Der Wortbruch

Gesellschaft Einst versprach uns der Neoliberalismus die Freiheit. Heute erstickt er uns mit seiner Kontrollwut

Im vergangenen Jahr hat das Churchill-Krankenhaus in Oxford mein Leben gerettet. Durch eine diffizile Behandlung wurde ein Krebs aus meinem Körper entfernt. Allerdings werde ich jetzt als Nächstes eine Kinnladen-Operation brauchen, so weit, wie das gute Stück mir heruntergeklappt ist. Ich habe nämlich just erfahren, was in dem Krankenhaus zur Zeit meiner Behandlung noch so los war.

Nach Außen hin lief alles glatt. Aber unter der Oberfläche herrschten – ohne dass ich davon wusste – jede Menge Ärger und Aufruhr. Ein Großteil der Mitarbeiter hatte gegen die Entscheidung des britischen Gesundheitsdienstes National Health Service (NHS) Einwände erhoben, die Krebs-Scannung des Hospitals zu privatisieren. Sie monierten, dass die angebotenen Scan-Geräte der Privatfirma weniger empfindlich seien als die hospitaleigenen Apparate. Die Privatisierung, warnten sie, gefährde Patienten. Daraufhin drohte der NHS England, das Krankenhaus wegen Verleumdung zu verklagen, sollten dessen Mitarbeiter die Entscheidung weiter kritisieren.

Die vorherrschende politische Denkrichtung in Großbritannien, die sowohl die schleichende Privatisierung der Gesundheitsversorgung also auch diesen erstaunlichen Versuch, die Redefreiheit einzuschränken, hervorgebracht hat, ist mit dem Versprechen angetreten, uns vor entmenschlichender Bürokratie zu retten. Durch die Zurückdrängung des Staates sollte der Neoliberalismus Autonomie und Kreativität fördern. Stattdessen hat er zu einem halb-privatisierten Autoritarismus geführt, der diese noch mehr unterdrückt als das System, das er ersetzt hat.

Der Neoliberalismus verspricht Diversität und Freiheit, fordert aber Konformität und Stillschweigen

Zentral und bis ins kleinste Detail kontrolliert finden sich Arbeiter in einer kafkaesken Bürokratie gefangen. Institutionen, die von einer Ethik der Zusammenarbeit abhängig sind – wie Schulen und Krankenhäuser –, werden zurückgebaut, mit Vorschriften belegt und gezwungen, lähmenden Anweisungen zu folgen. Dabei wird die zunehmende Privatisierung der öffentlichen Dienste, die ein glorreiches neues Zeitalter der Wahlmöglichkeiten und Offenheit bringen sollte, brutal durchgesetzt. Die Doktrin verspricht Diversität und Freiheit, fordert aber Konformität und Stillschweigen.

Ein großer Teil der Theorie hinter diesen Veränderungen entstammt dem Werk des österreichisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Ludwig von Mises. In seinem 1944 veröffentlichten Buch „Bureaucracy“ (deutscher Titel: Die Bürokratie) argumentierte er, eine Verständigung zwischen Kapitalismus und Sozialismus sei unmöglich. Die Schaffung des National Health Service in Großbritannien, der New Deal in den USA und andere Experimente sozialer Demokratie würden unweigerlich zum bürokratischen Totalitarismus der Sowjetunion und Nazideutschland führen.

Dabei wusste er, dass ein gewisses Maß an Staatsbürokratie unvermeidlich istund bestimmte Funktionen gar nicht ohne sie auskommen. Aber die Rolle des Staates müsse minimiert sein – beschränkt auf nicht viel mehr als Verteidigung, Sicherheit, Besteuerung, Zoll.Andernfalls würden die Arbeiter unweigerlich ihrer Eigeninitiative und ihres freien Willens beraubt, zu Rädchen in einer „enormen bürokratischen Maschinerie“ werden. Im Gegensatz dazu seien diejenigen, die in einem „unbeschränkten kapitalistischen System“ arbeiteten, „freie Menschen“, deren Freiheit garantiert werde durch „eine ökonomische Demokratie, in der jeder Penny ein Wahlrecht bringt“. Allerdings vergaß er, zu erwähnen, dass in seinem kapitalistischen Utopia die Stimmen mancher Leute mehr zählen. Und diese Stimmen zur Machtquelle werden.

Die Menschen sind keine Idioten

Von Mises Ideen wurden zusammen mit den Schriften Friedrich Hayeks, Milton Friedmans und anderer neoliberaler Denker in Großbritannien durch konservative Politiker und Politikerinnen wie Margaret Thatcher, David Cameron und Theresa May sowie zu einem alarmierenden Ausmaß von Labour-Politiker Tony Blair angewendet. Sie alle haben versucht, öffentliche Dienstleistungen im Namen der Freiheit und Effizienz zu privatisieren oder dem freien Markt zu unterstellen. Allerdings hatten sie alle ein Problem: die Demokratie. Die Menschen wollen, dass die grundlegenden Dienstleistungen in öffentlicher Hand bleiben, und das vollkommen zu Recht.

Gibt man öffentliche Dienstleistungen in die Hand von Privatfirmen, schafft man entweder ein Privatmonopol, das seine Dominanz nutzen kann, um Reichtum daraus zu ziehen oder das System formen kann, damit es seinen eigenen Interessen dient. Oder aber man führt Wettbewerb ein und schafft damit inkohärente, fragmentierte Dienstleistungen, die durch institutionelles Versagen gekennzeichnet sind, wie wir es jeden Tag auf unseren Bahnstrecken erleben. Wir sind keine Idioten, auch wenn man uns so behandelt. Wir wissen, was Profitorientierung mit öffentlichen Dienstleistungen macht.

So entschied sich eine Regierung nach der anderen für den Kompromiss. Wenn sie unsere Dienstleistungen schon nicht komplett privatisieren konnten,unterwarfen sie sie eben der „Marktdisziplin“. Vor diesem Ansatz hat Ludwig von Mises wiederholt gewarnt. „Keine Reform kann eine Behörde in eine Art Privatunternehmen verwandeln“, mahnte er. Der Wert einer öffentlichen Verwaltung könne einfach „nicht in Geld gemessen werden“; denn „Regierungseffizienz und industrielle Effizienz sind zwei völlig verschiedene Dinge.“ Intellektuelle Arbeit könne „nicht durch mechanische Geräte gemessen und bewertet werden“, sagte er. Und: „Ein Doktor lässt sich nicht daran ‚messen’, wie lange er sich mit der Untersuchung eines Falls beschäftigt.“ Aber die regierenden Politiker dieser Welt ignorierten seine Warnungen.

Ökonomisierung bringt keine Freiheit

Dabei haben sie das Problem, dass die neoliberale Theologie nicht nur den Staat zurückdrängen will, sondern auch darauf besteht, dass kollektive Verhandlungen und andere Machtmittel der Arbeiter abgeschafft werden – im Namen der Freiheit natürlich. Die Ökonomisierung der öffentlichen Dienste erwies sich nicht als Mittel, das Effizienz förderte – sondern als Kontrollinstrument.

Die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst werden heute von einem panoptischen Regime von Überwachung und Bewertung gegängelt, die Maßstäbe anlegen, vor denen von Mises völlig zu recht warnte, weil sie unanwendbar und absurd seien. Die bürokratische Quantifizierung der öffentlichen Verwaltung geht weit über den Versuch hinaus, zu erfassen, was effizient ist. Sie ist zum Selbstzweck geworden.

Ihre Pervertierungen betreffen alle öffentlichen Dienste. Schulen lehren, um Wissen in Tests abzufragen, und berauben die Kinder damit einer umfassenden und nützlichen Bildung. Krankenhäuser manipulieren Wartezeiten, indem sie Patienten von einer Warteliste auf die andere verschieben. Die Polizei ignoriert bestimmte Verbrechen, klassifiziert andere um und bringt Verdächtige dazu, zusätzliche Vergehen zuzugeben, um ihre Statistik zu verbessern. Und, um im Rahmen der Initiative für Spitzenforschung besser abzuschneiden, drängen Universitäten ihre Forscher, schnelle und oberflächliche Essays zu schreiben anstatt tiefgehende Monographien.

Im Ergebnis gibt es einen offensichtlichen Grund dafür, dass die öffentlichen Dienste zunehmend ineffizient arbeiten, und das ist die zerstörte Mitarbeitermoral. Ausgebildete Mitarbeiter, darunter Chirurgen, deren Ausbildung Hunderttausende kostet, kündigen wegen des Stresses und der Misere, die das System verursacht, oder lassen sich gleich frühverrenten. Der Verlust von ausgebildeter Arbeitskraft ist eine weitaus größere Verschwendung als jede der Ineffizienzen, die diese Quantifizierungsmanie zu bekämpfen behauptet.

Neue Extreme bei der Überwachung und Kontrolle von Arbeitnehmern sind natürlich nicht auf den öffentlichen Sektor beschränkt. Amazon hat ein Armband patentiert, mit dem die Bewegungen der Arbeitnehmer verfolgt werden und jede Abweichung vom normalen Ablauf entdeckt werden kann. Technologien werden genutzt, um den Tastenanschlag von Mitarbeitern, ihre Sprache, ihre Stimmung und den Ton ihrer Stimme zu überwachen. Einige Unternehmen haben damit zu experimentieren begonnen, ihre Leute mit Mikrochips auszustatten. Der Philosoph Byung-Chul Han hat darauf hingewiesen, das neoliberale Arbeitspraktiken Ausbeutung internalisieren – verkörpert durch ein als Gig-Economy bezeichnetes, auf Freiberuflern basierendes Wirtschaftsmodell: „Alle werden zu sich selbst ausbeutenden Arbeitern für ihr eigenes Unternehmen.“

Die Bank gewinnt

Die versprochene Freiheit hat sich also vor allem als Freiheit für das Kapital entpuppt, und das auf Kosten der menschlichen Freiheit. Das neoliberale System hat eine Bürokratie geschaffen, die Richtung Absolutismus tendiert. Manager im öffentlichen Dienst ahmen Führungskräfte in Unternehmen nach und führen unangemessene und kontraproduktive Maßnahmen zur Effizienzsteigerung ein. Derweil wird im Privatsektor die Unterordnung unter gesichtslose Technologien vorangetrieben, die keine Kritik oder Beschwerde zulässt.

Dabei wird auf den Versuch des Widerstands durch immer extremere Methoden reagiert, wie die eingangs erwähnte dem Krankenhaus angedrohte Klage. Solche Kontrollinstrumente lassen Autonomie und Kreativität verenden. Von Mises kritisierte die Sowjet-Bürokratie zu Recht dafür, die Arbeiter auf ein Dasein als unterworfene Drohnen zu reduzieren. Aber das System, das seine Jünger geschaffen haben, bewegt sich auf den selben Pfaden.

George Monbiot ist ein britischer Journalist, Autor, Universitätsdozent, Umweltschützer und Aktivist

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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