warum. Shirky ist das genaue Gegenteil eines Technikfreaks. Der heute 46-Jährige begann seine Karriere am Theater in New York. Bis er 28 war, besaß er keinen Computer, dann musste seine Mutter ihm das Internet erklären. Er ist faszinierend selbstsicher und charismatisch, angenehm und ausholend im Gespräch, rhetorisch elegant. Die architektonische Struktur seiner Argumentation basiert – vergleichbar mit der des New Yorker-Autoren Malcolm Gladwell – auf psychologischen und soziologischen Einsichten, er analysiert die Technologien der Gegenwart mit der Schärfe eines Historikers. Wenn ein Guru sich dadurch auszeichnet, dass er andere dazu bringt, ihm leichtgläubig zu folgen, dann ist Shirky fraglos ein erstklassiger Kandidat.

Der kreative Mensch

Shirky schreibt seit 1996 über das Internet. In den Neunzigern wurde er als technischer Leiter verschiedener Web-Design-Agenturen von den wichtigsten Medienunternehmen – News Corporation, Time Warner, Hearst – als Berater angeheuert. Alle waren neugierig auf diese neue Sache namens World Wide Web. 2000 dann wandte Shirky sich „einer Intuition folgend, dass das Internet sich zum Social Net wandeln würde“, dem Phänomen der sozialen Online-Netzwerke zu. Damals war das nichts weiter als ein obskures Konzept, das sich bald zu Myspace, Facebook und Twitter weiterentwickeln sollte und inzwischen für Milliarden Menschen zum wichtigsten Zweck des Internets geworden ist. Shirky unterrichtet heute an der New York University, 2008 veröffentlichte er sein erstes Buch Here Comes Everybody: How Change Happens When People Come Together. Darin feiert er die neue Macht des Einzelnen, mittels Internet zu kommunizieren, sich zu organisieren und die Welt zu verändern.

Seine Vorhersagen über das Schicksal der Print-Verlage waren irritierend genau. Für 2009 sah er ein Blutbad für die amerikanischen Zeitungen vorher – und so ist es geschehen. Das Geschäftsmodell der traditionellen Print-Zeitung ist Shirky zufolge dem Untergang geweiht. Rubert Murdoch verlangt seit kurzem für den Online-Zugang zur Times Geld – Shirky ist zuversichtlich, dass dieses Experiment scheitern wird.

Doch dabei belässt er es nicht: „Was mich wirklich beunruhigt an der so genannten Paywall: Murdoch will nur seine Kunden informieren, er möchte nicht, dass seine Geschichten kursieren. Wenn er im Netz Geld verlangt, dann bedeutet das nichts anderes, als dass er die Öffentlichkeit von der Konversation, welche durch die Times angeregt wird, ausschließen kann.“

In dieser Kritik hallen die Ansichten nach, die Shirky in seinem neuen Buch Cog­nitive Surplus: Creativity and Generosity in a Connected Age vertritt. Dort argumentiert er, dass die Popularität der sozialen Online-Medien die alte Annahme von der Überlegenheit professioneller Inhalte und dem Primat der finanziellen Motivation widerlege. Sie beweise, dass die Menschen kreativer und großzügiger sind, als wir uns je vorstellen konnten. Sie partizipierten in ihrer freien Zeit ohne finanzielle Gegenleistung im Internet an Amateur-Projekten wie Wikipedia, weil dadurch der Drang des Menschen nach Kreativität und Verbundenheit befriedigt werde. So wie die Erfindung der Druckerpresse die Gesellschaft veränderte, so habe das Internet durch „die kostenlose Reproduktion aller digitalen Inhalte, die irgendjemand besitzt, der einen Computer hat“, die Schranken entfernt, die der universalen Mitwirkung im Weg standen. Und es habe sich gezeigt, dass der Mensch lieber kreativ ist und teilt, anstatt passiv zu konsumieren, wovon eine privilegierte Elite glaubt, er solle es sich ansehen. Anstatt darüber zu lamentieren, wie albern viele soziale Online-Medien sind, sollten wir uns lieber über den gesellschaftlichen Aktivismus freuen. Shirkys Fazit: Der potentielle Wert all dieser bislang ungenutzten Energie für die Gesellschaft ist nicht weniger als revolutionär.

Shirkys neues Buch mokiert sich über die Technikfeinde, die der Exhibitionismus der sozialen Online-Netze verwirrt (Woher kommt das Bedürfnis zu twittern, dass man gerade ein Bad genommen hat?), und die vollkommen verblüfft sind, wieviel Zeit manche darauf verwenden, Fotos von Katzen zu posten, die wie Hitler aussehen. Diese Überzeugungen sind in Wahrheit emotional gesteuerte Vorurteile. Ebenso klingt allerdings Shirkys Prognose über Murdochs Paywall nach einem emotionalen Einwand und nicht wie eine finanzielle Kalkulation. Wie kann er sich also so sicher sein, dass seine Analyse des Internet nicht ebenso subjektiv ist wie der Reflex eines Technikfeindes?

Der einzige Punkt, in welchem sich die Euphoriker und Skeptiker des Internet einig sind, ist die technologisch-deterministische Annahme, dass das Web das menschliche Verhalten grundlegend verändert hat. Beide Seiten liegen laut Shirky jedoch falsch. „Die Technikfreaks haben den Syllogismus gezogen, wenn eine neue Technologie in eine bestehende Situation eingeführt wird und ein neues Verhalten zu beobachten ist, dann ist die Technologie der Auslöser dieses Verhaltens. Ich hingegen sage, wenn eine neue Technologie ein neues Verhalten erzeugt, dann ist die Ursache dafür, dass die Technologie Antrieben stattgibt, die vorher verschlossen geblieben sind. Wir haben nun Mittel, die neue Verhaltensweisen ermöglichen – aber sie sind nicht die Ursache.“ Hätte es Facebook gegeben als er 20 war, gibt er gut gelaunt zu, dann hätte auch er seine Jugend damit verbracht, Fotos von sich an alle, die er kennt, zu verschicken.

Die ganz normale Jugend

Wenn Shirky recht haben sollte und das Internet nur althergebrachte Wahrheiten über das menschliche Verhalten offen legt, ist es nicht dennoch angemessen, angesichts des beinahe grenzenlosen Narzissmus, den Facebook offenlegt, ein wenig entsetzt zu sein? Shirky seufzt, nicht unhöflich, aber ermüdet. „Wäre die Welt wirklich besser dran, wenn wir die Augen davor verschließen würden, dass Teenager eine Menge Zeit darauf verschwenden, zu flirten und sich zum Lachen zu bringen? War das für irgendjemanden ein Geheimnis, bevor Facebook kam?“

„Als die Druckerpresse erfunden wurde, bescherte sie uns als erstes den erotischen Roman. Erst eineinhalb Jahrhunderte später veröffentlichte die Royal Society das erste englischsprachige Wissenschaftsjournal. Selbst die heilige Druckerpresse bediente also zuerst die niedrigsten menschlichen Instinkte. Doch der erotische Roman hielt uns nicht davon ab, die Druckerpresse dann für die wissenschaftliche Revolution einzuspannen. Deshalb halte ich es für Zeitverschwendung, sich über die Tatsache zu ärgern, dass die Menschheit niedrige Instinkte hat, die sie mittels dieses Mediums befriedigen wird – das war bei jeder medialen Neuerung so.“

Shriky räumt ein, dass die Fähigkeit des Internets, Menschen zu verbinden, die sich für die gleichen Dinge begeistern, die Wahrnehmung dessen, was gesund oder normal ist, verzerren kann. „Die entscheidende Frage lautet immer: Macht das Internet die Gesellschaft unterm Strich besser oder schlechter? Ich war nie ein Cyber-Utopist. Ich habe immer gesagt, dass das Internet aus Kompromissen besteht. Einerseits werden schlechte Dinge wie Pädophilie normalisiert, andererseits können schwule Heranwachsende in der Provinz erfahren, dass sie nicht abnormal sind. Mir scheint es eine gute Sache zu sein, dass das Internet die Fähigkeit hat, unsere verfestigten Vorstellung dessen, was gesellschaftlich ‚normal‘ ist, zu lockern.“

Die Hirnforscherin Susan Greenfield veröffentlichte im vergangenen Jahr einen Bericht, in dem sie kritisiert, dass die Entwicklung des menschlichen Gehirns durch soziale Online-Medien Schaden nimmt, insbesondere die Fähigkeit zum Mitgefühl. Shirky hat zwei Kinder im Alter von neun und sechs Jahren. Die beiden wachsen in einem „Medienhaushalt mit engen Grenzen auf“, wie er sagt. Den gemeinsamen Computer dürfen sie nur unter Aufsicht nutzen. „Wir wissen inzwischen durch die Hirnforschung, dass alles unser Gehirn verändert. Fahrradfahren. Fernsehen. Wenn Sie sich über einen Bildschirm in ihrem Haushalt Sorgen machen wollten, dann nicht über den, an dem eine Mouse hängt.“

Shirky besitzt keinen Fernseher. Die Amerikaner schauen zusammengenommen pro Jahr 200 Milliarden Stunden fern. Wenn die sozialen Online-Medien auch nur einen Bruchteil dieser Zeit abknapsen, so Shirky, dann kann das nur gut sein. „Selbst der dümmste kreative Akt ist immer noch ein kreativer Akt. Eine halbe Stunde Zusammenarbeit mit anderen auf der albernsten Webseite der Welt ist sinnvoller als eine halbe Stunde vor dem Fernseher.“

Eine Sache wäre da aber noch. Die pure Boshaftigkeit, mit der mancher Kommentar auf Webseiten, auf denen nach Herzenslust kommentiert werden darf, agiert. Wenn das Web das menschliche Potential an Großzügigkeit und Teilbereitschaft freigelegt hat ­– wie kommt es dann, das seine Nutzer so fies zueinander sind?

Shirky lächelt. „Dieses Paradox hat zwei Aspekte. Zum einen fanden solche Unterhaltungen immer schon statt. Die Leute haben sich fiese Sachen im Pub oder wo auch immer an den Kopf geworfen. Nur hat sie damals nicht jeder gehört. Also hat sich unsere Wahrnehmung der Wahrheit verändert, nicht die Wahrheit an sich. Zum anderen führt die Anonymität dazu, dass die Leute sich gemeiner verhalten. Ich glaube, wir werden deshalb nach und nach Inseln des zivilen Diskurses aufbauen müssen. Es gibt keine Möglichkeit, Anonymität im Netz zu verhindern – und wenn es die gäbe, dann wären die iranische, die chinesische und die burmesische Regierung die ersten begeisterten Abnehmer. Aber wir können soziale Normen festlegen und sagen: Während du dich hier aufhältst, musst du deinen echten Namen oder einen wohlbekannten Nickname benutzen. Die Leute schreien dann: Zensur! – Aber ganz ehrlich: Fuck off.“ Er bricht lachend ab. „Die wirklich große Herausforderung in Sachen Internet lautet nicht, ist das gut oder schlecht, sondern: Wie können wir seinen Nutzen für die Gesellschaft erhöhen?“


Übersetzung: Christine Käppeler

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Geschrieben von

Decca Aitkenhead | The Guardian

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